Freistetters Formelwelt: Präzise seit Urzeiten
Ich freue mich immer, wenn ich an einer Sonnenuhr vorbeikomme. Diese Objekte sind nicht nur meistens ästhetisch sehr ansprechend gestaltet. Man erkennt an ihnen auch gleichzeitig den Einfluss der Astronomie auf unseren Alltag. Es war immer schon die wichtigste Aufgabe der Astronomie, den Überblick über das Vergehen der Zeit zu behalten. Schon lange bevor es mechanische Uhren gab, verwendeten die Menschen die Bewegung der Himmelskörper, um Jahr und Tag einzuteilen. Sie bauten große Strukturen wie Stonehenge oder die fast 7000 Jahre alte Kreisgrabenanlage von Goseck nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch, um damit während des Jahres den Weg der Sonne über den Himmel zu verfolgen.
Später waren es die Astronomen, die mit ihren Beobachtungen die genaue Uhrzeit bestimmen konnten und mit ihrer Arbeit die Grundlage für die Berechnung des Kalenders legten. Für den »Hausgebrauch« gab es vor der Erfindung billiger mechanischer Uhren nur relativ grobe Messgeräte: Wasser- oder Sanduhren, Kerzen mit einer vorab definierten Brenndauer oder eben Sonnenuhren.
Wer allerdings an einer Sonnenuhr vorbeikommt und – gutes Wetter vorausgesetzt – die dort angezeigte Zeit mit der tatsächlichen Uhrzeit vergleicht, wird sich eventuell über eine große Abweichung wundern. Um die beiden Zeitangaben miteinander in Einklang zu bringen, braucht es die so genannte Zeitgleichung:
ZG = WOZ – MOZ
Diese simple Formel beschreibt ein paar sehr fundamentale Eigenschaften von Sonne und Erde. Unsere Uhrzeit basiert auf einer mittleren Ortszeit (MOZ). Das, was die Sonnenuhr misst, ist aber die »Sonnenzeit« beziehungsweise die wahre Ortszeit (WOZ). Diese vergeht nicht gleichmäßig, und das hat zwei wesentliche Ursachen.
Der Zeitraum zwischen zwei Meridiandurchgängen der Sonne wird als Sonnentag bezeichnet. Wir sehen die Sonne auf- und untergehen, weil die Erde sich um ihre Achse dreht; doch die Erde bewegt sich auch um die Sonne herum. Diese Bewegung verändert die Position der Erde in Bezug auf die Sonne und macht eine kleine zusätzliche Drehung der Erde nötig, damit die Sonne wieder im Meridian stehen kann. Die Bahn der Erde ist allerdings auch elliptisch, und wie im zweiten keplerschen Gesetz beschrieben, bewegt sie sich daher ein wenig schneller, wenn sie der Sonne näher kommt, was wiederum eine größere Zusatzdrehung nötig macht.
Vier Tage mit der richtigen Uhrzeit
Im Vergleich zu einer »mittleren Erde«, die sich immer gleich schnell bewegt, vergeht die Sonnenzeit also ein wenig langsamer, wenn sich die Erde in Sonnennähe befindet, und ein wenig schneller, wenn sie weit von ihr entfernt ist. Aber auch die um etwa 23,5 Grad aus der Senkrechten geneigte Erdachse macht eine kleine Zusatzdrehung nötig, um einen Sonnentag vollzumachen. Die Ausrichtung der Achse selbst bleibt zwar mehr oder weniger konstant, aus Sicht der Sonne ändert sich der Winkel jedoch auf Grund der Bahnbewegung der Erde ständig.
Beide Effekte sind im Lauf eines Jahres unterschiedlich stark, und das auf unterschiedliche Art und Weise. Manchmal verstärken sie sich gegenseitig, manchmal gleichen sie sich aus. Die größten Unterschiede gibt es in Herbst und Winter: Am 3. November läuft die wahre Sonnenzeit der mittleren Sonnenzeit um 16 Minuten und 23 Sekunden voraus, am 11. Februar ist sie 14 Minuten und 14 Sekunden zu spät. Nur an vier Tagen, dem 13. April, dem 13. Juni, dem 1. September und dem 25. Dezember, sind wahre und mittlere Sonnenzeit identisch, und die Sonnenuhr zeigt die richtige Zeit an.
Beziehungsweise fast, denn um zu der echten Uhrzeit zu gelangen, die dann auch für die jeweilige Zeitzone passt, müssen noch ein paar weitere Rechnungen durchgeführt werden. Mathematik, Astronomie, Wissenschaftsgeschichte und unser Alltag: All das verbindet sich in den Sonnenuhren und macht sie zu so eindrucksvollen Objekten.
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