Krebs verstehen: Alkohol als Krebsauslöser
Statistisch gesehen erkrankt fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens an irgendeiner Art von Krebs. Weil man selbst betroffen ist oder eine betroffene Person kennt, geht das Thema damit alle etwas an. Gleichzeitig wissen viele Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen sehr wenig über die Erkrankung. Was passiert dabei im Körper? Warum bekommt nicht jeder Krebs? Und wie individuell läuft eine Krebstherapie eigentlich ab? Diese und weitere Fragen beantwortet die Ärztin Marisa Kurz in ihrer Kolumne »Krebs verstehen«.
Obwohl es schon viele Jahre zurückliegt, erinnere ich mich sehr gut an ein Patientengespräch: Ich war damals noch Medizinstudentin im Praktikum und sprach mit einem Patienten, der an einem bösartigen Tumor im Kopf-Hals-Bereich erkrankt war. Auf meine Frage, wie viel Alkohol er trinke, antwortete er: »Einen Kasten Helles pro Tag.« Das entspricht zehn Litern Bier.
Auch wenn dieser Fall extrem ist, gehört es in der Onkologie zu meinem Arbeitsalltag, Menschen zu behandeln, die viel Alkohol trinken oder getrunken haben. Denn Alkohol erhöht erheblich das Risiko, dass Krebs entsteht. Dazu gehören Leber-, Darm-, Brust- und Speiseröhrenkrebs sowie Tumoren in Mundhöhle, Rachen und Kehlkopf. Magen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sind ebenfalls mit einem erhöhten Alkoholkonsum assoziiert.
Meiner Erfahrung nach wissen die meisten Menschen, dass Alkohol die Leber schädigt. Vielen ist jedoch nicht klar, wie krebserregend er sein kann. In Deutschland lassen sich rund 22 000 Krebsneuerkrankungen pro Jahr auf den Konsum von Alkohol zurückführen. In ganz Europa gab es laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2018 rund 180 000 Krebsfälle durch Alkohol.
Warum Krebs durch Alkohol entsteht
Unterschiedliche Mechanismen führen dazu, dass Alkohol direkt und indirekt das Krebsrisiko erhöht. Wird Alkohol im Körper abgebaut, entstehen Substanzen, die unter anderem das Erbgut in Zellen schädigen und dort Mutationen hervorrufen können. Zu diesen gehören Azetaldehyd und Sauerstoffradikale. Alkoholische Getränke können außerdem weitere Krebs erregende Substanzen wie Nitrosamine oder Kohlenwasserverbindungen enthalten und dafür sorgen, dass die Schleimhäute im Mund schädliche Substanzen leichter aufnehmen.
Alkohol kann vor allem dort schädigen, wo er vorbeifließt: im Mund, dem Rachen, der Speiseröhre, in Magen und Darm. In der Leber, wo er verstoffwechselt wird, kann er zu einer narbigen Gewebeveränderung, der so genannten Zirrhose, führen. Menschen mit Leberzirrhose haben ein deutlich erhöhtes Risiko, Leberkrebs zu entwickeln.
»Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich Menschen mehr vor Zahnpasta oder Deo sorgen als vor dem Krebsrisiko, das von Alkohol ausgeht«
Doch auch an anderen Körperbereichen kann Alkohol die Krebsgefahr steigern. Beispielsweise verändert Alkohol den Hormonhaushalt im Körper, speziell den Östrogen- und Insulinspiegel, was das Brustkrebsrisiko erhöhen kann. Abgesehen davon leiden Menschen, die vermehrt Alkohol trinken, häufig an Mangelernährung und können bestimmte Vitamine wie beispielsweise Folsäure schlechter aufnehmen. Vitamine übernehmen im Körper wichtige Funktionen, etwa als Antioxidanzien, und können vor DNA-Schäden schützen. Alkohol ist außerdem ein Risikofaktor für Übergewicht – mit sieben Kilokalorien pro Gramm hat er fast den gleichen Energiegehalt wie Fett. Und Übergewicht zählt zu den wichtigsten vermeidbaren Risikofaktoren für Krebs.
Wer viel Alkohol trinkt, hat je nach konsumierter Menge ein bis zu fünffach erhöhtes Risiko, Krebs im Bereich der Mundhöhle, des Rachens oder der Speiseröhre zu bekommen. Bei Vieltrinkern ist die Gefahr für Leberkrebs im Gegensatz zur restlichen Bevölkerung in etwa verdoppelt, für Darmkrebs und Brustkrebs ist sie bis zu 1,5-fach gesteigert. Wer zusätzlich zum Alkoholkonsum raucht, hat im Vergleich zu jemandem, der nur trinkt oder nur raucht, ein 30-fach erhöhtes Risiko, dass sich Tumoren in der Mundhöhle, im Rachen, am Kehlkopf oder in der Speiseröhre bilden.
Es gibt keinen unbedenklichen Alkoholkonsum
Weltweit, so berichtet die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), konsumieren Menschen durchschnittlich 5,5 Liter reinen Alkohol pro Jahr. In Deutschland sind es 12,5 Liter. Das hat auch gesellschaftliche Auswirkungen: Die Behandlung von alkoholbedingten Erkrankungen sowie Arbeitsunfähigkeit und Rehabilitation kosten in Deutschland fast 17 Milliarden Euro jährlich; Personen- und Sachschäden sowie Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung kommen auf rund 40 Milliarden Euro.
Im Oktober 2024 hat die DGE neue Empfehlungen zum Alkoholkonsum veröffentlicht (siehe »Am besten null Promille«). Während kleine Mengen früher als unbedenklich eingestuft wurden, heißt es nun: am besten gar keinen Alkohol trinken. Jede noch so kleine Menge ist potenziell gesundheitsschädlich. Damit schließt sich die Gesellschaft internationalen Empfehlungen wie denen der WHO an.
Als risikoarm schätzt die DGE den Konsum von unter 27 Gramm Alkohol pro Woche ein. Ein moderates Risiko sieht sie bei 27 bis 81 Gramm Alkohol pro Woche. Riskanter Alkoholkonsum beginnt bei mehr als 81 Gramm Alkohol pro Woche. Rund 9 bis 23 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben demnach laut DGE einen riskanten Alkoholkonsum.
Wer sein Krebsrisiko senken will, dem empfehle ich, keinen Alkohol oder zumindest möglichst wenig zu trinken. Und für diejenigen, die bereits viel Alkohol getrunken haben, lohnt es sich, den Konsum stark zu reduzieren oder am besten ganz aufzuhören: Das Krebsrisiko sinkt dann wieder. Liegt bereits eine Alkoholabhängigkeit vor, gibt es viele Unterstützungsmöglichkeiten für einen Entzug. Erster Ansprechpartner ist etwa der Hausarzt, außerdem existieren spezielle Suchtberatungsstellen sowie Hotlines und Online-Chats, bei denen man sich von zu Hause aus beraten lassen kann.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich Menschen mehr vor vermeintlich gesundheitsschädlichen Substanzen in Alltagsprodukten wie Zahnpasta oder Deo sorgen als vor dem Krebsrisiko, das von Alkohol ausgeht. Alkohol ist allgegenwärtig; selbst bei beruflichen Abendveranstaltungen in der Medizin erlebe ich, wie ganz selbstverständlich Alkohol serviert wird. Würde das Abbauprodukt von Ethanol – Azetaldehyd – im Supermarktregal stehen, wäre es mit abschreckenden Piktogrammen und Gefahrenhinweisen versehen: »Gesundheitsschädlich bei Verschlucken«, »Kann vermutlich genetische Defekte verursachen« und »Kann Krebs erzeugen« stünde dann darauf. Es wird Zeit, dass wir Alkohol nicht länger als harmlose Gewohnheit betrachten, sondern als das erkennen, was er ist: ein ernst zu nehmendes Gesundheitsrisiko.
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