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Evolution: Früher Steigbügelhalter

Als nahezu perfekte Konstruktionen zeigen sich unsere Sinnesorgane. Doch bis dahin musste die Evolution lange, mitunter recht verschlungene Wege einschlagen. So begann die Karriere des Mittelohrs als - Atmungsloch.
Gehörknöchelchen
Seine Existenz wird meist nur bewusst, wenn etwas schief läuft. Schließlich ist eine Mittelohrentzündung äußerst unangenehm. Arbeitet das Mittelohr jedoch einwandfrei, dann zeigt es seine Kunst als ausgeklügelter, filigraner Mechanismus: Die über den Gehörgang einlaufenden Schallwellen versetzen das Trommelfell in Vibrationen, welche die drei Gehörknöchelchen des Mittelohrs – Hammer, Amboss und Steigbügel – an die Membran des ovalen Fensters und darüber an das flüssigkeitsgefüllte Innenohr übertragen. Und erst diese Schwingungen im Innenohr werden in Nervenimpulse verwandelt und an das Gehirn weitergeleitet.

Das Mittelohr übernimmt damit zwei für das Hören entscheidende Funktionen: Es arbeitet als Wandler und Verstärker. Die Gehörknöchelchen verwandeln die Druckwellen der äußeren Luft in Wanderwellen, die durch die Innenohr-Flüssigkeit rauschen. Da nun das ovale Fenster deutlich kleiner ist als das Trommelfell, werden die Schwingungen gleichzeitig verstärkt, wobei die Hebelwirkung der Gehörknöchelchen kräftig mithilft. Eine perfekt arbeitende Konstruktion.

Wie kann so eine Maschinerie entstehen? Hier hilft ein Blick in die Köpfe unserer entfernten Verwandten weiter: Die typischen dreiteiligen Gehörknöchelchen besitzen nur die Säugetiere; Reptilien begnügen sich mit einem einzigen, dem Steigbügel. Dies war auch dem deutschen Anatom Karl Reichert aufgefallen, der 1837 – und damit 22 Jahre vor Charles Darwins Evolutionstheorie – eine zunächst abenteuerlich anmutende Hypothese wagte: Die beiden anderen Gehörknöchelchen, Hammer und Amboss, dienten urpsrünglich einem völlig anderem Zweck – als Kiefergelenk.

Indem die Säugetiere einen neuen Kiefer entwickelten, wurde der alte, von den Reptilien-Vorfahren geerbte quasi arbeitslos und stand für neue Aufgaben zur Verfügung. 1913 konnte Ernst Gaupp die Theorie von der wundersamen Wandlung des Reptilienkiefers bestätigen, die inzwischen als Paradebeispiel für die verschlungenen Pfade der Evolution gilt.

"Unsere Vorfahren entwickelten Ohren, um mit ihnen zu atmen"
(Per Ahlberg)
Doch woher stammt nun der Rest des Mittelohrs, also Trommelfell und Steigbügel? Fischen fehlt der Mittelohr-Verstärker; sie brauchen ihn auch gar nicht, da die Schallwellen des Wassers direkt oder über die Schwimmblase aufgenommen werden können. Statt eines Steigbügels besitzen sie einen als Hyomandibulare bezeichneten Knochen, der den Kiefer mit dem Hirnschädel verbindet. Und statt eines Trommelfells liegt vor den Kiemen der kümmerliche Überrest einer kleinen Körperöffnung, welche die Anatomen als Spritzloch bezeichnen. Beide Strukturen haben nichts mit dem Gehör zu tun. Wie kamen dann die ersten Landwirbeltiere zu ihrem Mittelohr?

Auf der Suche nach einer Antwort reisten Martin Brazeau und Per Ahlberg von der schwedischen Universität Uppsala nach Riga. Hier, im Lettischen Naturgeschichtlichem Museum, liegt der Schädel eines Wesens, das kurz vor der Zeit lebte, als die Wirbeltiere ihre ersten Schritte an Land wagten: Im Devon, vor etwa 370 Millionen Jahren, plantschte der Quastenflosser Panderichthys in den Flachwassergestaden des Baltikums, atmete zwar schon Luft, blieb aber wohl noch im nassen Element.

Bisher betrachteten Paläontologen die Überreste von Panderichthys als eher langweilige Fossilien, da ihre Schädelanatomie noch ziemlich "fischig" aussieht. Doch bei genauerer Betrachtung fiel den schwedischen Biologen ein ungewöhnlich großes Spritzloch auf. Bei heutigen Knochenfischen ist es verschlossen; nur am Boden lebende Knorpelfische, wie Engelhaie und Rochen, besitzen ein großes, funktionsfähiges Spritzloch, durch das Atemwasser strömt.

Panderichthys, so vermuten die Forscher, nutzte sein Spritzloch ebenfalls als Atmungsorgan – nur strömte statt Wasser bereits Luft hinein. Eventuell konnte das Tier – und seine Nachfahren – die Öffnung über einen Kiemendeckel verschließen. Andererseits verwandelte sich das Hyomandibulare vom Stützknochen für das Innenohr zum schallübertragenden Steigbügel. Jetzt fehlte nur noch ein permanenter Verschluss für das Spritzloch – ein Trommelfell –, und das Mittelohr war komplett.

"Es sieht tatsächlich so aus, als ob die ersten Schritte in der Evolution des Mittelohrs nichts mit dem Hören zu tun hatten", erläutert Ahlberg. "Unsere Vorfahren entwickelten Ohren, um mit ihnen zu atmen."

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