Intelligenz: Mehr Hirn, mehr Köpfchen?
Was hat Hirse mit der Gehirngröße zu tun? Antwort: Mit dem einen kann man das andere messen. Als im 19. Jahrhundert Neuroanatomen versuchten, die Größe des menschlichen Gehirns zu berechnen, gab es weder Kernspintomografen noch andere moderne bildgebende Verfahren. Sie mussten sich etwas anderes einfallen lassen. Also versuchten sie, die Hirngröße über das Schädelinnere zu auszuloten. Doch auch das war nicht ganz ohne. Einen Totenschädel mit Wasser zu füllen und dessen Volumen zu bestimmen, wäre am exaktesten gewesen. Aber das Wasser sickerte durch die oft porösen Schädel hindurch. 1837 kam der deutsche Anatom und Physiologe Friedrich Tiedemann auf die Idee, Schädel mit Hirse zu füllen und anschließend die Hirsekörner zu zählen. Er notierte: »Es gibt ganz unzweifelhaft eine enge Verbindung zwischen der absoluten Größe des Gehirns und dem intellektuellen Vermögen und den Funktionen des Geistes.«
Um zu testen, ob an der These etwas dran war, begann man in der Folgezeit emsig die Schädel von Toten mit Kügelchen zu füllen – mit Hirse, Senfkörnern oder Erbsen. Andere Forscher bestimmten den Schädelumfang per Metermaß und schlossen daraus auf die Gehirngröße. Darwins Cousin Sir Francis Galton (1822−1911) etwa verglich die Prüfungsergebnisse von mehr als 1000 Studenten der University of Cambridge mit dem Produkt aus Länge, Breite und Höhe der Köpfe. Und tatsächlich: Die Köpfe der Studenten mit den besten Noten – somit auch die Gehirne, so folgerte er – waren im Schnitt um zwei bis fünf Prozent größer als die ihrer Kommilitonen.
Mit der Entwicklung der Magnetresonanztomografie (MRT) und standardisierter Intelligenztests machte die Forschung einen großen Sprung nach vorne. Die erste MRT-Studie zu dem Thema berichtete Anfang der 1990er Jahre von einem recht beachtlichen Zusammenhang zwischen Hirngröße und IQ, mit einem Korrelationskoeffizienten von rund 0,5. Rechnet man diese Zahl um, dann würden Unterschiede in der Hirngröße rund 25 Prozent der Unterschiede in der Intelligenz erklären. Doch solche frühen Studien standen auf statistisch wackligen Füßen, denn die Stichproben waren sehr klein.
Kurz erklärt: Korrelation
Der Korrelationskoeffizient gibt an, wie eng zwei kontinuierliche Variablen statistisch gesehen zusammenhängen. Besteht überhaupt kein Zusammenhang, ist die Korrelation (r) gleich null. Ein Wert von +1 bedeutet, dass die zwei Größen sich exakt proportional zueinander verhalten: Steigt der Wert der einen, so steigt der Wert der anderen im gleichen Maß. Beträgt die Korrelation r = –1, verändern sich die beiden Variablen ebenfalls perfekt proportional zueinander, aber in entgegengesetzte Richtung. Wie der Intelligenzforscher Richard Nisbett beispielhaft erläutert, korrelieren Körpergröße und Gewicht in etwa mit r = 0,7, Intelligenzquotient und Einkommen mit r = 0,3. Über Ursache und Wirkung sagt eine Korrelation nichts aus: Wenn zwei Merkmale miteinander korrelieren, liegt das oft daran, dass sie eine gemeinsame Ursache haben, also von derselben dritten Größe beeinflusst werden. So könnten IQ und Einkommen deshalb zusammenhängen, weil beide vom Elternhaus, zum Beispiel dem Bildungsgrad der Eltern, abhängen.
Mit den Jahren wuchsen die Probandenzahlen – und mit ihnen gingen die Korrelationen in den Keller. Metaanalysen, die systematisch Studien zusammenfassten, kamen nur noch auf Werte um 0,3 bis 0,4. Zudem hatte die Forschung stets mit methodischen Problemen zu kämpfen, darunter einer verzerrten Publikationspraxis: Herausgeber von Fachzeitschriften bevorzugen Studien, die große, statistisch signifikante Effekte zeigen. Weniger eindeutige Ergebnisse verschwinden infolgedessen eher in den Schubladen.
Der Psychologe Lars Penke von der Universität Göttingen und seine Kollegen haben sich daher intensiv bemüht, auch der nicht publizierten Studien habhaft zu werden. Sie fanden in einer 2015 veröffentlichten Metaanalyse einen eindeutigen Effekt, der sich unabhängig vom Alter und bei beiden Geschlechtern nachweisen ließ. Allerdings fiel er mit einer Korrelation von 0,24 noch einmal kleiner aus als in vorangegangenen Metaanalysen. Der Verdacht von Penke und seinen Kollegen bestätigte sich: Die Effekte der veröffentlichten Studien lagen höher als die der unveröffentlichten. Wie groß der Zusammenhang nun tatsächlich ist, mag auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinen. Die Befunde können allerdings zu ideologischen Zwecken missbraucht werden.
»Mit dieser Forschung wird seit Jahrzehnten massiv Politik gemacht«
Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité
»Mit dieser Forschung wird seit Jahrzehnten massiv Politik gemacht«, sagt Andreas Heinz. Dem Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité hört man eine gehörige Portion Ärger an. »Man hat versucht, die Menschen in Rassen einzuteilen, und ihnen unterschiedlich hohe IQ-Werte und Hirngrößen zugewiesen.« Schon der Pionier Francis Galton bemühte sich zu beweisen, dass sich anhand von Schädelgrößen Intelligenzunterschiede zwischen verschiedenen Rassen aufzeigen lassen. Nicht selten thronten die »Weißen« nicht nur bei der Hirngröße, sondern auch bei der Intelligenz ganz oben, und die »Schwarzen« fanden sich am ganz unteren Ende wieder. Doch wenn man sich weltweit den Zusammenhang zwischen Hirngröße und Leistungen in Intelligenztests anschaue, gebe es folgendes Problem, so Heinz: Menschen, die beispielsweise nahe der Tropen lebten, seien meist von der Körpergröße her kleiner und damit auch ihr Gehirn. »Und wenn sie bei IQ-Tests schlechter abschneiden, muss das nicht mit der geringeren Größe ihres Gehirns zusammenhängen.« Es könne auch an Umweltfaktoren wie schlechterer Ernährung und geringerer Bildung liegen.
Doch selbst wenn man Populationen auf seriöse Weise vergleichen wollte, könnten sich herkunftsabhängige Einflüsse wie Ernährung, Gesundheit und Bildung auf Hirngröße und Intelligenz auswirken und so den Zusammenhang zwischen ihnen verstärken – ohne dass sie kausal miteinander verbunden wären. Um nicht in diese Falle zu tappen, kontrollierten Forscher um Gideon Nave von der University of Pennsylvania für eine Untersuchung von 2018 mittels Genanalysen die Herkunft ihrer Probandinnen und Probanden. Auch sonst war ihre Studie in vielerlei Hinsicht vorbildlich. Sie griffen auf biologische Proben und Daten von mehr als 13 600 Menschen aus einer britischen Biodatenbank zurück. Zudem kontrollierten sie auch den Einfluss möglicher anderer Faktoren wie Geschlecht, Alter, die Körpergröße und den sozioökonomischen Status der Probanden. Trotz der strengen Kontrollen stießen sie auf einen Zusammenhang von 0,19.
»Der Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Intelligenz ist robust und hat 200 Jahre der Forschung überdauert«
Lars Penke, Professor für Biologische Persönlichkeitspsychologie an der Universität Göttingen
Dass die Studie von Nave und Kollegen auf eine solch kleine Korrelation kommt, wundert den Göttinger Psychologen Lars Penke indes nicht. Denn die britische Biobank verwende ein schlechtes Maß für den IQ. »Als das Team um Nave die schlechte Messqualität kontrollierte, kamen sie auf ähnliche Werte wie wir in unserer Metaanalyse, um die 0,24.« Trotz aller Herausforderungen, methodischer Probleme und politischer Verirrungen: »Der Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Intelligenz ist robust und hat 200 Jahre der Forschung überdauert«, sagt Penke.
Wenn der Zusammenhang also robust ist, fragt sich, was er genau bedeutet. Schaut man sich Unteraspekte der Gehirngröße im Detail an, scheint die graue Substanz der Hirnrinde und damit die Anzahl der Neurone am stärksten mit Intelligenz zu korrelieren. »Möglicherweise bieten mehr Neurone einfach mehr Möglichkeiten, kognitive Netzwerke zu knüpfen«, sagt Lars Penke. »Es ist ein bisschen so wie beim Lego – mit mehr Steinen hat man mehr Möglichkeiten, die richtige Lösung für ein Problem zusammenzubauen.«
Doch bei näherem Hinsehen ist gar nicht so klar, inwieweit mehr Neurone eine höhere Intelligenz erklären können. Zwar weiß man aus dem Vergleich vieler biologischer Arten, dass mehr Hirnmasse im Schnitt mit höherer geistiger Leistungsfähigkeit einhergeht. »Aber ob sich solche Speziesunterschiede auf Vergleiche innerhalb der menschlichen Art übertragen lassen, ist vollkommen fraglich«, so Lars Penke. Beim Menschen verfügen Männer im Schnitt über zehn Prozent größere Gehirne als Frauen – rund 130 Gramm, was einer halben Packung Butter entspricht. »Sie sind aber, was den IQ oder die allgemeine Intelligenz angeht, nicht schlauer.«
Unterdessen versuchen Forschende immer stärker einzugrenzen, in welchen Hirnwindungen mehr Masse gleichzeitig mehr Köpfchen bedeutet. Mit Hilfe einer MRT-Methode, der voxelbasierten Morphometrie, prüfen sie beispielsweise akribisch Bildpunkt für Bildpunkt das Hirnvolumen auf Anteile von grauer oder weißer Substanz. Auf diese Weise finde man Korrelate der Intelligenz vor allem in Arealen des Kortex, aber auch in den Basalganglien, sagt die Psychologin Ulrike Basten von der Universität Frankfurt. Es scheine also so zu sein, dass die Intelligenz mit der Zahl der Nervenzellen in Hirnrinde und Basalganglien steigt. »Das leuchtet auch insofern ein, als man den Basalganglien in Sachen Informationsverarbeitung eine Filterfunktion zuschreibt.«
»Man kann derzeit nur sagen, dass wohl das Volumen der grauen Substanz im Kortex mit Intelligenz zusammenhängt. Man kann den Zusammenhang aber nicht sicher auf bestimmte Regionen der Hirnrinde eingrenzen«
Ulrike Basten, promovierte Psychologin und Postdoc an der Universität Frankfurt
Nach einer in den Neurowissenschaften populären Theorie, der so genannten parieto-frontalen Integrationstheorie, sind für die Intelligenz vor allem Areale im Scheitellappen und im Frontallappen, also an der Stirnseite des Gehirns wichtig. Allerdings fanden Ulrike Basten und ihre Kollegen in einer Metaanalyse 2015 kein eindeutiges Muster. »Von daher kann man meiner Meinung nach derzeit nur sagen, dass wohl das Volumen der grauen Substanz im Kortex mit Intelligenz zusammenhängt«, so Basten. »Man kann den Zusammenhang aber nicht sicher auf bestimmte Regionen der Hirnrinde eingrenzen.«
Bei der weißen Substanz, den Millionen von Nervenfaserverbindungen zwischen den Hirnregionen, kommt es offenbar weniger auf die Masse an. Lars Penke wartet erneut mit einer Analogie auf: »Wenn man mehr Kabel zwischen elektrischen Geräten spannt, dann ist die Übertragung auch nicht besser.« Es komme vielmehr auf die richtigen Verbindungen an und dass diese verlässlich und schnell Informationen übertragen.
Bei Korrelationen von 0,2 bis 0,3 können die Unterschiede in der Hirngröße höchstens zehn Prozent der Unterschiede in der Intelligenz erklären. Die Hirngröße spielt beim Thema Intelligenz demnach nur eine untergeordnete Rolle. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen entscheiden darüber, welche Information leicht wohin gelangt und wohin nicht, sagt Ulrike Basten: »Beides ist wichtig für die Informationsverarbeitung, die unseren Denkleistungen zu Grunde liegt.« Dabei kommt es auch darauf an, wie stark die Nervenfasern mit Myelin ummantelt, also elektrisch isoliert sind, weil das die Übertragung von Informationen beschleunigt.
Und nicht zuletzt fällt ins Gewicht, wie gesund die grauen Zellen sind. Denn selbst bei gesunden Menschen findet man immer wieder Läsionen oder Mikroblutungen, nachweisbar unter anderem durch Eisenablagerungen. »Das kann sich negativ auf die Intelligenz auswirken«, sagt Lars Penke. Nimmt man diverse Unterschiede zusammen, die im Hirnscan sichtbar werden – neben besagten Schäden unter anderem das Hirnvolumen, die Dicke der Hirnrinde und die Struktur der weißen Substanz –, so machen sie insgesamt Schätzungen zufolge rund 20 Prozent der Unterschiede in der Intelligenz aus. Um die verbleibenden 80 Prozent zu erklären, wird es noch viel Hirnschmalz und mehr als ein paar Schädel voll Hirse brauchen.
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