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Lexikon der Chemie: Festkörperreaktionen

Festkörperreaktionen, Feststoffreaktionen, chem. Reaktionen, bei denen mindestens ein Reaktand im festen Aggregatzustand vorliegt. Bei F. im engeren Sinne reagieren zwei oder mehrere Feststoffe miteinander, in vielen Fällen sind aber auch flüssige oder gasförmige Phasen am Reaktionsgeschehen beteiligt. Ebenso gehören zu den F. auch Umwandlungsvorgänge eines festen Stoffes ohne Einwirkung weiterer Reaktionspartner.

F. weisen gegenüber anderen chem. Reaktionen eine Reihe von Besonderheiten auf. Diese beruhen vor allem auf der im Vergleich zu flüssigen, gelösten oder gasförmigen Reaktanden meist wesentlich geringeren Reaktionsfähigkeit der Festkörper. Um für F. zu nennenswerten Reaktionsgeschwindigkeiten zu kommen, müssen die an der Reaktion beteiligten Bestandteile des Feststoffes eine hohe Beweglichkeit im Gitter aufweisen. Diese wird meist erst bei relativ hohen Temperaturen erreicht und setzt das Vorhandensein von Kristallbaufehlern voraus.

Die wichtigste Voraussetzung für den Ablauf von F. besteht im Stofftransport durch das Gitter zum Reaktionsort. Seine Phänomene und Mechanismen sowie seine strukturellen Voraussetzungen stehen deshalb im Mittelpunkt festkörperchemischer und -physikalischer Untersuchungen. Eine besondere Bedeutung für den Stofftransport in festen Phasen besitzen Diffusionsvorgänge. Sie laufen hier mit Geschwindigkeiten ab, die um viele Größenordnungen kleiner sind als in Flüssigkeiten oder Gasen. Man unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Diffusionsarten (Abb.). Da im Innern eines Festkörpers ein direkter Platzwechsel von Gitterbausteinen hohe Aktivierungsenergien erfordert und daher sehr unwahrscheinlich ist, spielen für die Volumendiffusion Kristallbaufehler eine entscheidende Rolle. Vor allem Punktdefekte ermöglichen den Stofftransport über Leerstellen und Zwischengitterplätze, aber auch Versetzungen führen zu einer erhöhten Teilchenbeweglichkeit entlang der gestörten Gitterbereiche. Die Korngrenzendiffusion beruht auf der Lockerung des Gitterverbandes im Bereich von Korngrenzen. Bei einer Wanderung von Kristallbausteinen oder auch von adsorbierten Teilchen auf Festkörperoberflächen spricht man von Oberflächendiffusion. Die Diffusionskoeffizienten für die Volumen-, Korngrenzen- und Oberflächendiffusion nehmen in der genannten Reihenfolge beträchtlich zu, oft um einige Zehnerpotenzen. Praktisch hat man es meist mit einer Überlagerung der verschiedenen Diffusionsarten zu tun. Neben der Diffusion spielt für den Stofftransport bei F. der chem. Transport über die Gasphase eine wichtige Rolle (chemische Transportreaktionen).



Festkörperreaktionen. Abb.: Zweidimensionales Schema der Diffusionsmöglichkeiten bei einem polykristallinen Körper.

Eine Einteilung der F. kann nach der Zahl und dem Aggregatzustand der Reaktionsteilnehmer erfolgen. Zu den F. mit nur einer festen Ausgangsphase zählen die Modifikationswechsel fester Stoffe (Polymorphie). Sie unterliegen oft einer Reaktionshemmung, die zur Existenz metastabiler Phasen führt. Eine andere wichtige Gruppe sind die Zersetzungsreaktionen, die meist bei Energiezufuhr nach dem Reaktionsschema Afest → Bfest + Cgasf. ablaufen und sich mit Hilfe thermogravimetrischer Methoden verfolgen lassen. Großtechnisch angewendete Beispiele sind die thermische Zersetzung von Calciumcarbonat bei Temperaturen zwischen 1200 und 1300 K ("Kalkbrennen") und die Darstellung calcinierter Soda aus Natriumhydrogencarbonat. Eine Festkörperreaktion ist auch die photochemische Zerlegung der Silberhalogenide gemäß AgX → Ag + 1/2 X2. Zu den F. mit mehreren Ausgangsphasen zählen zunächst die Reaktionen Festkörper – Gas mit einem festen Reaktionsprodukt. Praktisch bedeutsam sind vor allem die Reduktion von festen Verbindungen, wie Oxiden, Sulfiden u. a., mit Wasserstoff und die Reaktion von Metallen mit verschiedenen Gasen, wie Sauerstoff, Schwefelwasserstoff, Halogenen u. dgl. Dabei kann das feste Reaktionsprodukt eine Deckschicht auf der Ausgangsphase bilden; die Ausbildung von dünnen Schichten wird als Anlaufvorgang, von dickeren Schichten als Zundervorgang (Zundern) bezeichnet. Beide spielen bei Korrosionsvorgängen eine wichtige Rolle. Zu den Reaktionen Festkörper – Flüssigkeit zählen z. B. die Korrosionsvorgänge in flüssigen Medien. Dagegen rechnet man das Auflösen von Kristallen in Flüssigkeiten meist nicht mit zu den F., wenn dabei keine festen Reaktionsprodukte entstehen. Prinzipiell sind zu dieser Gruppe auch die elektrochemischen Prozesse zur Metallgewinnung bzw. -raffination zu zählen.

Die Reaktionen Festkörper – Festkörper erfordern für ihren schnellen Ablauf a) eine entsprechende Vorbehandlung der Reaktionspartner, um sie in einen aktivierten Zustand zu überführen (Tribochemie), b) eine gute Durchmischung der Komponenten, um möglichst große Kontaktflächen zu schaffen (neben dem mechanischen Mischen dienen einer weitgehenden Homogenisierung z. B. die Mischfällung, die Sprühtrocknung sowie das Auftränken einer Komponente in gelöster Form), c) hohe Reaktionstemperaturen. Zu erhöhten Reaktionsgeschwindigkeiten kann man auch gelangen, wenn die F. im Temperaturbereich von Modifikationsumwandlungen der festen Phasen stattfinden (Hedvall-Effekt). Eine Gruppe der Reaktionen Festkörper – Festkörper bilden die additiven F., bei denen aus einfach zusammengesetzten Oxiden, Sulfiden, Halogeniden usw. komplexere Verbindungen entstehen. Ein eingehend untersuchtes Beispiel ist die Bildung des Spinells MgAl2O4 aus Magnesium- und Aluminiumoxid gemäß MgO + Al2O3 → MgAl2O4, für die eine gegenläufige Kationendiffusion als Reaktionsmechanismus nachgewiesen wurde. Andere Beispiele sind Reaktionen zwischen festen Halogeniden (z. B. 2 AgI + HgI2 → Ag2HgI4) und die Silicatbildung gemäß 2 CaO + SiO2 → Ca2SiO4. Als doppelte Umsetzungen oder Austauschreaktionen bezeichnet man F. des Typs AX + BY → AY + BX (A, B Kationen, X, Y Anionen), z. B. die Reaktion BaO + MgCO3 → BaCO3 + MgO. Einem ähnlichen Reaktionsschema folgen Verdrängungsreaktionen, z. B. Pb + 2 AgCl → PbCl2 + 2 Ag.

Im Sinne der eingangs gegebenen Definition zählen chemische Transportreaktionen gleichfalls zu den F.

Die Hauptanwendung der F. liegt gegenwärtig noch auf dem Gebiet der anorganischen Chemie, F. von kristallinen organischen Verbindungen sind zwar schon seit langem bekannt, aber bisher vergleichsweise wenig untersucht und noch ohne größere praktische Anwendungen. Genutzt werden z. B. gitterkontrollierte Reaktionen in bestimmten Bereichen der Polymerchemie, bei denen die bifunktionellen Monomeren im Kristall so gepackt sind, daß die Polymerisation ohne Stofftransport und Zerstörung des Gitters erfolgen kann.

F. haben eine große praktische Bedeutung und werden vor allem immer dann angewendet, wenn aufgrund der Temperaturbeständigkeit der Reaktanden oder aus anderen Gründen ihre Umsetzung nicht in flüssiger Form erfolgen kann. Beispiele sind neben den bereits genannten Verfahren des Kalkbrennens und des Calcinierens von Soda die Herstellung von Zement, zahlreichen silicathaltigen keramischen Erzeugnissen, z. B. Schamotte, Klinker und Porzellan, sowie silicatfreien Keramiken mit speziellen Eigenschaften, z. B. Bariumtitanat BaTiO3 und Ferriten mit Spinellstruktur. Auch bei der Herstellung von Werkstoffen mit Hilfe der Pulvermetallurgie spielen festkörperchemische Aspekte eine Rolle.

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Redaktion:
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