Kommentar: Innovation sieht anders aus
Am 9. Juli 2013 gab die Europäische Raumfahrtbehörde ESA bekannt, wie die Trägerrakete Ariane 6 aussehen soll. Sie ist der Nachfolger der derzeit im Einsatz befindlichen Ariane 5 und soll etwa ab dem Jahr 2022 fliegen. Herausgekommen ist ein dreistufiger Entwurf mit Feststoffraketentriebwerken in den ersten beiden Stufen, gefolgt von einer Oberstufe, die mit flüssigem Sauer- und Wasserstoff betrieben wird. Ariane 6 soll Satelliten mit einer Masse von bis zu 6,5 Tonnen in eine Transferbahn zum geostationären Orbit in 36 000 Kilometer Höhe transportieren können, in dem sich die meisten Kommunikations- und Fernsehsatelliten befinden. Als Startort wird wie bei allen Ariane-Trägerraketen der europäische Weltraumbahnhof Kourou in Französisch Guayana genutzt.
Als erste Stufe dienen drei Feststofftriebwerke mit je 135 Tonnen Treibstoffmasse, die nebeneinander in einer Reihe montiert und gleichzeitig gezündet werden. Nach deren Ausbrennen wird der ganze Komplex abgeworfen und stürzt in den Atlantik. Darüber befindet sich ein einzelner Raketenmotor gleicher Bauart, der als zweite Stufe fungiert. Für die dritte Stufe greifen die Entwickler auf die Oberstufe der bisherigen Ariane 5 zurück, die an den neuen Träger angepasst werden muss.
So weit, so gut. Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass das neue Konzept kaum innovative Züge aufweist und einen Rückschritt im Vergleich zur derzeitigen europäischen Raketentechnik darstellt. Auch lässt sich das Sparen um jeden Preis nicht verhüllen. Die Verwendung von Feststoffraketen als Hauptantrieb und nicht nur als Starthilfe greift auf Technologien aus der Raumfahrtsteinzeit zurück, als die Beherrschung großer Flüssigraketenmotoren noch sehr heikel war. Tatsächlich bauen die Antriebe der Ariane 6 im Kern auf französischen Mittelstreckenraketen auf, die bereits in den 1960er Jahren entwickelt wurden. Hier liegt der Verdacht nahe, dass vor allem die französischen und italienischen Rüstungsbetriebe, die durch die Wirtschaftskrise stark gebeutelt wurden, mit Aufträgen versorgt werden sollen, ohne dafür Unsummen ausgeben zu müssen. Italien war übrigens federführend an der Entwicklung der Vega beteiligt, der kleinsten europäischen Trägerrakete, die ebenfalls mit Feststofftriebwerken betrieben wird.
Solche Antriebe sind nicht nur primitiv und im Prinzip nichts weiter als weiterentwickelte Feuerwerksraketen, sondern sind im Vergleich zu Flüssigraketenmotoren wahre Dreckschleudern. Bei jedem Start werden bei der Verbrennung der Pulvertreibstoffe große Mengen an Salzsäure, nitrosen Gasen und Unmengen an festen Partikeln freigesetzt, die sich in höheren Atmosphärenschichten länger halten können. Tatsächlich vermuteten kürzlich Atmosphärenforscher in den Geophysical Research Letters, dass manche der nachtleuchtenden Wolken – Eiswolken in rund 80 Kilometer Höhe – mit besonders hohem Wassergehalt auf Raketenstarts zurückzuführen sind. Zwar benutzt auch die Ariane 5 zwei große Feststoffraketen, allerdings nur als Starthilfe für zwei Minuten. Die Hauptarbeit verrichtet die mit flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff betriebene Zentralstufe, die als Abgas praktisch nur Wasserdampf hinterlässt.
Ein gravierender Nachteil der neuen Ariane 6 gegenüber ihren Vorgängerinnen ist die Tatsache, dass sie jeweils pro Start nur noch einen Satelliten ins All befördert, anstatt mindestens zwei wie bei der Ariane 5. Die ESA verspricht zwar, dass mit der Ariane 6 die Startkosten für Satelliten geringer ausfallen werden als bei ihrer Vorgängerin, aber dies muss sich erst noch herausstellen. Ein Start einer Ariane 5 mit zwei Satelliten an Bord kostet derzeit rund 200 Millionen Euro, der Transport mit Ariane 6 soll sich auf "nur" 70 Millionen Euro belaufen. Allerdings zeigt die private US-Raumfahrtfirma SpaceX des Internetmilliardärs Elon Musk, dass sich mit überschaubaren finanziellem Aufwand auch eine moderne Trägerrakete wie die Falcon-9 mit durchgängig flüssigen Treibstoffen entwickeln lässt, die preislich auf jeden Fall mithalten kann.
Der Entschluss für die jetzige Konfiguration der Ariane 6 erinnert an jene kapitale Fehlentscheidung, die in den frühen 2000er Jahren zur Einstellung des äußerst erfolgreichen Ariane-4-Programms führte. Damals ging es darum, die Nachfolgerin Ariane-5 im Markt zu etablieren, ohne zu berücksichtigen, dass längst nicht alle Satelliten einen derartigen Schwertransporter ins All benötigen. Es zeichnete sich bald ab, dass die an ihre Nutzlasten anpassbare Ariane 4 viel flexibler auf die Markterfordernisse eingehen konnte, da sie ein modulares System war und unterschiedliche Leistungsklassen anbot.
Eine der Begründungen für die Abschaffung dieser Rakete, die bei 116 Starts nur drei Fehlschläge verkraften musste, lautete, dass ihre Technologie doch schon veraltet sei und den Stand der 1970er Jahre markiere. Als dann Auslastungsprobleme bei der Ariane 5 auftraten, besannen sich die Europäer darauf, wieder eine Rakete mittlerer Leistungsklasse zu beschaffen und kommerziell anzubieten. Ihre Wahl fiel auf die russische Sojus-Rakete, die nun ebenfalls von Kourou aus ins All fliegt. Ihre grundlegende Technologie und Konzept entsprechen aber der Technologie der 1950er Jahre. Die Ariane 4 hätte man also noch viele Jahre sinnvoll nutzen können, wobei die dafür notwendigen Finanzmittel vorrangig der eigenen Raumfahrtindustrie zugute gekommen wären, die vor allem mit der Serienfertigung Geld verdienen kann.
Nun wird sich zeigen müssen, ob die Ariane 6 wirklich die Trägerrakete ist, auf die kommerzielle Satellitenbetreiber nur gewartet haben. Zu befürchten ist, dass aus typisch europäischen Kompromissen ein System entsteht, das zwar den Wünschen mancher Länder und ihrer Industrie entspricht, aber an der Wirklichkeit vorbei geht. Ein innovatives Konzept und den Mut zu neuen Entwicklungen kann man jedenfalls der Ariane 6 nicht nachsagen.
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