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Sahelanthropus tchadensis: Der angeblich erste Zweibeiner war wohl keiner

Sieben Millionen Jahre alte Fossilien aus dem Tschad sollen vom ersten Vormenschen stammen – und belegen, dass dieser schon früh auf zwei Beinen lief. Doch die Beweislage ist dünn.
Schimpansen
Eine Gruppe Schimpansen überquert eine Straße in Uganda. Eines der Tiere läuft auf zwei Beinen. Begann die Evolution zum modernen Menschen hin mit dem dauerhaften Gang auf zwei Beinen?

In der weiten Savanne des Tschad streiften vor rund sieben Millionen Jahren Herden von Wildpferden, Elefanten und Antilopen umher. Mancherorts ragten die Sandzungen der Wüste in das wogende Grasland, an anderer Stelle grenzte die Savanne an einen See. In der Kühle des Gewässers, das dicht von Bäumen gesäumt war, lagerten Krokodile und tummelten sich zahlreiche Fische. Zwischen den Bäumen indes bewegte sich ein affenartiges Wesen. Es kraxelte durchs Geäst und sprang auf den Boden. Und dann? Lief es auf allen vieren weiter – oder doch auf zwei Beinen?

Über diese Frage streiten sich Forscher seit fast 20 Jahren. Es geht um nichts weniger als die Suche nach dem ersten Vormenschen und die Frage, ob er oder sie auf zwei Beinen lief. Nun haben Paläoanthropologen, federführend Guillaume Daver und Franck Guy von der Université de Poitiers, im Fachmagazin »Nature« eine neue Knochenanalyse jenes affenartigen Wesens vorgestellt.

Vorab sei verraten: Ihre Studie löst den alten Streit nicht. Im Gegenteil.

Sahelanthropus tchadensis fand sich 2001 in der Djurab-Wüste

Zum Ende des Miozäns lebten in Afrika die letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen. Aus ihnen gingen vor fast sieben Millionen Jahren die ersten Vormenschen hervor. Darüber sind sich die meisten Fachleute einig. Ob aber Fossilien, die Anthropologen 2001 im Tschad gefunden haben, zu den ersten Exemplaren der Menschenlinie gehörten, darüber herrscht wenig Einstimmigkeit. Sahelanthropus tchadensis tauften die Ausgräber um Michel Brunet von der Université de Poitiers damals ihre Fossilfunde. Es handelte sich um einen fragmentierten Schädel, Kieferteile und diverse Zähne, die sie am Fundplatz Toros-Ménalla in der Djurab-Wüste frei gelegt haben. Vor zirka sieben Millionen Jahren habe dieser früheste bekannte Vorläufer des Menschen existiert, er sei der älteste bekannte Hominine gewesen. Zu dieser Gruppe zählen Experten die Gattung Homo – und damit uns Menschen – und deren ausgestorbene Vorfahren.

Am Schädel von Sahelanthropus, der den Spitznamen »Toumaï« bekam, machten Brunet und sein Team affen- und menschenähnliche Merkmale aus. Als wichtiges Indiz fürs Menschsein werteten sie beispielsweise die relativ kleinen Eckzähne. 2005 untersuchten sie dann genauer, ob der Primat auch auf zwei Beinen gelaufen sein könnte. Dazu rekonstruierten sie den Schädel virtuell, um die Position des Hinterhauptslochs zu bestimmen. In dieser Öffnung am Schädel steckt die Wirbelsäule. Aus deren Lage erschließt sich, ob das Rückgrat gebeugt oder aufrecht ausgerichtet war. Bei uns Menschen öffnet sich die Stelle nach unten, Hals und Rücken stehen folglich vertikal. Und bei »Toumaï«? Das Loch habe sich eher nach unten als nach hinten wie bei Vierbeinern geöffnet, urteilten die Forscher. Sahelanthropus hätte demnach aufrecht gehen können. Die Deutung von Brunet und Co blieb jedoch nicht unangefochten.

Fachkolleginnen und -kollegen bemängelten, dass der Schädel zu schlecht erhalten sei, um die Haltung der Wirbelsäule genau genug rekonstruieren zu können. Ein scharfer Kritiker ist der Paläoanthropologe Roberto Macchiarelli von der Université de Poitiers. Er hält Brunets These auch aus evolutionärer Sicht für problematisch. Würde das Hinterhauptsloch von Sahelanthropus tatsächlich derart stark dem von Homo sapiens ähneln, wäre der Miozänprimat jüngeren Vormenschen weit voraus gewesen. »Das würde nahelegen, dass vor sieben Millionen Jahren Sahelanthropus menschenähnlicher gewesen wäre als ein vier Millionen Jahre jüngerer Australopithecus, der sehr wahrscheinlich ein direkter Vorfahre der Gattung Homo war«, schreibt Macchiarelli in einer E-Mail an »Spektrum.de«. Solche Sprünge im Stammbaum, mahnt der Paläoanthropologe, sollten skeptisch machen, ob die Schädelrekonstruktion tatsächlich aussagekräftig genug sei.

Gleich zwei Studien stellten Knochen der Gliedmaßen vor

Was oder wer war nun Sahelanthropus tchadensis? Für eine klare Antwort fehlten bisher Knochen vom Rest des Körpers – etwa Wirbel, Hüft-, Arm- oder Beinteile. Die Ausgräber hatten zwar derartige Fossilien schon 2001 in Toros-Ménalla geborgen, die Funde aber schlicht nicht publiziert – was Fachkollegen jahrelang kritisierten. 2020 erschienen dann gleich zwei Studien: Daver und Guy stellten eine Vorabveröffentlichung ihres »Nature«-Papers auf den Preprintserver »Research Square«. Und Roberto Macchiarelli publizierte eine flüchtige Analyse eines fragmentierten Oberschenkelknochens. Seine Kollegin Aude Bergeret, heute Direktorin am Musée d’Histoire Naturelle Victor Brun in Montauban, hatte mit Macchiarelli die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und das Fossil untersucht, als es einmal an der Université de Poitiers aufbewahrt wurde.

Vor allem um jenen Oberschenkelknochen dreht sich die Diskussion, wie sich Sahelanthropus am Boden fortbewegte.

Knochen | Links in zwei Ansichten ist der fragmentierte Oberschenkelknochen von Sahelanthropus tchadensis abgebildet, rechts jede der beiden Ellen ebenfalls in zwei Ansichten. Es handelt sich um ein 3-D-Modell der Fossilien.

Beide Forscherteams hielten dasselbe Beinfossil in Händen, doch ihre Ergebnisse könnten nicht unterschiedlicher sein. Daver und Co schreiben in »Nature«: »Die Morphologie des Femurs [Oberschenkelknochen] ist am plausibelsten zu erklären mit einer gewohnheitsmäßigen Zweibeinigkeit.« Demnach sei Sahelanthropus bereits ans Gehen angepasst gewesen, anders als heutige Schimpansen, die sich nur in Ausnahmefällen aufrichten. In Macchiarellis Studie im »Journal of Human Evolution« heißt es hingegen: »Die Ergebnisse unserer vorläufigen Funktionsanalyse deuten darauf hin, dass der (…) Schaft eines Femurs zu einem Individuum gehört, das für gewöhnlich nicht zweibeinig war.« Für die einen war Sahelanthropus ein Aufrechtgänger, für die anderen ganz sicher keiner.

Ein Kletterer in den Bäumen

Daver und Guy haben neben dem Femur noch zwei Unterarmknochen vorgelegt, eine linke und eine rechte Elle. Die drei Fossilien waren 2001 zwar nicht an exakt derselben Stelle wie »Toumaï« entdeckt worden, gehörten aber sehr wahrscheinlich auch zu einem Sahelanthropus – zumindest darin sind sich die meisten Fachleute einig. Ebenso unstrittig ist die Funktionsanalyse der Vorderarmknochen. Ihr leicht gekrümmter Schaft und die Form der Ellbogengelenke sprechen dafür, dass der Primat einst in Bäumen umherkraxeln konnte.

Der Miozänprimat war demnach ein Baumkletterer. Hingegen ist seine Fortbewegungsart am Boden wohl auch deshalb unklar, weil jener einzige Beinknochen, den man bislang fand, stark fragmentiert ist. Von dem Femur ist nur der Schaft erhalten; der Gelenkkopf zur Hüfte hin ist abgebrochen, der Gelenkfortsatz zum Knie hin fehlt ebenfalls.

Nach eingehender Analyse wollen Daver und seine Arbeitsgruppe dennoch Ähnlichkeiten mit den Gebeinen früher Vormenschen erkennen wie mit dem möglichen Homininen Orrorin tugenensis, der vor sechs Millionen Jahren vermutlich ab und an aufrecht dahintapste.

Ob der Beinknochen von Sahelanthropus so zu interpretieren ist, scheint jedoch Ansichtssache zu sein. Scott A. Williams von der New York University, der über die Evolution des aufrechten Gangs forscht, ist jedenfalls anderer Meinung. »Der Femur unterscheidet sich meines Erachtens deutlich von den Oberschenkelknochen anderer Hominine – und des modernen Menschen«, äußert Williams gegenüber »Spektrum.de«. Und gibt es Übereinstimmungen zwischen dem älteren Sahelanthropus und dem jüngeren Orrorin tugenensis? Dem widerspricht der Paläoanthropologe ebenfalls. »Da sehe ich keine große Ähnlichkeit.«

Die Paläontologin Madelaine Böhme von der Universität Tübingen schlägt in dieselbe Kerbe. Von Davers und Guys Ergebnissen ist sie wenig überzeugt: »Der Oberschenkelknochen ist extrem fragmentarisch, und die Schlussfolgerungen sind meiner Meinung nach wenig sicher.« Böhme hatte 2019 mit ihrem Team die Fossilien von Danuvius guggenmosi vorgestellt, eines bis dahin unbekannten, zwölf Millionen Jahre alten Primaten, dessen Knochen aus einer Tongrube im Ostallgäu stammten. Danuvius war womöglich ebenfalls zweibeinig unterwegs – aber auch das ist umstritten.

Fundort Djurab-Wüste | In der Gegend im Tschad fanden sich an mehreren Stellen fossile Überreste aus dem späten Miozän. Darunter Knochen von Sahelanthropus tchadensis.

Eine Knochenverdickung, zwei verschiedene Thesen

Als schlagkräftigstes Argument für ihre These verweisen Daver und Guy auf den Calcar femoris. Diese knöcherne Verdickung liegt im Halsbereich des Oberschenkelknochens. Auch der sieben Millionen Jahre alte Femur aus dem Tschad weist eine solche auf. Was macht der Calcar femoris? Angeblich hilft die Verdickung, das Körpergewicht zu stützen, wenn man sich auf zwei Beinen bewegt.

Dass nur Aufrechtgänger damit gesegnet seien, ist allerdings nicht so gesichert, wie Davers und Guys Ausführungen glauben lassen. Eine im »Journal of Human Evolution« veröffentlichte Studie aus dem Jahr 2022 kommt jedenfalls zu einem gegenteiligen Ergebnis. Marine Cazenave vom American Museum of Natural History in New York hat mit einer Arbeitsgruppe ebenjenen Calcar femoris am Knochenbau von noch lebenden und ausgestorbenen Hominiden, also Menschenaffen, Homo sapiens und seinen Vorläufern untersucht. In jeder der Gruppen entdeckten sie Beispiele mit und ohne Knochenverdickung. »Der Calcar femorale [femoris] kann nicht als ›magisches Merkmal‹ oder diagnostisch für Zweibeinigkeit angesehen werden«, schlussfolgert Cazenave.

Der Streit um die Fortbewegungsweise von Sahelanthropus hilft letztlich auch nicht weiter, eine andere wichtige Frage zu beantworten: War er denn nun ein Vormensch oder nicht? Denn gewohnheitsmäßig auf zwei Beinen zu gehen, sagt nicht unbedingt etwas übers Menschsein aus. »Das Problem ist, dass wir erwarten, die frühesten Homininen seien zweibeinig gewesen – aber das muss nicht unbedingt zutreffen«, sagt US-Forscher Scott A. Williams. Gut möglich, dass sich unser allererster Vorfahre nur minimal vom gemeinsamen Vorläufer der Schimpansen und Menschen unterschieden hat. Neue Merkmale könnten kleinere Eckzähne gewesen sein, nicht der aufrechte Gang.

Madelaine Böhme sieht es ähnlich. Dem Gebiss nach passe Sahelanthropus zu den Homininen, seinen Extremitäten zufolge eher nicht. Zu unterscheiden, was menschlich und was affenartig war, wird laut Böhme »eine immer kompliziertere Angelegenheit«. Und so scheint es, dass sich selbst mit den alten Neufunden aus der Djurab-Wüste das Rätsel um Sahelanthropus noch nicht lösen lässt.

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