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Lexikon der Chemie: Kristallbaufehler

Kristallbaufehler, Gitterfehler, die Unregelmäßigkeiten und Abweichungen eines Realkristalles vom idealen Gitterbau (Kristall). Bei der Betrachtung der K. sieht man meist sowohl von den Wärmeschwingungen der Gitterbausteine als auch von dem Abbruch der periodischen Anordnung durch die Kristalloberfläche ab. Die K. werden dann auch als Fehlordnung des Realkristalles bezeichnet.

Die Einteilung der K. erfolgt meist nach der Größe ihrer Wirkungsbereiche. Allgemein unterscheidet man zwischen makroskopischen und mikroskopischen K.

1) Makroskopische K. Ihre lineare Ausdehnung ist größer als 10-5 cm, sie können deshalb mit dem unbewaffneten Auge oder mit dem Lichtmikroskop wahrgenommen werden. Zu den makroskopischen K. zählen grobe Störungen, beispielsweise Risse, Sprünge, Spalten, oder auch innere Hohlräume und artfremde Einschlüsse.

2) Mikroskopische K. (korrekter submikroskopische K.). Ihre linearen Abmessungen liegen unterhalb 10-5 cm und reichen bis in den atomaren Bereich. Mikroskopische K. werden weiter unterteilt in strukturelle und chemische K.

a) Für strukturelle K. ist eine Klassifikation nach geometrischen Gesichtspunkten üblich. Man teilt sie ein nach der Anzahl der Dimensionen, in denen ihre Ausdehnung größer als atomar ist.

Als die beiden Grenzfälle nulldimensionaler K. (Punktdefekte) können Leerstellen (Gitterlücken) auftreten, d. h. reguläre Gitterplätze, die nicht mit Kristallbausteinen besetzt sind, sowie Zwischengitterplatzbesetzungen, d. h. Kristallbausteine auf "falschen" Plätzen zwischen den regulären Gitterpositionen. Beide bewirken in ihrer näheren Umgebung eine elastische Deformation des Gitters. Frenkel-Defekte entstehen, wenn Bausteine ihren Gitterplatz verlassen und sich auf Zwischengitterplätze begeben. Die Frenkel-Fehlordnung setzt sich deshalb aus einer gleichen Anzahl von Leerstellen und Zwischengitterplatzbesetzungen zusammen und ist in Ionenkristallen meist nur für die in der Regel kleineren Kationen möglich (Abb. 1a). Schottky-Defekte entstehen durch die Wanderung von Bausteinen aus dem Inneren des Kristalles an seine Oberfläche; sie bestehen deshalb nur aus Leerstellen, die bei Ionenkristallen paarweise im Kationen- und Anionenteilgitter auftreten (Abb. 1b). Möglich, wenn auch weniger häufig, ist das Auftreten von Anti-Frenkel-Defekten (Anionen auf Zwischengitterplätzen und Leerstellen im Anionenteilgitter) und von Anti-Schottky-Defekten (Kationen und Anionen auf Zwischengitterplätzen).

Punktdefekte sind völlig statistisch im Gitter verteilt und befinden sich im thermischen Gleichgewicht. Ihre Gleichgewichtskonzentrationen sind bei tiefen Temperaturen sehr gering, nehmen aber bei höheren Temperaturen recht beträchtliche Werte an (in 1 cm3 eines Kristalles mit etwa 1024 Gitterplätzen sind im Gleichgewicht bei Zimmertemperatur etwa 1010, bei 575 K etwa 1016 und bei 1275 K etwa 1019 Punktdefekte enthalten).



Kristallbaufehler. Abb. 1: Frenkel-Defekte (a) und Schottky-Defekte (b) in einem Ionenkristall (schematisch).

Eindimensionale K. (Liniendefekte) erstrecken sich längs offener oder geschlossener Linien im Kristall. Zu ihnen zählen die Versetzungen, die aufgrund von Nichtgleichgewichtsvorgängen (z. B. durch mechanische Beanspruchung) entstehen. Bei einer Stufenversetzung sind zwei Kristallteile in der Größenordnung einer Gittertranslation gegeneinander verschoben (Einschub einer Netzebene, bei dem Symbol ⊥ gibt der senkrechte Strich die eingeschobene Netzebene, der waagerechte Strich die Verschiebungsrichtung an), sie kann unter der Wirkung einer Schubspannung durch den Kristall hindurchwandern und an seiner Oberfläche als Stufe wieder austreten (Abb. 2). Bei der Schraubenversetzung wird ein Gitterteil kontinuierlich gegen das benachbarte abgesenkt, als Folge dieser Gitterdeformation bilden die Netzebenen eine Art Spirale um die Schraubenachse (Abb. 3).



Kristallbaufehler. Abb. 2: Entstehung und Wanderung einer Stufenversetzung.



Kristallbaufehler. Abb. 3: Schraubenversetzung.

Als wichtigste zweidimensionale K. (Flächendefekte) sind Stapelfehler, Korngrenzen und Zwillingsebenen zu nennen. Als Stapelfehler bezeichnet man Störungen in der normalen Schichtenfolge beim Aufbau einer Kristallstruktur (Polytypie). Eine Korngrenze ist als Grenzfläche zwischen zwei Kristallbereichen unterschiedlicher Orientierung des gleichen Materials definiert. Fast alle Kristalle weisen eine Mosaiktextur auf, d. h. sie bestehen aus einer großen Zahl von gegeneinander um geringe Winkelbeträge (wenige Winkelsekunden) verkippten Kristallblöckchen mit linearen Abmessungen von etwa 10-5 cm. Den stetigen Übergang zwischen zwei Mosaikblöckchen vermittelt eine Kleinwinkelkorngrenze, die auf eine Reihe von Versetzungen zurückgeführt werden kann (Abb. 4).

Zwillingsebenen treten infolge gesetzmäßiger Verwachsungen von Kristallen gleicher Art auf. Sie können auf verschiedene Weise entstehen, unter anderem während des Kristallwachstums (Wachstumszwillinge) und durch mechanische Beanspruchung (Deformationszwillinge).



Kristallbaufehler. Abb. 4: Aus Stufenversetzungen aufgebaute Kleinwinkelkorngrenze.

Die strukturellen K. bestimmen entscheidend die störungsempfindlichen Kristalleigenschaften (Kristall) und beeinflussen solche Erscheinungen und Vorgänge wie das Kristallwachstum, die katalytische Aktivität, die Diffusion, den Ablauf von Festkörperreaktionen u. a.

b) Chemische K. beruhen auf der Anwesenheit von Fremdsubstanzen im Kristall. Da der Gehalt an Verunreinigungen auch mit sehr großem Aufwand kaum unter 10-8 Masse-% gesenkt werden kann, sind chem. K. stets vorhanden. Im Fall der Halbleiterkristalle sind Fremdbeimengungen geringerer Konzentration sogar beabsichtigt (Dotierung). Dabei besetzen die artfremden Bausteine normale Gitterplätze und erzeugen so Substitutionsstörstellen. Bei Einbau größerer Mengen der Fremdkomponente in das Kristallgitter entsteht ein Mischkristall. Das Auftreten von Nichtstöchiometrie (Berthollide) bei kristallinen Stoffen mit ionogener bzw. ionogen-kovalenter Bindung beruht in vielen Fällen auf einer chem. Fehlordnung. So sind im Gitter des Eisen(II)-oxids mit der Formel Fe0,90 ... 0,95O (Wüstit-Phase) einzelne Fe2+-Gitterplätze nicht besetzt, dieses Kationendefizit wird zur Aufrechterhaltung der Elektroneutralität durch den Einbau von Fe3+-Ionen kompensiert (Abb. 5).



Kristallbaufehler. Abb. 5: Chem. Fehlordnung in Eisen(II)-oxid.

Die chem. K. verändern bestimmte Kristalleigenschaften (z. B. elektrische Leitfähigkeit, optische Absorption) in entscheidendem Maße und werden deshalb durch spezielle Methoden der Kristallzüchtung angestrebt.

  • Die Autoren
Dr. Andrea Acker, Leipzig
Prof. Dr. Heinrich Bremer, Berlin
Prof. Dr. Walter Dannecker, Hamburg
Prof. Dr. Hans-Günther Däßler, Freital
Dr. Claus-Stefan Dreier, Hamburg
Dr. Ulrich H. Engelhardt, Braunschweig
Dr. Andreas Fath, Heidelberg
Dr. Lutz-Karsten Finze, Großenhain-Weßnitz
Dr. Rudolf Friedemann, Halle
Dr. Sandra Grande, Heidelberg
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Dr. Günter Kraus, Halle
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Dr. Ralf Trapp, Wassenaar, NL
Dr. Martina Venschott, Hannover
Prof. Dr. Rainer Vulpius, Freiberg
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Fachkoordination:
Hans-Dieter Jakubke, Ruth Karcher

Redaktion:
Sabine Bartels, Ruth Karcher, Sonja Nagel


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