Nobelpreis für Wirtschaft 2024: Demokratie für mehr Wohlstand
Die Hälfte der Weltbevölkerung verdient zusammen weniger als ein Zehntel des Gesamteinkommens – und besitzt nur zwei Prozent des gesamten Vermögens. Diese Ungleichheit lässt sich auf Unterschiede zwischen den Ländern zurückführen. Daher stellt sich die Frage, warum einige Länder arm und andere wohlhabend sind. Die Ökonomen Daron Acemoglu und Simon Johnson vom Massachusetts Institute of Technology sowie James Robinson von der University of Chicago haben mit ihrer Forschung eine Antwort gefunden. Demnach hängt das Vermögen eines Staats stark von dessen politischen Institutionen ab; also dem Wahlrecht, den Behörden oder den Gerichten.
Für ihre empirischen und theoretischen »Studien darüber, wie Institutionen gebildet werden und sich auf den Wohlstand auswirken« erhalten Acemoglu, Johnson und Robinson nun den Preis für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel. Es ist der einzige der Nobelpreise, der nicht auf das Testament von Nobel zurückgeht. Er wird seit Ende der 1960er Jahre von der schwedischen Reichsbank gestiftet und zählt somit streng genommen nicht zu den klassischen Nobelpreisen. Vergangenes Jahr war die Ökonomin Claudia Goldin mit der prestigeträchtigen Auszeichnung geehrt worden.
»Warum manche Länder reicher sind als andere, ist schwer zu beantworten«, sagte der Politikwissenschaftler Jan Teorell von der Universität Stockholm bei der Bekanntgabe des prestigeträchtigen Preises. Denn dafür müsse man zwischen Ursachen und Konsequenzen unterscheiden. So vermutete bereits der französische Gelehrte Charles Louis de Secondat, auch Montesquieu genannt, in seinem 1748 erschienenen Buch »Vom Geist der Gesetze«, dass gemäßigtere Klimazonen mehr Produktivität hervorbringen. Und tatsächlich sind heute Länder nahe dem Äquator ärmer. Doch Acemoglu, Johnson und Robinson konnten mit Hilfe historischer Daten belegen, dass klimatische Bedingungen nicht ausreichen, um den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes zu erklären.
Eine Geschichte von zwei Städten
In ihrem 2012 veröffentlichten Buch »Warum Nationen scheitern« veranschaulichen Acemoglu und Robinson das Problem der Ungleichheit am Beispiel der geteilten Stadt Nogales. Diese ist in der Mitte von einem Grenzzaun durchzogen. Der nördliche Teil ist US-Gebiet und liegt im Bundesstaat Arizona, während der Süden zu Sonora in Mexiko gehört. Die Bewohner von Nogales sind gleicher Abstammung (unabhängig davon, ob sie im nördlichen oder südlichen Bereich leben), teilen die gleiche Kultur und leben in denselben geografischen Verhältnissen. Und trotzdem unterscheiden sich die beiden Gebiete angesichts der Lebensbedingungen stark voneinander: Der Süden ist deutlich ärmer, es gibt dort mehr Kriminalität und weniger Bildungsmöglichkeiten.
Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Stadtteilen liegt laut Robinson und Acemoglu in den Institutionen. Das US-amerikanische Wirtschaftssystem ermöglicht bessere Zugänge zu Bildung und US-Bürger besitzen mehr Bürgerrechte als die Personen südlich des Grenzzauns.
Und wie die Forschung der drei Preisträger zeigt, ist Nogales kein Einzelfall. Der Reichtum eines Landes oder einer Gegend lässt sich auf die Institutionen zurückführen. Um das zu verstehen, muss man auf die Kolonialgeschichte zurückschauen.
Ein Blick in die Vergangenheit
Der Kolonialismus hat einen Großteil der Welt grundlegend verändert. Die europäischen Mächte haben während der Invasionen verschiedene Arten von Institutionen errichtet, deren Einfluss sich über Hunderte von Jahren zurückverfolgen lässt. »Unterschiedliche koloniale Strategien haben zu verschiedenen Ergebnissen geführt«, sagte Acemoglu bei der Bekanntgabe des Nobelpreises. Zum Beispiel bestand das Hauptziel der Siedler manchmal darin, die indigene Bevölkerung und die natürlichen Ressourcen auszubeuten, während an anderen Orten inklusive politische und wirtschaftliche Systeme errichtet wurden. Das mache den Kolonialismus zu einem interessanten Untersuchungsobjekt, erklärte Acemoglu.
Den Forschern fiel auf, dass die Orte, die zum Zeitpunkt der Kolonisierung am reichsten waren, heute zu den ärmsten gehören. Das begründen Acemoglu, Johnson und Robinson mit der Anzahl der Siedler, die sich in den Gebieten niederließen. An den reicheren Orten gab es meist mehr indigene Bevölkerung, die Widerstand leistete, so dass weniger Siedler kamen. Je weniger europäische Personen vor Ort, desto weniger inklusive Institutionen errichteten sie. In ärmeren und bevölkerungsarmen Gegenden wurden hingegen viele Siedler sesshaft und errichteten Systeme, die mehr politische Rechte ermöglichten.
Auch die Gesundheitslage vor Ort beeinflusste die Niederlassung europäischer Siedler. In vielen afrikanischen Ländern sowie in Indien gab es beispielsweise Krankheiten wie Malaria, die für eine hohe Sterblichkeit sorgten. Das hat bis in die Gegenwart spürbare Auswirkungen: Je höher die Sterblichkeit unter den Kolonisatoren, desto niedriger ist das heutige Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.
Tatsächlich haben sich die Vermögensverhältnisse der kolonisierten Länder durch die industrielle Revolution umgekehrt. Wo früher urbanisierte Völker wie die Azteken lebten, befindet sich nun Mexiko, das zu den ärmeren Ländern der Welt zählt. Nördlich davon, in der heutigen USA und Kanada, gab es im 16. Jahrhundert hingegen kaum Urbanisierung; diese Gegend zählte zu den ärmsten der Welt vor der Industrialisierung. Ein solcher Trend lässt sich nur in kolonisierten Ländern beobachten. Nicht kolonisierte Staaten weisen keine solche Umkehr auf.
Ein spieltheoretisches Modell
Nachdem die Forscher den kausalen Zusammenhang zwischen Institutionen und Wohlstand erkannt hatten, fragen sie sich, warum manche Länder an Strukturen festhalten, welche die wirtschaftliche Entwicklung bremsen. Auch wenn ausbeuterische Wirtschaftssysteme einer reichen Elite kurzfristige Gewinne bescheren, würden integrative Institutionen langfristig allen in der Bevölkerung zugutekommen.
Das Hauptproblem ist dabei die Glaubwürdigkeit. Wenn eine reiche Minderheit die geforderten Reformen verspricht, ist das in der Regel nicht glaubwürdig. Die Elite könnte ihr Versprechen brechen und in ihrem kurzfristigen Interesse handeln. Ähnlich sind auch Zusicherungen der breiten Masse unglaubwürdig, die reiche Elite für ihre friedliche Zustimmung zu entschädigen. Einmal an der Macht hat sie dafür keine Anreize mehr. So können technologische Innovationen und Veränderungen blockiert werden, die als Bedrohung für den Machterhalt empfunden werden.
Um das komplexe Zusammenspiel zu verstehen, haben Acemoglu, Johnson und Robinson Anfang der 2000er Jahre in spieltheoretischen Analysen das Verhalten von politischen Eliten und der ärmeren Bevölkerung modelliert. Dafür nutzten sie ein agentenbasiertes Modell, bei dem die breite Masse gegen eine reiche Minderheit antritt. Das Modell besteht aus drei Komponenten: Die erste ist ein Konflikt darüber, wie die Ressourcen verteilt werden und wer darüber entscheidet. Die zweite besteht darin, dass die Massen eine Revolution anzetteln können. Drittens kann die reiche Minderheit ihre Entscheidungsmacht an die Bevölkerung abgeben.
»Staaten, die ein demokratisches System einführen, erleben nach acht bis neun Jahren ein Wirtschaftswachstum«Daron Acemoglu, Wohlstandsforscher
Mit diesem theoretischen Modell konnten die Forscher die Demokratisierung in westeuropäischen Ländern wie Großbritannien oder Schweden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erklären. Zudem lässt sich damit auch nachvollziehen, warum einige Staaten immer wieder zwischen demokratischen und autoritären Systemen hin- und herwechseln.
Heutige Entwicklungen
»Demokratie spielt für Wohlstand eine wichtige Rolle«, sagte Acemoglu bei der Bekanntgabe des Nobelpreises. »Staaten, die ein demokratisches System einführen, erleben nach acht bis neun Jahren ein Wirtschaftswachstum.« Doch autoritäre Länder haben oft den Vorteil, dass sie schnell große Ressourcen bereitstellen können. Das lässt sich aktuell unter anderem bei der Volksrepublik China beobachten, die große Investitionen in technologische Bereiche vornimmt. »Es gibt Möglichkeiten, wie nicht demokratische Länder wachsen können, das haben Robinson und ich in unserem Buch ›Warum Nationen scheitern‹ untersucht«, erklärt der Ökonom weiter. »Dieses autoritäre Wachstum ist aber oft instabil. Solche Regime haben es häufig schwerer, langfristig Innovationen hervorzubringen.«
Zwischen dem 7. und dem 14. Oktober geben die Nobelkomitees die Preisträger des Jahres 2024 bekannt. Auf unserer Themenseite »Nobelpreise – die höchste Auszeichnung« erfahren Sie, wer einen der renommierten Preise erhalten hat. Dort können Sie außerdem das Wesentliche über die Laureaten und ihre Forschung nachlesen.
Damit sind alle Nobelpreisträgerinnen und -träger für dieses Jahr bekannt. Bereits in der vergangenen Woche waren nach und nach die Namen der Ausgezeichneten in den Kategorien Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Frieden verkündet worden. Feierlich überreicht werden die Nobelpreise am 10. Dezember 2024.
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