Arktis-Expedition: Wer lebt am Grund des Nordpols?
Mitte August 2023 driftet die »Polarstern« mit einem Forschungsgerät im Schlepptau im Packeis der Arktis, weniger als 600 Kilometer vom Nordpol entfernt. Am 85. Breitengrad hat das Schiff an einer Eisscholle festgemacht und lässt sich, daran vertäut, von der Strömung durch die Arktische See ziehen. An Bord des Eisbrechers blickt das Team um Antje Boetius, Direktorin am Alfred-Wegener-Institut – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven (AWI), gebannt auf die Bildschirme. »Noch 50 Meter bis zum Grund!«, sagt Tiefseeökologe Autun Purser vom AWI.
Mit Kamera und Sonar wollen die Forschenden einen Seeberg erkunden, den sie einige Stunden zuvor kartiert haben. Er liegt am Gakkelrücken, einem untermeerischen Gebirgszug mächtiger als die Alpen, der sich als Fortsetzung des Mittelatlantischen Rückens über 1800 Kilometer zwischen Grönland und Sibirien erstreckt. In der topografischen Karte des arktischen Meeresbodens war der Seeberg nur in grober Auflösung verzeichnet. Die genaue Vermessung mittels Fächerecholot zeigte, dass er 600 Meter höher war als gedacht: ein stattlicher 2500er, der aus vier Kilometer Wassertiefe emporragt. Nun will das Team herausfinden, welche Fauna sich rund um den Gipfel eineinhalb Kilometer unter dem Eis verbirgt.
Als ihre Kameras schließlich den Seeberg erreichen, offenbart sich den Forschenden im Scheinwerferlicht eine Explosion an Leben: Der Grund ist übersät mit Schwämmen, 1 bis 50 Zentimeter im Durchmesser, und Myriaden kleiner, weißer Würmer. Manche Schwämme ziehen meterlange Kriechspuren hinter sich her. Auf den Tieren und auf exponiertem Basaltgestein sitzen Tausende von Haarsternen, die Nahrungspartikel aus der Strömung filtern. Pfirsichfarbene Seeanemonen so groß wie Fußbälle flimmern über die Monitore, rote Garnelen und sogar einzelne Fische wie Aalmuttern und kaulquappenförmige Scheibenbäuche.
»Wow!«, sagt Boetius angesichts der fantastischen Live-Bilder aus der Tiefe. Der Schwammgarten bedeckt weite Teile der Gipfelzone des Seebergs. Das zeigen nicht nur die Kamerabilder, sondern auch die Daten des Seitensicht-Sonars, das selbst dezimeter- bis zentimeterkleine Erhebungen am Meeresboden noch in 50 Meter Entfernung erfasst. Es wimmelt von Leben, wohin die Forschenden während ihrer dreistündigen Erkundung auch blicken. Sie endet mit einem weiteren Highlight: An einer Felsenklippe schwebt ein pinker Dumbo-Oktopus kurz durch das Schweinwerferlicht und verschwindet dann in der Finsternis.
Ein fremder Planet auf unserem
Die Tiefsee rund um den Nordpol gehört zu den am wenigsten erforschten Orten der Erde. Erst 14 Prozent des arktischen Meeresbodens wurden bislang mit modernen hydroakustischen Methoden vermessen, und nur einen Bruchteil davon haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bisher beprobt oder mit Kameras erkundet. Hunderte Seeberge warten noch darauf, entdeckt zu werden. »Die Welt dort unten ist ein fremder Planet auf unserem eigenen Planeten«, sagt Antje Boetius. Sie kennt diese geheimnisvolle Welt unter dem Meereis mit am besten. Auf etlichen Reisen hat sie die Tiefen der Arktis in den letzten drei Jahrzehnten erforscht.
Im Spätsommer 2023 ist sie mit einem rund 50-köpfigen Forschungsteam aus Ozeanografen, Biologinnen und Meereisphysikern mit der »Polarstern« erneut in den zentralen Arktischen Ozean aufgebrochen. Dort will die Expedition zum einen die Fauna größtenteils unbekannter Ökosysteme erfassen, zum anderen besser verstehen, was es für marine Stoffkreisläufe und Nahrungsnetze bedeutet, wenn die Eisdecke schrumpft. Prognosen zufolge könnte die Arktis bereits im kommenden Jahrzehnt am Ende des Sommers praktisch eisfrei sein. Durch den Eisrückgang verändert sich die Produktivität im Oberflächenozean und damit auch das Nahrungsangebot in der Tiefsee. Denn das wird durch absinkende Algen und Planktonreste bestimmt. »Das Schicksal des Meereises betrifft daher die gesamte Lebensvielfalt bis hinab zum Meeresgrund«, erläutert Boetius.
Das Untersuchungsgebiet der Expedition umfasst weite Teile des Eurasischen Beckens der Arktis, eine über vier Kilometer tiefe Abyssal-Ebene. Der Gakkelrücken teilt sie in das südlich gelegene Nansen-Becken und das nördliche Amundsen-Becken, in dem der geografische Nordpol liegt. Viele der in diesem Gebiet heimischen Arten sind endemisch, existieren also nirgends sonst im Ozean. Die Fachleute folgen auf ihrer Reise einer ähnlichen Route wie ein Team um Antje Boetius im Jahr 2012, als das Meereis seine bis heute geringste Ausdehnung seit Beginn der Satellitenbeobachtungen Ende der 1970er Jahre aufwies. So wollen sie wichtige Daten für Langzeitbeobachtungen des arktischen Wandels sammeln.
Spuren im Sediment
Ihr Weg führt durch überwiegend eisbedecktes Gebiet. Offenes Wasser zwischen dem Packeis lässt die »Polarstern« jedoch rasch vorankommen. Alle paar Tage wählen die Forschenden anhand von Satellitenbildern eine große Eisscholle aus, an der sie das Schiff mittels Eisankern und dicken Seilen vertäuen. Einige Teams gehen dann – stets in Begleitung einer bewaffneten Eisbärenwache – in roten Polaranzügen von Bord. Sie bohren Eiskerne, um Algen zu untersuchen, die im und unterm Meereis wachsen; mit einem kleinen Tauchroboter erkunden sie die Unterseite der Scholle und fangen Zooplankton; sie hängen Partikelfallen unters Eis, die auffangen, was an organischer Materie in die Tiefe schneit.
Parallel dazu werden vom Schiff aus Geräte ins Meer gelassen, die Wasser- oder Schlammproben an die Meeresoberfläche bringen. Und immer wieder filmen die Tiefseeökologen mit ihrer Kamera den Meeresgrund, während die »Polarstern« an der Eisscholle durch den Arktischen Ozean treibt. In den flachen, schlammigen Tiefsee-Ebenen entdecken sie verschiedene Spuren im Sediment – Abdrücke, Löcher, Hügel –, die auf Leben hindeuten. Sie filmen Seegurken, die an Algenresten knabbern, langstielige Seelilien und blumenartige Anemonen, Glasschwämme und kleine Krebse. Die Organismen bestechen vor allem durch ihre hohe Artenvielfalt, weniger durch ihre Anzahl in dieser kalten, ewig dunklen Wüste.
»Die Tiefsee in der zentralen Arktis gehört zu den nahrungsärmsten Regionen im Ozean«, erklärt Boetius die geringe Biomasse, »weil hier kaum Reste von Algen und Zooplankton als Futter für die Organismen herabfallen.« Schuld daran ist zum einen die starke Schichtung im Nordpolarmeer: An der Oberfläche, wo Meereisalgen und planktische Algen (Phytoplankton) wachsen, liegt eine relativ salz- und nährstoffarme Wasserschicht. Zum anderen bekommen die Algen nur wenige Monate im Jahr ausreichend Licht für die Fotosynthese. Die geringe Produktivität an der Oberfläche sorgt für entsprechend schmale Kost am Meeresboden.
Bisweilen jedoch geht dort ein wahrer Futterregen nieder. Im Sommer 2012, als die Eisbedeckung einen Negativrekord aufstellte, beobachtete Boetius’ Team massenhaft grünbraune Algenklumpen am Grund, die Seegurken und Schlangensterne anlockten. Es waren Kieselalgen der Art Melosira arctica, die an der Unterseite des Meereises wächst, teils meterlang wird und dichte Wälder bilden kann. Schmelzen die Schollen ab, sinken die Algenfäden rasch in die Tiefe – und damit große Mengen an energiereichen organischen Kohlenstoffverbindungen.
Die Wege der Eisschollen
Wenn die Temperaturen in der Arktis gegen Ende September tief genug sinken, beginnt sich neues Meereis zu bilden. Die eisbedeckte Fläche steigt bis Ende des Winters auf ein Maximum, bevor sie im Frühling wieder zu schrumpfen beginnt und im Spätsommer ihr jährliches Minimum erreicht. Doch nicht alle Schollen schmelzen – jene, die mindestens einen Sommer überdauert haben, nennt man mehrjähriges Meereis. Es ist dicker als einjähriges Eis und kann bis zu zehn Jahre im zentralen Arktischen Ozean treiben. Das ist dem Beaufort-Wirbel zu verdanken, der die Schollen im Kanadischen Becken im Uhrzeigersinn zirkulieren lässt.
Meereis, das sich vor der Küste Russlands in der Laptewsee und der Ostsibirischen See bildet, wandert hingegen mit der Transpolardrift quer über den Arktischen Ozean bis in die Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen. Zwei bis drei Jahre dauert diese Reise. In der Framstraße und entlang der Ostküste von Grönland, wo kaltes Polarwasser und wärmeres Atlantikwasser aufeinandertreffen, schmelzen die Schollen schließlich.
An den gleichen Stellen wie 2012 finden die Fachleute auf der aktuellen Expedition kaum Algenreste am Ozeanboden, und die von unten stark abgeschmolzenen Schollen sind nur spärlich bewachsen. Das Meereis ist mit eineinhalb Metern vergleichsweise dick und von Schnee bedeckt – typisch für die Jahreszeit wären Schmelztümpel an der Eisoberfläche. Eine Analyse anhand von Computermodellen ergibt später, dass die Schollen nicht wie üblich mit der Transpolardrift vom Sibirischen Schelf – der »Meereisfabrik« der Arktis – in die eurasische Zentralarktis gelangt sind. Stattdessen stammen sie aus dem kanadischen Becken und haben schon einen Sommer hinter sich. »Dieses Jahr sieht das Eis weitgehend tot aus«, sagt Boetius.
Wie häufig Melosira arctica in Massen zum Grund der Arktis sinkt, ist unklar. Doch einiges deutet darauf hin, dass das Phänomen relativ jung ist und durch einen starken Eisrückgang wie in den vergangenen Sommern begünstigt wird. Weil die Schollen am Ende des Winters immer dünner sind, dringt außerdem mehr Licht zu den Algen durch und befeuert ihr Wachstum. Der Klimawandel könnte das Nahrungsangebot am arktischen Meeresboden also erhöhen – zumindest vorübergehend, solange es überhaupt noch Meereis im Sommer gibt. Davon werden jedoch nicht alle Tiefseebewohner gleichermaßen profitieren. Die benthische – das heißt bodenbewohnende – Artengemeinschaft dürfte sich folglich verändern. Bei ihren Kamerafahrten erkennen die Forschenden erste Anzeichen dafür: So sind beispielsweise Haarsterne seltener anzutreffen als früher, Ringel- und Borstenwürmer dagegen zahlreicher.
Fast überall beruht das Leben am Meeresboden auf dem Algenwachstum an der Oberfläche und dem Export von organischem Kohlenstoff in die Tiefsee. Am Grund der Arktis nimmt die Biomasse größerer Organismen entsprechend ab, je weiter man sich von der produktiven Eisrandzone in Richtung Nordpol begibt. Umso verblüffender ist die Entdeckung in der dritten Woche der Expedition: ein mit Leben überbordender Schwammgarten rund um den Gipfel eines Seebergs unter dickem Packeis. Was ermöglicht eine solch reiche Fauna in einer so nahrungsarmen Umgebung?
Dieselbe Frage stellte sich ein Team um Antje Boetius 2016, als es einige hundert Kilometer westlich von der jetzigen Position an drei benachbarten Seebergen am Gakkelrücken erstmals diese Art von Ökosystem in der zentralen Arktis fand; weiter nördlich als alle bis dahin bekannten Schwammriffe und mit einer Biomasse, die am Grund des Nordpolarmeers ihresgleichen suchte. »Manche Schwämme hatten einen Durchmesser von rund einem Meter«, sagt Tiefseeökologe Autun Purser, der damals zum Expeditionsteam gehörte.
Schwämme ernähren sich primär von organischen Partikeln, die sie aus dem vorbeiströmenden Meerwasser filtern. Proben, die das Team 2016 unter anderem mit einem Tauchroboter sammelte, ergaben, dass so genannte Bakterienschwämme die Artengemeinschaft an den Seebergen dominieren. »Die Schwämme haben symbiontische Mikroorganismen in ihrem Gewebe, die ein Großteil der Masse des Schwamms ausmachen«, erklärt Purser. Die Forschenden fanden heraus, dass die Symbionten unter anderem schwer abbaubare Polymere verlassener Wurmröhren zerlegen können, die zusammen mit Muschelschalen und Silikatnadeln der Schwämme bis zu 15 Zentimeter dicke Matten auf den Seebergen bilden.
Spuren von vor 2000 Jahren
Die leeren Behausungen stammen von Röhrenwürmern, welche an heißen und kalten Quellen im Ozean vorkommen. Ihre Symbionten leben von energiereichem Methan oder Schwefelwasserstoff in den austretenden Fluiden. Am Gakkelrücken, wo die Eurasische und die Nordamerikanische Kontinentalplatte pro Jahr etwa einen Zentimeter auseinanderdriften, gibt es aktiven Vulkanismus; Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind unter dem arktischen Meereis auf Schwarze Raucher gestoßen. Die von Boetius und ihrem Team untersuchten Seeberge sind schon vor langer Zeit zur Ruhe gekommen, wie 14C-Altersdatierungen der Wurmröhren vermuten lassen. Ihre Baumeister waren vor mehr als 2000 Jahren aktiv, lange bevor die Schwämme die Gipfel eroberten und in Oasen der Tiefsee verwandelten.
Wahrscheinlich boten die fossilen Wurmröhren den Schwämmen eine geeignete Oberfläche, um sich an den Seebergen anzusiedeln, und gleichzeitig eine ergänzende Nahrungsquelle, die sie mit Hilfe ihrer Symbionten bis heute nutzen. Die neu entdeckte Kolonie weiter östlich am Gakkelrücken ist offenbar ein jüngeres Ökosystem, denn die Schwämme sind hier deutlich kleiner. »Sie wachsen nur sehr langsam und können mehrere hundert Jahre alt werden«, sagt Purser. »Ihr Leben beginnen sie als millimetergroße Klone der Elterntiere, die sich durch Knospung vermehren.«
Und als wären die Schwammgärten nicht schon außergewöhnlich genug, ist dort noch etwas zu beobachten, das die herrschende Lehrmeinung von Schwämmen als sesshafte Organismen über den Haufen wirft: Sie kriechen am Meeresboden entlang, offenbar mit Vorliebe bergauf, wie Purser berichtet. »Möglicherweise gelangen sie so an bessere Futterplätze oder die Fortbewegung dient dazu, den Nachwuchs zu verbreiten.« Die Schwämme sind gespickt mit Silikatnadeln. Damit ziehen sie sich in die gewünschte Richtung, wie teils meterlange Kriechspuren verraten. Eilig haben sie es dabei nicht: »Pro Jahr legen die Schwämme wohl nur wenige Zentimeter zurück.« Dabei verlieren sie Nadeln, die sich zu einer dicken Schicht auf den Seebergen ansammeln. Die Nadelmatten filtern organische Partikel aus dem Meerwasser und bieten zahllosen anderen Organismen einen Lebensraum. So werden die Schwämme zu Ingenieuren eines einzigartigen Ökosystems in der Arktis.
Während einige aus dem Expeditionsteam im Sommer 2023 größere Tiefseetiere erfassen, nimmt eine Gruppe vom Deutschen Zentrum für Marine Biodiversitätsforschung (DZMB) am Senckenberg Institut in Wilhelmshaven benthische Organismen unter die Lupe. Teils sind sie kaum einen Millimeter groß. Auf dem Meeresboden lebende Tierchen (Epifauna) fangen die Forscherinnen und Forscher mit Netzen ein, die hinter dem Schiff knapp über dem Grund geschleppt werden und die obere Sedimentschicht aufwirbeln. Um Organismen im Boden (Infauna) einzusammeln, stanzen sie mit einem Kastengreifer einen 50 Zentimeter tiefen Sedimentblock aus.
Gerade wird der Kastengreifer mit einer Probe aus gut 4000 Meter Wassertiefe mit dem Heckkran hochgeholt. Die »Polarstern« liegt inzwischen an einer neuen Eisscholle. Nachdem zwei Matrosen das fast eine Tonne schwere Gerät mit Spanngurten gesichert haben, lösen die Meeresbiologin Carolin Uhlir vom Senckenberg Institut und ihr Team die Sedimentbox und tragen den Schlamm Schicht für Schicht ab. Dann wird an Deck bei minus vier Grad Celsius und Schneetreiben gesiebt: Mit Gartenbrausen in der Hand spülen die Fachleute die kostbaren Proben behutsam auf Metallsieben mit Seewasser. Was auf den feinen Maschen hängen bleibt, kommt in Schraubgefäße.
Im Schiffslabor sortieren und fotografieren sie ihre Fänge: Mini-Krebse, Asselspinnen, winzige Muscheln, Schnecken und anderes Getier. Anschließend werden diese in Ethanol oder einer Formaldehydlösung konserviert, um die verschiedenen Arten später anhand von genetischen oder morphologischen Merkmalen zu bestimmen. »Wir wollen die Biodiversität benthischer Organismen studieren, die am Anfang der Nahrungskette stehen und eine wichtige Rolle im marinen Ökosystem spielen«, führt Carolin Uhlir aus. »Bisher weiß man darüber für die arktische Tiefsee nur wenig, besonders unterhalb von 3000 Metern ist die Datenlage äußerst dünn.«
Dabei braucht man diese Daten dringend. Etwa um zu klären, wie die Meeresbodenfauna auf die klimabedingte Erwärmung sowie Versauerung des Arktischen Ozeans reagiert und was daraus möglicherweise für Tiere weiter oben in der Nahrungskette folgt, erläutert Uhlir: »Wir beobachten bereits jetzt eine ›Atlantifizierung‹ der Arktis durch Arten, die aus dem Süden einwandern.« Diese könnten heimische Arten verdrängen – oder die Biodiversität bereichern. Es brauche auch Langzeitstudien zur Anpassungsfähigkeit der benthischen Fauna im Nordpolarmeer, sagt die Biologin: »Tiefseeorganismen wachsen und vermehren sich sehr langsam. Für menschliche Verhältnisse verläuft ihr Leben in Zeitlupe.«
Nach gut einem Monat auf See, kurz bevor die Meereisbedeckung auf ihr alljährliches Minimum fällt, erreicht die Expedition Anfang September den 90. Breitengrad: den geografischen Nordpol. Die »Polarstern« ist schon zum siebten Mal am nördlichsten Punkt der Erde. 1991 konnte sie zusammen mit der schwedischen »Oden« als erster konventioneller Eisbrecher dorthin vordringen. Doch seither hat sich der Arktische Ozean dramatisch verändert, wie Kapitän Stefan Schwarze erzählt: »Damals haben wir uns mit zwei Eisbrechern durchs Packeis zum Nordpol kämpfen müssen. Heute genügten 30 Prozent unserer Maschinenleistung.« Tags zuvor herrschten Plusgrade an der Schiffsposition und es regnete.
Der Weg ist eisfrei
2012 war Antje Boetius mit ihrem Team 40 Kilometer vor dem Pol gescheitert, trotz des massiven Meereisrückgangs in jenem Sommer. Stürme hatten die Schollen seinerzeit zusammengeschoben, sie versperrten der »Polarstern« die Route. Jetzt liegt der Weg frei, der Wind hat das Eis auseinandergetrieben und nach Süden gedrückt, so dass die nautischen Offiziere das Schiff praktisch mühelos durch das Eislabyrinth manövrieren können. Obwohl der Sommer 2023 der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnung ist, schrumpft die Eisdecke dank schützender Tiefdruckgebiete »nur« auf rund 4,3 Millionen Quadratkilometer; im Rekordschmelzjahr 2012 war sie gut 30 Prozent kleiner.
Die Forschenden an Bord haben nun die einmalige Gelegenheit, die Tiefseefauna am Nordpol zu studieren. Viele ihrer Geräte wurden dort noch nie zuvor eingesetzt. In 4224 Meter Wassertiefe erreicht ihre Kamera den schlammigen Meeresboden und liefert die ersten wissenschaftlichen Live-Bilder vom Grund des Pols. Sie filmen Seegurken, Anemonen mit ausgestreckten Tentakeln sowie einen Dumbo-Oktopus. Viele Hügel, Löcher und Kriechspuren im Sediment verraten, dass es auch hier, unter extremsten Umweltbedingungen, sehr belebt zugeht. Besonders auffällig sind sternförmige Muster am Grund, bis zu einem Meter im Durchmesser. Der Zeichner dieser Sterne wird auf frischer Tat ertappt: ein Igelwurm, der mit seiner Riesenzunge das Sediment rings um seinen Bau nach organischen Partikeln ableckt. Auch das Team um Carolin Uhlir macht am Nordpol einen spektakulären Fang: eine achtbeinige männliche Asselspinne, die ihren Nachwuchs mit sich herumträgt.
Zehn Tage später, gegen Ende der Expedition, wird die Kamera noch einmal am Gakkelrücken in die Tiefe gelassen, um das Polaris-Hydrothermalfeld zu erkunden. Schon 2016 hatte Antje Boetius hier nach Schwarzen Rauchern gesucht, aber ohne Erfolg. Wenige hundert Meter über dem Grund wabert eine ausgedehnte Trübewolke – ein eindeutiger Hinweis darauf, dass in der Nähe heißes Wasser aus dem vulkanisch aktiven Ozeanboden dringt. Solche hydrothermalen Fluide enthalten energiereiche Verbindungen wie Methan oder Schwefelwasserstoff und Metallionen. Chemosynthetische Bakterien, die oft in Symbiose mit benthischen Organismen leben, verwandeln mit Hilfe dieser Stoffe im Meerwasser gelöstes CO2 in organische Kohlenstoffverbindungen, von denen sich die Lebensgemeinschaften vor Ort ernähren.
In drei Kilometer Tiefe stoßen die Forschenden auf Kissenlava – kissenförmige erstarrte Lava –, Schwefelablagerungen und gelbe Bakterienmatten. Verschiedene Organismen besiedeln den Grund in der Umgebung: Anemonen, Garnelen, Borstenwürmer und zahllose Schlangensterne. Die Quelle der Trübewolke finden sie allerdings nicht, auch weil dichtes Packeis über dem Polaris-Hydrothermalfeld die erneute Suche erschwert.
In den nächsten Jahren möchte Boetius mit einem Tauchroboter ins Nordpolarmeer zurückkehren und die Seeberge weiter erforschen. »Die vulkanischen Welten der Arktis beherbergen eine eigene Lebensvielfalt, die wir kennen sollten«, sagt sie, »allein, damit wir solche Biodiversitäts-Hotspots schützen können. Denn sie liegen in einer Region, die immer weniger von Eis bedeckt ist und damit zugänglicher wird für Fischerei, Rohstoffförderung und Tourismus.«
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