Der Mathematische Monatskalender: Arthur Cayley (1821–1895)
Geboren in Richmond (Surrey), wächst Arthur Cayley, der Sohn des englischen Kaufmanns Henry Cayley, zunächst im russischen St. Petersburg auf; nach Rückkehr der Familie besucht er das King's College in London. Mit 17 Jahren tritt er in das Trinity College der Universität Cambridge ein, schließt mit 21 als Jahrgangsbester (Senior Wrangler) sein Mathematik-Studium ab und gewinnt den Smith's Prize, eine Auszeichnung für Studenten, die während des gesamten Studiums außergewöhnliche Leistungen gezeigt haben.
Bereits während seines Studiums werden drei Beiträge im Cambridge Mathematical Journal veröffentlicht; in den beiden Jahren nach dem Bachelor-Examen, in denen er als Tutor die Studienanfänger betreut, folgen weitere 28 Beiträge. Nach Ablegen des Master-Examens entschließt er sich, Anwalt zu werden, um mit einer solchen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In den folgenden fünf Jahren arbeitet er bei einem bekannten Londoner Notar, bevor er 1849 seine Zulassung als Anwalt an allen Gerichtshöfen (barrister) erhält. In dieser Zeit lernt er James Joseph Sylvester kennen, der das gleiche Ziel wie er verfolgt. Die beiden freunden sich an; ihre Gespräche drehen sich stets und fast ausschließlich um mathematische Themen.
14 Jahre lang arbeitet Cayley als Anwalt – und veröffentlicht in dieser Zeit über 250 wissenschaftliche Arbeiten, bis er 1863 auf den Sadleirian Chair, einen Lehrstuhl für Reine Mathematik an der Universität Cambridge, berufen wird. Er verfügt jetzt zwar nur noch über einen Bruchteil des Einkommens, das er vorher als Anwalt hatte, aber er ist glücklich mit dieser Tätigkeit, die er bis zu seinem Tod im Jahre 1895 ausüben kann. Insgesamt veröffentlicht er 967 Schriften, die sich mit Themen aus allen aktuellen Forschungsgebieten der Mathematik beschäftigen, darunter aber nur ein einziges Lehrwerk (über Jacobis elliptische Funktionen). Im Unterschied zu vielen anderen englischen Wissenschaftlern veröffentlicht er auch zahlreiche Beiträge in französischer Sprache, die er mühelos beherrscht.
Im Jahr 1843 hatte sich der irische Mathematiker und Physiker William Rowan Hamilton mit 4-dimensionalen Objekten \((a; b; c; d)\) beschäftigt und hinsichtlich der Verknüpfungen herausgefunden, dass eine Multiplikation nur dann definiert werden kann, wenn man die Eigenschaft der Kommutativität durch eine Anti-Kommutativität ersetzt. Zwischen den Basiseinheiten \(i, j, k\) gelten die Beziehungen: \(i^2 = j^2 = k^2= i \cdot j \cdot k = – 1\), \(\ \ i \cdot j = – j \cdot i = k\). Diese Quaternionen können auch in der Form \(a+b\cdot i+c\cdot j+d\cdot k\) notiert werden.
Noch im selben Jahr findet sein Freund John Thomas Graves heraus, dass auch Verknüpfungen von 8-dimensionalen Objekten (die er als Oktaven bezeichnet) möglich sind, wenn man nicht nur auf die Eigenschaft der Kommutativität, sondern auch auf die der Assoziativität verzichtet. Für die zugehörigen Basiseinheiten \(i\), \(j\), \(k\), \(l\), \(m\), \(n\), \(o\) gelten die Beziehungen:
\(i^2 = j^2\) \( = k^2 = l^2\) \( = m^2 = n^2\) \(= o^2 = i \cdot j \cdot k = – 1\), \(m = i \cdot l = -l \cdot i\), \(\ \ n = j \cdot l = -l \cdot j\) sowie \(o = k \cdot l = – l \cdot k\).
Da es Hamilton versäumt, die Entdeckung seines Freundes publik zu machen, geschieht es, dass Cayley zwei Jahre später diese hyperkomplexen Zahlen unabhängig von Graves neu entdeckt und eine Abhandlung hierüber verfasst. Trotz der unbestrittenen Urheberschaft von Graves werden die Zahlen heute als Cayley-Zahlen bezeichnet und mit dem von Cayley gewählten Begriff Oktonionen zitiert. Graves und Cayley suchen vergeblich nach noch darüber hinaus existierenden \(n\)-dimensionalen Zahlsystemen. Graves gelingt dies nicht für den Fall \(n= 16\), Cayley auch nicht für andere Zweierpotenzen.
Erst Adolf Hurwitz kann im Jahr 1898 beweisen, dass außer für \(n = 1, 2, 4\) und \(8\) keine weiteren Zahlensysteme mit vergleichbaren Verknüpfungen existieren.
Lagrange hatte 1773 die Frage gestellt, welche Eigenschaften einer binären quadratischen Form des Typs \(ax^2 + bxy + cy^2\) durch eine Transformation nicht verändert werden, also invariant sind. Zu den ursprünglich rein algebraischen Methoden sind in der Zwischenzeit Verfahren der Differenzial- und Integralrechnung hinzugekommen, und auch geometrische Fragestellungen spielen eine wichtige Rolle, die insbesondere Cayley souverän weiterentwickelt. Von 1845 bis 1878 veröffentlicht er eine Serie von zehn Abhandlungen zur Invariantentheorie(Memoirs on Quantics). Sein Freund Sylvester ergänzt diese durch eigene Beiträge. Nicht ohne Grund werden die beiden von Zeitgenossen oft als invariant twins bezeichnet.
Cayleys Invarianz-Untersuchungen führen unter anderem zu einem besseren Verständnis des Zusammenhangs zwischen der klassischen euklidischen Geometrie und den verschiedenen Modellen der nicht-euklidischen Geometrie. In zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigt sich Cayley mit der Charakterisierung von Kurven und Flächen. Die Abbildung oben zeigt Cayley's sextic (Gleichung: \(4 \cdot (x^2 + y^2 – ax)^3 = 27a^2\cdot (x^2 + y^2)^2\) ), die Abbildung unten zeigt eine 3-dimensionale Projektion von Cayley's surface (Gleichung: \(wxy + xyz + yzw + zwx = 0\) ).
Ein weiteres Gebiet, das Cayley weiterentwickelt, ist das der Gruppentheorie, aufbauend auf den Erkenntnissen von Augustin Cauchy und Évariste Galois. Cauchy hatte 1815 für Permutationen von mathematischen Objekten (zum Beispiel von Zahlen) die noch heute übliche Klammer-Schreibweise eingeführt, bei der die Ausgangsanordnung oben, die veränderte Anordnung unten steht. Die einzelnen Permutationen bezeichnete er mit Buchstaben; die Hintereinanderausführung lässt sich dann wie ein Produkt dieser Bezeichner notieren. In einer Schrift aus dem Jahre 1844 hatte Cauchy diese Theorie dann fortgeführt und unter anderem den Begriff der Identität und der inversen Permutation geprägt. Betrachtet man zum Beispiel die möglichen Anordnungen der Zahlen \(1, 2, 3\), dann lassen sich die folgenden sechs Permutationen unterscheiden:
\(p_0=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 1 & 2 & 3 \end{pmatrix} \), \(p_1=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 1 & 3 & 2 \end{pmatrix} \), \(p_2=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 1 & 3 \end{pmatrix} \),
\(p_3=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 3 & 1 \end{pmatrix} \), \(p_4=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 3 & 1 & 2 \end{pmatrix} \), \(p_5=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 3 & 2 & 1 \end{pmatrix} \)
Das Element \(p_0\) ist die Identität, das neutrale Element bezüglich der Hintereinanderausführung von Permutationen. Die Verknüpfung \(\circ\) zweier Permutationen ist nicht kommutativ; zum Beispiel gilt:
\( p_1 \circ p_2\) \(= \begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 1 & 3 & 2 \end{pmatrix} \circ \begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 1 & 3 \end{pmatrix}\) \(= \begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 3 & 1 \end{pmatrix} =p_3\), andererseits ist aber:
\( p_2 \circ p_1\) \(=\begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 2 & 1 & 3 \end{pmatrix} \circ \begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 1 & 3 & 2 \end{pmatrix}\) \(= \begin{pmatrix} 1 & 2 & 3 \\ 3 & 1 & 2 \end{pmatrix} =p_4\).
Zu jedem Element von \(S_3 = \{p_0, p_1, p_2, p_3, p_4, p_5\}\) existiert ein inverses Element bezüglich der Hintereinanderausführung, zum Beispiel gilt \(p_3 \circ p_4 = p_0\) und \(p_4\circ p_3 = p_0\), also \(p_3=p_4^{-1}\) und \(p_4=p_3^{-1}\). Folgende Teilmengen von \(S_3\) sind bezüglich \(\circ\) abgeschlossen und bilden Untergruppen von \(S_3\): \(\{p_0\}, \{p_0, p_1\}, \{p_0, p_2\}, \{p_0, p_5\}, \{p_0, p_3, p_4\}\).
Cauchy hatte erkannt, dass die Ordnung (= Anzahl der Elemente) einer Untergruppe Teiler der Ordnung der Gruppe sein muss. Im Beispiel von \(S_3\) mit \(3! = 6\) Elementen existieren Untergruppen mit \(1, 2, 3\) Elementen (siehe oben) und, da jede Gruppe Untergruppe von sich selbst ist, auch eine Untergruppe mit sechs Elementen, nämlich \(S_3\) selbst.
In einer Schrift von 1854 kann Cayley zeigen, dass es zu jeder endlichen Gruppe \(G\) mit \(n\) Elementen eine Untergruppe der Gruppe \(S_n\) (= Gruppe der Permutationen von \(n\) Objekten, also mit \(n!\) Elementen) gibt, welche die gleiche Struktur hat – Cayley bezeichnet diese Eigenschaft als faithful, heutige Sprechweise: isomorph.
Cayley ist der Erste, der sich einen Überblick über die Elemente und deren mögliche Verknüpfungen in Tabellenform verschafft (Cayley'sche Gruppentafel), vergleich das Beispiel oben für \(S_3\).
Verknüpfungstabellen bieten ihm die Möglichkeit, durch systematische Überlegungen herauszufinden, welche Typen von Gruppen überhaupt existieren. So entdeckt er, dass es zwei mögliche Typen von Gruppen mit vier Elementen \(\{e, a, b, c\}\) gibt.
Oben kann man das Element \(c\) auch als \( a \circ b \) notieren (Klein'sche Vierergruppe). Unten gilt: \( a \circ a = a^2 = b\) und \( a \circ b =a \circ a^2 = a^3 =c\) (vom Element \(a\)) erzeugte zyklische Gruppe).
In einer späteren Schrift entwickelt er die Idee, die Gruppenstrukturen mithilfe von Graphen zu veranschaulichen; die Abbildung unten zeigt die Struktur der Gruppe \(S_4\) der Permutationen von vier Objekten, wobei die farbigen Pfeile unterschiedlichen Typen von Permutationen entsprechen.
Besondere Verdienste erwirbt sich Cayley auch in der Entwicklung der Theorie der Matrizen. 1858 veröffentlicht er eine Abhandlung, in der er den Matrizenkalkül im Hinblick auf algebraische Gesetzmäßigkeiten untersucht. Bezüglich des Produkts von Matrizen als Verknüpfung führt er den Begriff der inversen Matrix ein. Zusammen mit Hamilton stellt er den Satz auf, dass jede quadratische Matrix \(A\) der charakteristischen Gleichung \(\text{det}(A – \lambda \cdot E) = 0\) genügt, wobei mit \(E\) die Einheitsmatrix und mit \(\text{det}\) die Determinantenfunktion bezeichnet ist, also:
\( \text{det}(A-\lambda\cdot E) = \begin{vmatrix} a-\lambda & b\\ c & d-\lambda \end{vmatrix}\) \( = (a-\lambda)\cdot (d-\lambda)-b \cdot c \) \( = \lambda^2-(a+d)\cdot \lambda – b \cdot c\)
Für eine 2 x 2-Matrix \(a=\begin{pmatrix} a& b \\ c & d\end{pmatrix}\) mit \(A^2=\begin{pmatrix} a^2+bc & ab +bd\\ ac+cd & bc+d^2\end{pmatrix}\) bedeutet dies: Setzt man \(A\) für \(\lambda\) ein, so erhält man die Nullmatrix (Satz von Cayley-Hamilton):
\(A^2-(a+d)\cdot A -b\cdot c \cdot E=\begin{pmatrix} 0 & 0 \\ 0& 0\end{pmatrix}\)
Eine Anwendung des Matrizenkalküls findet Cayley auch im Zusammenhang mit den Quaternionen. Er definiert die Basiseinheiten \(I, J, K\) als komplexe 2 x 2-Matrizen:
\(I=\begin{pmatrix} i & 0 \\ 0 & -i\end{pmatrix}\), \(J=\begin{pmatrix} 0 & 1 \\ -1 & 0\end{pmatrix}\), \(K=\begin{pmatrix} 0 & i \\ i & 0\end{pmatrix}\), \(E=\begin{pmatrix} 1 & 0 \\ 0 & 1\end{pmatrix}\) und bestätigt für diese Matrizen die Gültigkeit der oben angegebenen Beziehungen. Über diese Matrizendarstellung erkennt er, dass man die Rotation von Objekten im Raum mithilfe von Quaternionen beschreiben kann.
Zu den Sätzen, die man im Buch der Beweise findet, gehört auch Cayleys Formel, ein Satz der abzählenden Kombinatorik: Betrachtet werden \(n\) Knoten, die durch \(n-1\) Kanten miteinander verbunden werden. Für die so entstehenden Spannbäume gilt: Es gibt \(n ^{n–2}\) verschiedene Spannbäume auf \(n\) Knoten.
Über die Themen aus verschiedenen Gebieten der Mathematik hinaus verfasst Cayley bedeutende Beiträge zur theoretischen Mechanik sowie zur Störungstheorie in der Astronomie. Auch löst er eine Frage, die im Zusammenhang mit Sonnenfinsternissen entsteht: Welche Kurve beschreibt den Bereich des Mondschattens auf der gekrümmten Erdoberfläche?
1889 wird Cayley von der Cambridge University Press gebeten, seine 967 Abhandlungen (von der Anzahl her mehr als Euler) im Hinblick auf eine Gesamtveröffentlichung zusammenzustellen. In den letzten sechs Lebensjahren kann er sieben von schließlich insgesamt 13 Bänden bearbeiten; sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Cambridge vollendet das Werk. Nach Cayleys Tod versammeln sich Wissenschaftler aus vielen Ländern zu der Trauerfeier in der Trinity Chapel; sogar Mathematiker aus Russland und den Vereinigten Staaten geben ihm die letzte Ehre.
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