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Der Mathematische Monatskalender: Jost Bürgi (1552–1632)

Quasi nebenher erfindet Bürgi eine Methode zum vereinfachten Multiplizieren mit Hilfe von Winkelfunktionen.
Jost Bürgi (1552 – 1632)

Jost Bürgi wächst in Lichtensteig auf, einem 400-Seelen-Dorf im Toggenburg (Kanton St. Gallen). Seit der Reformation ist die Bevölkerung im Ort gespalten, nachdem die Hälfte der Einwohner zum protestantischen Glauben übergetreten ist. In der Dorfschule lernt er Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten.

Welche weitere Ausbildung der wissbegierige Junge im Einzelnen erfährt, nachdem er sein Dorf verlassen hat, und welche Orte er aufgesucht hat, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Dass er im Sommer 1579 als Instrumentenbauer am Hofe des Landgrafs Wilhelm IV von Hessen-Kassel angestellt wird, lässt vermuten, dass er bei hervorragenden Meistern in die Lehre gegangen sein muss. Wilhelm IV (Beiname: der Weise) hatte sich in Kassel ein Observatorium bauen lassen; die Genauigkeit seiner Messungen am Fixsternhimmel braucht den Vergleich mit denen von Tycho Brahe nicht zu scheuen. Er beauftragt Bürgi mit dem Bau von astronomischen Instrumenten, von Sextanten, Himmelsgloben und Präzisionsuhren; denn der Fürst hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, das heliozentrische Modell des Kopernikus nachzuweisen. Bürgi soll ihn bei seinen astronomischen Beobachtungen unterstützen.

1586 teilt Wilhelm IV voller Begeisterung Tycho Brahe mit, dass Bürgi ("ein zweiter Archimedes") eine Uhr in neuartiger Bauweise konstruiert habe, die im Laufe von 24 Stunden um weniger als eine Minute von der tatsächlichen Zeit abweicht. Es handelt sich hierbei um die allererste Uhr, bei der auch Sekunden abgelesen werden können. (Die Zeiteinheit Sekunde als 60stem Teil einer Minute war um das Jahr 1000 vom Universalgelehrten Al-Biruni eingeführt worden. Vom 13. Jahrhundert an wurde sie in Europa als pars minuta secunda (zweiter verminderter Teil) bezeichnet.

Als 1590 der eigens für die astronomischen Berechnungen angestellte Mathematiker Christoph Rothmann das Observatorium verlässt, übernimmt Bürgi diese Arbeit zusätzlich und zeigt auch hier eine außergewöhnliche Begabung.

1591 wird zu einem ereignisreichen Jahr im Leben Bürgis: Er heiratet die Tochter eines Pastors aus einem Nachbarort; die Ehe wird kinderlos bleiben. Als sein Schwiegervater im selben Jahr stirbt, adoptiert Bürgi den 3-jährigen Bruder seiner Ehefrau; der Junge entwickelt sich dank der Schulung durch seinen Adoptivvater zu einem angesehenen Mathematiker und Astronomen.

Im selben Jahr beendet Bürgi seine Arbeit an einer astronomischen Uhr, durch die das kopernikanische System veranschaulicht wird. Dazu hatte er sich in den letzten Jahren intensiv mit einer deutschen Übersetzung (Grazer Handschrift) der Schrift des Kopernikus De revolutionibus orbium coelestium auseinandergesetzt (denn er selbst hatte nie Latein gelernt).

Um schneller Multiplikationen durchführen zu können, wandte er die Methode der Prosthaphaeresis an (prosthesis = Addition, aphaeresis = Subtraktion). Die hierfür benötigten Sinustafeln berechnet er selbst (Canon Sinuum). Mithilfe der Beziehung:

\(\sin(\alpha) \cdot \sin(\beta) = \frac{1}{2} \cdot \left[\cos(\alpha – \beta) – \cos(\alpha + \beta)\right]\)

kann man beispielsweise das Produkt \(0{,}876 \cdot 0{,}439 = 0{,}384564\) erstaunlich genau berechnen: Zu den Werten \(\sin(\alpha) = 0{,}876\) und \( \sin(\beta) = 0{,}439\) gehören die Winkel \(\alpha \approx 61^\circ 9' 48''\) und \( \beta \approx 26^\circ 2' 24''\), also \(\alpha – \beta \approx 35^\circ 7' 24''\) und \(\alpha + \beta \approx 87^\circ 12' 12''\), und weiter:

\(0{,}876 \cdot 0{,}439 \approx \frac{1}{2} \cdot \left[ 0{,}817914 – 0{,}048786\right] = 0{,}384564\).

Die Methode der Prosthaphaeresis, also Produkte mithilfe trigonometrischer Funktionen zu berechnen, war von Johannes Werner (1468 – 1522) entdeckt und unter anderem von Christopher Clavius und von Bürgi weiterentwickelt worden. Der Beweis der oben angeführten Beziehung stammt von Bürgi. Die Formeln waren bereits dem ägyptischen Astronomen Ibn Yunus (951 – 1009) bekannt.

Bürgi gelingt es, die Methode, die er für die Erstellung der Sinus-Tabellen verwendet, geheim zu halten. Johannes Kepler und andere versuchen später vergeblich, aus den Andeutungen in den Schriften seines Schülers Nicolaus Reimers Ursus das Verfahren zu erschließen. Wie wir heute wissen, hat Bürgi im Jahr 1592 ein Werk mit dem Titel Fundamentum Astronomiae an Kaiser Rudolf II übergeben. Diese Schrift wurde 2013 von Menso Folkerts im Archiv der Universitätsbibliothek in Breslau (Wrocław) entdeckt und zugänglich gemacht. Das Werk besteht aus zwei Büchern, wobei der zweite Teil sich ausschließlich mit Berechnungen der ebenen und sphärischen Trigonometrie beschäftigt. Das Buch beginnt mit den Grundrechenarten (einschließlich Wurzelziehen), dem Rechnen im Hexagesimalsystem und der Methode der Prosthaphaeresis. Dann folgt die Erläuterung der Methode, nach der bis dahin üblicherweise die Werte der trigonometrischen Funktionen bestimmt wurden: In regelmäßigen \(n\)-Ecken (\(n\) = 3, 4, 5, 6, 10) kann man die Sinuswerte von 18°, 30°, 36°, 45° und 60° exakt bestimmen und hieraus mithilfe der Halbwinkelformeln und der Additionstheoreme auf eine Folge von Winkeln mit Abstand 1 1⁄2° kommen, durch Näherungsrechnung auch auf einen Abstand von 1°. Nachdem dieser mühsame Weg beschrieben ist, kommt Bürgi auf seine einfachere und angenehmere Methode zu sprechen, die er als Kunstweg bezeichnet.

Am Beispiel einer zu erstellenden Tabelle für die Winkel 0°, 10°, 20°, ..., 90° beginnt er mit ungefähren Näherungswerten (natürliche Zahlen), die im Verhältnis zur letzten Zahl in der äußerst rechten Spalte zu setzen sind, also \(\sin(90^\circ) = \frac{12}{12}\), \(\sin(80^\circ) \approx \frac{11}{12}\),..., \(\sin(10^\circ) \approx \frac{2}{12}\). Dann wird die Hälfte der letzten Zahl in die unterste Zelle der Spalte davor eingetragen, und fortlaufend werden die in der letzten Spalte stehenden Zahlen addiert (im Hexagesimalsystem). Die nächste Spalte davor entsteht dann wiederum dadurch, dass in die oberste Zelle 0 eingetragen wird und fortlaufend die Werte aus der vorletzten Spalte hinzuaddiert werden. Die so entstandenen Zellen enthalten nun erheblich bessere Werte für den Sinus als die zuerst ausgefüllte Spalte. Im Beispiel führt Bürgi fünf Iterationen des Algorithmus durch und erhält so die Sinuswerte mit 6-stelliger Genauigkeit, vergleiche folgende Tabelle, bei der zum Vergleich in der 1. Zeile die exakten Werte aufgelistet sind.

Nach dem Auffinden der verloren gegangenen Schrift konnte von Andreas Thom nachgewiesen werden, dass der Algorithmus tatsächlich hervorragend geeignet ist, die Werte der Sinusfunktion mit beliebiger Genauigkeit zu ermitteln.

Es ist unklar, wie Bürgi auf die Idee zu seinem Algorithmus gekommen ist; offensichtlich hat er mit der Methode experimentiert, durch fortgesetzte Differenzenbildung zugrundeliegende Gesetzmäßigkeiten herauszufinden und nachzubilden.

Bürgis Sinus-Tabelle aus dem Jahr 1592 enthält 5400 Werte (von 0° bis 90° mit Schrittweite 1'). Später fertigt er eine weitere Tabelle an (81 000 Werte von 0° bis 45° mit Schrittweite 2''), die allerdings verloren gegangen ist.

Der Ruf Bürgis als genialer und äußerst präziser Instrumentenbauer dringt auch an den kaiserlichen Hof in Prag. Rudolf II bestellt 1592 über seinen Onkel, den Fürsten Wilhelm IV, bei Bürgi einen mechanischen Globus, auf dem auch die Planetenbewegungen ablesbar sein sollen. Kaum fünf Monate später überreicht er dem Kaiser in einer persönlichen Audienz sein neues Meisterwerk, wenige Wochen später auch die Erläuterungen zur Bedienung dieses Artificiums sowie das Fundamentum Astronomiae.

Nach Kassel zurückgekehrt, erfährt er vom Tod seines Dienstherrn; er kann jedoch seine Arbeit unter gleichen Bedingungen auch unter dessen Sohn Moritz (Beiname: der Gelehrte) fortsetzen. Auf Wunsch des Kaisers, der ihn sogar in den Adelsstand erhebt, übernimmt Bürgi am Ende des Jahres 1604 eine Werkstatt in der Prager Burg. Dort arbeitet er eng mit Johannes Kepler zusammen. Er kehrt aber auch immer wieder an den Hof in Kassel zurück, wo er im Januar 1632 stirbt.

Mit großer Kreativität und äußerster Präzision entwickelte Bürgi im Laufe der Jahre eine Reihe von Hilfsmitteln zum Messen und Zeichnen: Auf sein Triangularinstrument zur Vermessung unzugänglicher Punkte erhielt er sogar ein Patent, während der von ihm erfundene Proportionalzirkel mit verstellbaren Skalen und Nonius überall ohne Lizenz nachgebaut wurde. Mithilfe des Zirkels können zum Beispiel Landkarten vergrößert oder verkleinert werden; es sind auch spezielle Teilungen von Strecken möglich, wie beispielsweise nach dem goldenen Schnitt.

Einige seiner mechanischen Himmelsgloben, Uhren, Sextanten und Armillarsphären können heute noch in Museen in Kassel, Prag, Dresden, Zürich, Paris, Weimar, Wien und Uppsala bewundert werden.

Bürgis Entdeckung der Logarithmen im Jahr 1588 und die von ihm erstellten ersten Logarithmentafeln fanden im Unterschied zu seinen Beiträgen zur Astronomie wenig Beachtung. Einerseits scheute er sich wegen seiner fehlenden Lateinkenntnisse, seine Entdeckungen in Wissenschaftskreisen zu präsentieren, andererseits war er zögerlich wegen der negativen Erfahrungen damit, wie mit seinen Erfindungen umgegangen wurde.

Erst 1620, nachdem Napiers Schriften bereits starke Verbreitung gefunden hatten, ließ er auf Drängen Keplers, der selbst seit 1617 die Napier'schen Logarithmentafeln benutzte, seine Arithmetischen und Geometrischen Progress Tabulen, samt gründlichem Unterricht, wie solche nützlich in allerlei Rechnungen zu gebrauchen werden sol drucken.

Wie in Michael Stifels Schrift Arithmetica integra aus dem Jahr 1544 zeigt Bürgi auf, welche Zusammenhänge zwischen der arithmetischen Folge 0, 1, 2, 3, ... (er erfindet keine eigene Bezeichnung hierfür, sondern nennt sie rote Zahlen, weil sie im Buch in Rot gedruckt sind) und der geometrischen Folge \(2^0\), \(2^1\), \(2^2\), \(2^3\), ... (schwarze Zahlen) bestehen. Da aber die Potenzen zur Basis \(q= 2\) zu schnell wachsen, wählt er als Basis \(q = 1{,}0001\), berechnet dann rekursiv die Folgenglieder mit \(a_{n+1} = a_{n}\cdot 1{,}0001\) und dem großen Startwert \(a_0 = 10^8\) (um Dezimalzahlen zu vermeiden). Im Unterschied zu den später üblichen Tabellen ist Bürgis 58-seitiges Tafelwerk mit insgesamt 23 030 Einträgen eine Antilogarithmen-Tafel, das heißt, am Rand stehen die Logarithmen und man muss im Innern die passenden Numeri suchen, die man für die Rechnung (Multiplizieren, Dividieren, Radizieren) verwenden möchte.

Von Bürgis Logarithmentafeln (mit ausführlichen Erläuterungen und 26 Beispielrechnungen) existiert heute nur noch ein einziges vollständiges Exemplar. Die Veröffentlichung kam zu spät (erst, nachdem die Napier'schen Tafeln verbreitet waren), an einem ungünstigen Ort und zu einem unglücklichen Zeitpunkt: In Prag brach 1618 der Dreißigjährige Krieg aus, in dessen Wirren ein großer Teil der gerade erschienenen Auflage vernichtet wurde.

Jost Bürgi (1552 – 1632)

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