Zeitgeist: Die Nobelpreise zeitgemäß gestalten
Die Nobelpreis-Saison ist immer eine Zeit der Aufregung und der Spekulationen über potenzielle Gewinner, aber sie bringt auch Kritik an den Beschränkungen mit sich, die durch die Regeln für die renommiertesten wissenschaftlichen Preise der Welt auferlegt werden. Ist es denn realistisch zu erwarten, dass die von Alfred Nobel vor 129 Jahren aufgestellten Bedingungen auch heute noch für die Wissenschaft angemessen sind?
Obwohl es an wissenschaftlichen Preisen nicht mangelt, von denen einige sogar (wie die mit 3 Millionen US-Dollar dotierten Breakthrough-Preise) finanziell lohnender sind als die Nobelpreise, genießt keiner von ihnen den gleichen kulturellen Status und das gleiche Ansehen. Wenn die Nobelpreise heute neu ins Leben gerufen werden würden, müsste ihr Aufbau dann neu gedacht werden?
»Ich persönlich würde sagen, dass die Kriterien für die Nobelpreise nicht wesentlich geändert werden müssten, sondern dass sie weiterhin so wirksam sind, wie es Alfred Nobel beabsichtigte«, sagt der Chemiker Bengt Nordén von der Chalmers University of Technology im schwedischen Göteborg, der drei Jahre lang Vorsitzender des Nobelpreiskomitees für Chemie war.
Eine offensichtliche Frage ist, ob die Kategorien der Auszeichnungen den Kern der wissenschaftlichen Forschung angemessen abdecken. Die Nobelpreise werden lose dem klassischen naturwissenschaftlichen Dreigestirn Physik, Chemie und Biologie zugeordnet. Aber es gibt eindeutig einen gewissen Spielraum bei diesen Grenzen. Die Physikpreise haben sich auf Gebiete wie nichtlineare Dynamik und Astronomie ausgeweitet. Die Chemiepreise hingegen haben sich in die Geowissenschaften vorgewagt, wie beispielsweise der Preis von 1995 für Arbeiten über die Ozonschicht und die Chemie der Atmosphäre. Bei den diesjährigen Chemie- und Physikpreisen ging es beide Male um künstliche Intelligenz (KI).
Mangel an Mathematik
Göran Hansson, Arzt am Karolinska-Institut in Stockholm und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der Nobel-Stiftung, argumentiert, dass die veraltet klingende Nobel-Kategorie »Physiologie oder Medizin« nach wie vor besser geeignet ist als die umfassendere Kategorie »Biologie oder Biowissenschaften«, da sich diese Preise nach wie vor entweder auf die klinische Medizin oder die Biologie des Menschen (im Jahr 2022 einschließlich der menschlichen Evolution) konzentrieren.
Hansson weist darauf hin, dass die Mathematik, für die es keine eigene Nobelpreiskategorie gibt, durch andere Auszeichnungen wie den Wolf-Preis und die Fields-Medaille gut abgedeckt ist. Aber nichts hindere einen Stifter daran, eine neue Kategorie vorzuschlagen, die von der Nobel-Stiftung verwaltet werden könnte, wie es beim Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften der Fall war, der im Gedenken an Alfred Nobel verliehen wird und 1969 von der schwedischen Zentralbank (Sveriges Riksbank) ins Leben gerufen wurde.
Neuere hochkarätige Wissenschaftspreise schließen einige dieser Lücken, während sie andere offen lassen. Beispielsweise gründete Jahr 2005 die Stiftung des Unternehmers Fred Kavli die mit 1 Million Dollar dotierten Kavli-Preise ins Leben. Die Norwegische Akademie der Wissenschaften und des Schrifttums in Oslo verwaltet sie. Mit den Preisen werden Forschungsarbeiten in den Bereichen Astrophysik, Nanowissenschaften und Neurowissenschaften ausgezeichnet, die Kavli für »die aufregendsten Gebiete des einundzwanzigsten Jahrhunderts und darüber hinaus« hielt. Die Breakthrough-Preise, die von einer Gruppe von Technologieunternehmern – darunter Yuri Milner und Mark Zuckerberg – ins Leben gerufen wurden, verleihen jährlich Preise in den Bereichen Grundlagenphysik, Biowissenschaften und Mathematik.
Die vielleicht größte Kontroverse bei den Nobelpreisen ist die Beschränkung auf drei Gewinner pro Kategorie. Einige argumentieren, dass dies widerspiegelt, wie kollaborativ die Wissenschaft seit Nobels Zeiten geworden ist. Doch Hansson verteidigt diese Beschränkung. »Drei ist natürlich keine heilige Zahl. Aber es muss eine Grenze geben. Und sie zwingt uns dazu, noch härter zu arbeiten, um die wahren Entdecker zu identifizieren«.
Wo endet ein Team?
Prestigeträchtige Auszeichnungen »machen Forscher und Forschung sichtbar, prägen Karrieren und schaffen sogar Vorbilder«, sagt der Historiker Nils Hansson von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er ist der Ansicht, dass solch eine Anerkennung für einzelne Forscher positiv für die Wissenschaft sein kann, und bezweifelt, dass es ebenso nützlich wäre, wenn man Preise an Teams verleihen würde. Außerdem fragt er: »Wo fängt ein interdisziplinäres und internationales Team an und wo hört es auf?«
Nordén argumentiert, dass die Öffnung des Preises für große Teams »seine Wirkung abschwächen würde«. Göran Hansson räumt jedoch ein, dass die große Wissenschaft, insbesondere die Teilchenphysik, »ein Sonderfall« ist, der das Bild verkompliziert. Bei den Breakthrough-Preisen gibt es keine Begrenzung der Preisträger: Der Physikpreis 2016 für den experimentellen Nachweis von Gravitationswellen ging an 1 015 Preisträger.
Es wäre für jeden neuen Preis sicherlich schwer, mit dem historischen Erbe der Nobelpreise zu konkurrieren, zu deren Gewinnern Marie Curie, Albert Einstein, Werner Heisenberg, James Watson, Francis Crick, Frederick Sanger und Sydney Brenner gehören. »Frühere Preisträger können einem Preis zusätzliches Prestige verleihen«, sagt Lise Øvreås, Präsidentin der Norwegischen Akademie der Wissenschaften und Literatur sowie Mikrobiologin an der Universität Bergen in Norwegen.
Macht der finanzielle Wert eines Preises einen Unterschied? Eine kleine, von Nils Hansson durchgeführte Umfrage unter Ärzten und medizinischen Forschern ergab, dass Wissenschaftler das Gefühl haben, dass die Aufmerksamkeit der Medien das Ansehen eines Preises steigern kann.
Milner sagt, dass der beträchtliche finanzielle Betrag bei den Breakthrough-Preisen als »eine Botschaft an die Welt gedacht war: Warum sollten Basketballspieler Millionenbeträge erhalten und Wissenschaftler nicht?« Akademische und professionelle Preise sind schön und gut, sagt er, aber »wir wollen wirklich, dass die breite Öffentlichkeit versteht, dass Wissenschaftler auf einer Stufe mit Schauspielern, Künstlern und Sportlern gefeiert werden sollten. Wir wollten der Wissenschaft einen prominenten Platz einräumen«.
Entscheidungen, Entscheidungen
Ein weiteres wichtiges Gesprächsthema ist die Art und Weise, wie die Preisentscheidungen getroffen werden. Obwohl das Nobelpreiskomitee bekanntlich bestrebt ist, gegenüber Lobbyismus unempfindlich zu sein – Göran Hansson argumentiert, dass die geografische Entfernung von den »großen Zentren der Wissenschaft« dem Komitee hilft, solchen Einflüssen zu widerstehen –, sagt Nils Hansson, dass »Marketingstrategien und persönliche Netzwerke« bei Preisverleihungen, die anders als im Sport nicht auf der Grundlage objektiver Kriterien entschieden werden, immer noch eine Rolle spielen.
Zum einen sind Frauen unter den Nobelpreisträgern unterrepräsentiert, selbst wenn man das allgemeine Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der Forschung berücksichtigt. Trotzdem ergab Hanssons Umfrage, dass 41% der Befragten (zwei Drittel der Befragten waren männlich) der Meinung waren, dass das Geschlecht keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Preisentscheidungen habe, womit sie offenbar jedes Problem der Geschlechterungleichheit leugneten.
Fragen der Vielfalt stehen »ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bei den Mitgliedern des Breakthrough-Ausschusses«, so Milner. Einer der Breakthrough-Preise, der Maryam Mirzakhani New Frontiers Prize (benannt nach der iranischen Mathematikerin und ersten weiblichen Gewinnerin der Fields-Medaille, die 2017 im Alter von 40 Jahren verstarb), wird an Frauen für die beste Doktorarbeit in Mathematik verliehen.
Preiskultur
Ob ein Preis rational gestaltet werden kann, um Verdienste optimal widerzuspiegeln oder Prestige zu erwerben, bleibt eine offene Frage. Nils Hansson bezweifelt, dass genug über die soziologischen Faktoren bekannt ist, die die Verfahren und Folgen der Preisvergabe bestimmen, um das zu ermöglichen. »Das Verständnis von Preiskulturen und ihrer Dynamik ist noch recht oberflächlich«, sagt er.
Ist das Komitee manchmal von den Auflagen des Nobelpreises frustriert? »Ja, natürlich«, sagt Göran Hansson. »Es ist frustrierend, dass wir nur einen Bruchteil der wichtigen Entdeckungen, die gemacht werden, auszeichnen können. Wenn wir die Regeln des Nobelpreises heute konzipieren würden, hätten wir vielleicht etwas andere Bereiche oder Beschreibungen von Bereichen gewählt.« Ein weiterer Kritikpunkt ist die extreme Geheimhaltung der Beratungen, was bedeutet, dass »wir schweigen müssen, wenn unsere Entscheidungen in Frage gestellt werden«. Und da dieser Prozess in der Regel sehr lange dauert, »kann es sehr traurig sein, wenn ein Kandidat verstirbt, bevor der Preis verliehen werden kann«, fügt er hinzu.
Dennoch argumentiert Göran Hansson, dass die Nobelpreise wohl doch etwas richtig machen. »Hunderte von Wissenschaftlern sind offenbar der Meinung, dass man Hunderte von anderen Wissenschaftlern für jeden dieser Preise in Betracht ziehen sollte«. Und die Zahl der Nominierungen ist in den letzten 25 Jahren gestiegen. »Wenn die Kategorien des Nobelpreises in der heutigen Welt irrelevant wären, würde man dann nicht das Gegenteil erwarten?«
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