Glaziologie: Jökulhlaup gibt Gas
Von Alaska bis zur Antarktischen Halbinsel: Weltweit schmelzen die Gletscher - und das immer schneller, weil die Temperaturen steigen. Wie dynamisch die Eiszungen sein können, überrascht Forscher jedoch stets neu. Jetzt haben sie einen weiteren Treibsatz entdeckt.
Das Naturschauspiel kündigte sich mit Donnerschlägen am: Am 29. September 1996 zeichneten die Seismologen des Meteorologischen Instituts in Reykjavik starke Beben auf, wie sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr aufgetreten waren. Der Grimsvötn war wieder zum Leben erwacht – ein unter dem großen isländischen Eisschild des Vatnajökull verborgener Vulkan. Seine Magmakammer begann sich wieder zu füllen, und kaum einen Tag später brach der Feuerberg aus.
Ein mächtiger Strom
Zwölf Tage blieb der Grimsvötn aktiv, und in dieser Zeit fraß er sich seinen Weg ans Licht und stieß kilometerhohe Rauchsäulen in die Atmosphäre. Gleichzeitig strömten an seinem Fuß weiterhin enorme Mengen Wasser in das unterirdische Reservoir. Selbst als der Vulkan am 13. Oktober seine Aktivitäten eingestellt hatte, flossen immer noch 500 bis 700 Kubikmeter pro Sekunde in den Speicher, der mehr und mehr an die Grenzen seiner maximalen Kapazität gelangte: Unter normalen Bedingungen taut im ganzen Jahr so viel Eis, wie nun in weniger als einer Minute anfiel.
Die Eruption bildete folglich nur das Vorspiel zu einem weit größeren Ereignis: dem Jökulhlaup – dem Gletscherlauf, wenn plötzlich große Wassermassen aus dem Eis hervorbrechen und das Vorland überschwemmen. Weitere drei Wochen dauerte es, bis am 5. November der natürliche Damm des Vatnajökull endlich barst und die Fluten in den Fluss Skeidara stürzten. Bis zu 45 000 Kubikmeter pro Sekunde strömten zeitweilig Richtung Meer und machten den Skeidara vorübergehend zum mächtigsten Fluss der Erde nach dem Amazonas. Die Kraft des Wassers riss haushohe Eisberge von der Gletscherfront mit, zerstörte Straßen und Brücken. Schäden in Millionenhöhe verblieben im dünnbesiedelten Südosten Islands, als der Fluss am übernächsten Tag zur Normalität zurückkehrte.
Die meisten Gletscherläufe verlaufen weit weniger spektakulär, doch nicht minder interessant für die Wissenschaft, wie Timothy Bartholomaus zusammen mit Robert und Suzanne Anderson von der Universität von Colorado in Boulder zum Beispiel am Kennicott-Gletscher in Alaska feststellen durften. Sie beobachteten, dass sich die 43 Kilometer lange, im Wrangell-Gebirge liegende Eiszunge im Sommer stets an zwei Tagen deutlich schneller bewegt als sonst: Statt dreißig bis sechzig Zentimeter pro Tag gleitet der Kennicott dann mit einer Geschwindigkeit von mehr als 2,7 Metern pro Tag zu Tal, wie sie mittels GPS-Sensoren festhielten.
Plötzlicher Druckgewinn
Was bewirkt diese plötzliche Tempozunahme? Am Klimawandel kann es nicht liegen – zumindest nicht allein –, da das Phänomen, zwar regelmäßig, jedoch ausschließlich kurzzeitig auftritt. 2006 rückten die Fachleute folglich dem Gletscher mit Druckanzeigern, Thermometern, Entfernungsmessern auf Schallbasis und Fühlern für elektrische Leitfähigkeit zu Leibe. Damit maßen sie, dass der Wasserdruck im Inneren des Eiskörpers und an seiner Basis während des Sommers stetig ansteigt, weil die jahreszeitliche Schmelze auch zunehmend Flüssigkeit freisetzt. Das zeigt sich gleichermaßen am Gletscherende, aus dessen Tor nach und nach größere Wassermengen in den Kennicott-Fluss gelangen. Die temperaturabhängige Steigerung beschleunigt den Gletscher selbst allerdings kaum, denn dessen interne Kanäle und Rinnen passen sich dem wachsenden Schmelzwasserzufluss an und weiten sich aus.
Im Eis fließt das Wasser in alle möglichen Hohlräume, Ritzen und Löcher, weshalb der Druck im Gletscher fast schlagartig wächst. Weil die durchschnittliche Druckhöhe sich innerhalb des Eiskörpers jedoch nach oben verlagert, sinkt der effektive Druck an der Gletscherbasis. Zusammen mit der verringerten Reibung durch das Nass schnellt der Kennicott-Gletscher nach glaziologischen Maßstäben regelrecht nach vorne – bis der Gletscher größere Hohlräume in seinem Bett oder Körper geschaffen hat, die Wasser aufnehmen können und ihn so entlasten. Oder bis der Jökulhlaup abgeschlossen ist und der Gletscher ausreichend drainiert wurde. Dann fällt er in sein gewohntes Tempo zurück.
Ihre Erkenntnisse könnten klären helfen, warum auf Grönland so viele Gletscher während der letzten Jahre schneller wurden, lenken die Forscher den Blick auf das größte Vereisungsgebiet der nördlichen Hemisphäre. Dort bewegen sich im Sommer viele der Eiszungen mittlerweile um 50 bis 100 Prozent schneller gen Meer als noch vor wenigen Jahren – sehr zur Beunruhigung von Klimatologen, die darin ein Zeichen für den Klimawandel sehen und steigende Meeresspiegel fürchten. Tatsächlich tauen jedes Jahr große Mengen Eis auf den Gletschern ab und sammeln sich als Schmelzwasser auf der Oberfläche. Immer wieder brechen diese Seen durch und überfluten das unzureichende Drainage-System der Eiszungen – und wirken dadurch wie ein Bleifuß auf dem Gaspedal.
An der Oberfläche des Gletschers – Europas größtem außerhalb Grönlands – blieb es jedoch vorerst noch ruhig. Die 450 Meter mächtige Decke aus gefrorenem Wasser verbarg die Magmagluten, die aus dem Krater drangen. Doch im unmittelbaren Kontaktbereich begann es brodeln, denn die mehr als tausend Grad heiße Schmelze taute das Eis: In den ersten 24 Stunden schwoll der Schmelzwasser-See unter dem Vatnajökull um 5000 Kubikmeter Wasser an – pro Sekunde.
Ein mächtiger Strom
Zwölf Tage blieb der Grimsvötn aktiv, und in dieser Zeit fraß er sich seinen Weg ans Licht und stieß kilometerhohe Rauchsäulen in die Atmosphäre. Gleichzeitig strömten an seinem Fuß weiterhin enorme Mengen Wasser in das unterirdische Reservoir. Selbst als der Vulkan am 13. Oktober seine Aktivitäten eingestellt hatte, flossen immer noch 500 bis 700 Kubikmeter pro Sekunde in den Speicher, der mehr und mehr an die Grenzen seiner maximalen Kapazität gelangte: Unter normalen Bedingungen taut im ganzen Jahr so viel Eis, wie nun in weniger als einer Minute anfiel.
Die Eruption bildete folglich nur das Vorspiel zu einem weit größeren Ereignis: dem Jökulhlaup – dem Gletscherlauf, wenn plötzlich große Wassermassen aus dem Eis hervorbrechen und das Vorland überschwemmen. Weitere drei Wochen dauerte es, bis am 5. November der natürliche Damm des Vatnajökull endlich barst und die Fluten in den Fluss Skeidara stürzten. Bis zu 45 000 Kubikmeter pro Sekunde strömten zeitweilig Richtung Meer und machten den Skeidara vorübergehend zum mächtigsten Fluss der Erde nach dem Amazonas. Die Kraft des Wassers riss haushohe Eisberge von der Gletscherfront mit, zerstörte Straßen und Brücken. Schäden in Millionenhöhe verblieben im dünnbesiedelten Südosten Islands, als der Fluss am übernächsten Tag zur Normalität zurückkehrte.
Die meisten Gletscherläufe verlaufen weit weniger spektakulär, doch nicht minder interessant für die Wissenschaft, wie Timothy Bartholomaus zusammen mit Robert und Suzanne Anderson von der Universität von Colorado in Boulder zum Beispiel am Kennicott-Gletscher in Alaska feststellen durften. Sie beobachteten, dass sich die 43 Kilometer lange, im Wrangell-Gebirge liegende Eiszunge im Sommer stets an zwei Tagen deutlich schneller bewegt als sonst: Statt dreißig bis sechzig Zentimeter pro Tag gleitet der Kennicott dann mit einer Geschwindigkeit von mehr als 2,7 Metern pro Tag zu Tal, wie sie mittels GPS-Sensoren festhielten.
Plötzlicher Druckgewinn
Was bewirkt diese plötzliche Tempozunahme? Am Klimawandel kann es nicht liegen – zumindest nicht allein –, da das Phänomen, zwar regelmäßig, jedoch ausschließlich kurzzeitig auftritt. 2006 rückten die Fachleute folglich dem Gletscher mit Druckanzeigern, Thermometern, Entfernungsmessern auf Schallbasis und Fühlern für elektrische Leitfähigkeit zu Leibe. Damit maßen sie, dass der Wasserdruck im Inneren des Eiskörpers und an seiner Basis während des Sommers stetig ansteigt, weil die jahreszeitliche Schmelze auch zunehmend Flüssigkeit freisetzt. Das zeigt sich gleichermaßen am Gletscherende, aus dessen Tor nach und nach größere Wassermengen in den Kennicott-Fluss gelangen. Die temperaturabhängige Steigerung beschleunigt den Gletscher selbst allerdings kaum, denn dessen interne Kanäle und Rinnen passen sich dem wachsenden Schmelzwasserzufluss an und weiten sich aus.
Der weiße Riese blockiert an seiner westlichen Flanke jedoch auch einen Bach namens Hidden Creek, der sich während der warmen Jahreszeit zu einem beachtlichen See aufstaut. Irgendwann wird dessen Druck so stark, dass das Eis nicht mehr widerstehen kann: Der Gletscherlauf beginnt. 3,8 Milliarden Liter Wasser pressen sich in kürzester Zeit unter den Gletscher und in sein Röhrensystem, dessen Kapazität dieser plötzlichen Infusion nicht gewachsen ist. "Dieses Phänomen gleicht dem Abwassersystem eines Hauses, das mit überschüssigem Wasser oder zu viel festem Abfall nicht fertig wird", vergleicht es Robert Anderson, "es staut sich zurück und schwappt in die Wohnung."
Im Eis fließt das Wasser in alle möglichen Hohlräume, Ritzen und Löcher, weshalb der Druck im Gletscher fast schlagartig wächst. Weil die durchschnittliche Druckhöhe sich innerhalb des Eiskörpers jedoch nach oben verlagert, sinkt der effektive Druck an der Gletscherbasis. Zusammen mit der verringerten Reibung durch das Nass schnellt der Kennicott-Gletscher nach glaziologischen Maßstäben regelrecht nach vorne – bis der Gletscher größere Hohlräume in seinem Bett oder Körper geschaffen hat, die Wasser aufnehmen können und ihn so entlasten. Oder bis der Jökulhlaup abgeschlossen ist und der Gletscher ausreichend drainiert wurde. Dann fällt er in sein gewohntes Tempo zurück.
Ihre Erkenntnisse könnten klären helfen, warum auf Grönland so viele Gletscher während der letzten Jahre schneller wurden, lenken die Forscher den Blick auf das größte Vereisungsgebiet der nördlichen Hemisphäre. Dort bewegen sich im Sommer viele der Eiszungen mittlerweile um 50 bis 100 Prozent schneller gen Meer als noch vor wenigen Jahren – sehr zur Beunruhigung von Klimatologen, die darin ein Zeichen für den Klimawandel sehen und steigende Meeresspiegel fürchten. Tatsächlich tauen jedes Jahr große Mengen Eis auf den Gletschern ab und sammeln sich als Schmelzwasser auf der Oberfläche. Immer wieder brechen diese Seen durch und überfluten das unzureichende Drainage-System der Eiszungen – und wirken dadurch wie ein Bleifuß auf dem Gaspedal.
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