Zoologische Kuriosität: Erstes Tier ohne Atmung und Mitochondrien
In den Zellen der Lebewesen mit echtem Zellkern, den Eukaryonten, finden sich eigentlich immer auch Mitochondrien: jene Organellen, die Sauerstoff über eine komplexe Kette von Reaktionen veratmen und damit große Mengen an gespeicherter Energie für ihre Zellen produzieren. Mitochondrien sind im Zuge der Evolution des Lebens entstanden, wie die Endosymbiontentheorie beschreibt. Sie stammen von Urbakterien ab, die von einem Urahnen aller Eukaryonten vor Milliarden von Jahren aufgenommen wurden, um sich dann nach und nach zu einem ihrer wesentlichen Bestandteile zu entwickeln. Mitochondrien zu haben, ist für Tiere und Pflanzen heute so enorm vorteilhaft, dass nur ganz wenige einzellige Außenseiter unter den Eukaryonten darauf verzichten und sie in sauerstoffarmen Spezialsituationen gelegentlich abgeschafft haben. Was Wissenschaftler dagegen noch gar nicht kannten, war ein eukaryontischer Vielzeller ohne Mitochondrien. Das hat sich nun gerade geändert: Henneguya salminicola, ein mit den Nesseltieren verwandter Zellparasit von Fischen, hat weder Mitochondrien noch ein Mitochondriengenom und nicht einmal jene Gene, die Mitochondrien in anderen Zellen sonst in das Erbgut des Zellkerns ausgelagert haben. Dieses Tier kann also gar nicht mehr atmen, beschreiben Dorothée Huchon und ihre Mitforschenden in einer Studie im Fachblatt »PNAS«.
H. salminicola lebt als wirtschaftlich nicht ganz unbedeutender Parasit im Gewebe von Lachsen und damit in einer sehr sauerstoffarmen Umgebung. Das Immunsystem der Fische reagiert auf eine Infektion, indem sie die Myxozoen in einer Kapsel einschließen – die Lachse werden aber bei stärkeren Infektionen weniger leistungsfähig und schaffen es weniger gut als gesunde Artgenossen zu ihren Laichplätzen.
Huchon und Kollegen haben nun die Fischparasiten mit verschiedenen Methoden untersucht. Unter dem Fluoreszenzmikroskop zeigte sich zunächst, dass die Myxozoen offenbar über so genannte mitochondrienverwandte Organellen (mitochondrion-related organelles, MROs) verfügen. Zoologen kennen MROs etwa als Hydrogenosomen, die einigen Einzellern das Überleben ohne Sauerstoff erlauben. Für Vielzeller wie die Myxozoen wäre schon dies neu. Zudem sahen die Organellen mit nach innen eingestülpten Membranen, den Cristae, eher aus wie echte Mitochondrien. Genanalysen zeigten allerdings, dass diese MROs keine Mitochondrienfunktion mehr erfüllen können: In den Organellen fehlt das typische Mitochondrienerbgut, und auch im Zellkerngenom sind keine funktionsfähigen Mitochondriengene zu finden. Demnach kann keine der Zellen von H. salminicola Sauerstoff über die Atmungskette abbauen, weil dafür wesentliche Enzymwerkzeuge gar nicht produziert werden.
H. salminicola ist damit der erste Vielzeller, der ohne Atmung überleben kann. Das ist bei einem nahen Verwandten des Myxozoen anders, wie die Forscher überprüften: Der sonst ähnliche Fischparasit Myxobolus squamalis verfügt über die notwendige genetische Ausstattung für Atmungsprozesse. Warum ausgerechnet H. salminicola auf die Vorteile der Sauerstoffatmung verzichten kann, ist den Forschern unklar. Allerdings wissen Experten bis heute nicht einmal genau, welchen weiteren Wirte der Parasit in seinem Lebenszyklus unbedingt besuchen muss. Einer sollte wie bei allen Myxozoa ein wirbelloses Tier sein, und es wäre gut möglich, dass auch dieser Wirt in einer sauerstoffarmen Umgebung lebt, spekulieren die Forscher um Huchon. In Frage würden etwa Ringelwürmer der Naididae-Familie kommen, die im anaeroben Milieu von Süßwassergewässersedimenten gedeihen. Vielleicht hat der nicht atmende Myxozoe also das Atmen verlernen können, weil er über viele Generationen seiner Lebenszyklen hinweg keine sauerstoffreiche Ecken der Umwelt mehr gesehen hat.
Myxozoen sind als hochspezialisierte Parasiten ebenso flexibel wie eigenartig und bekannt dafür, dass sie in evolutionsbiologisch recht kurzen Zeiträumen rasch verändert haben. Zoologen hatten daher auch lange damit gekämpft, ihre Verwandtschaftsbeziehungen im Rest der Tierwelt festzuzurren. Nach aktuellem Stand gelten sie – vor allem wegen bestimmten Sequenzähnlichkeiten ihres Genoms – als spezielle Untergruppe von stark veränderten Nesseltieren.
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