Lexikon der Geographie: Industriearchäologie
Industriearchäologie
Frank Norbert Nagel, Hamburg
Industriearchäologie ist eine junge interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Erfassung, Bewertung, teilweise auch Umnutzung von aufgelassenen Gebäuden und Flächen aus Bergbau, Industrie, Verkehr und Versorgung beschäftigt. Der Begriff wurde erstmals in einer portugiesischen Veröffentlichung zum Thema Windmühlen benutzt (1896). Außerdem gab es frühe wissenschaftliche Beschäftigungen (Anfang des 20. Jh.) mit der "Bergbauarchäologie" (heute "Montanarchäologie"), die ein wichtiger Teilbereich der Industriearchäologie ist. Der entscheidende jüngere Anstoß für die Etablierung und die Ausformung von Inhalt und Methodik der Industriearchäologie kam aus Großbritannien, wo der Begriff "industrial archaeology" im Jahre 1955 publiziert wurde. Bald interessierte sich eine breite Öffentlichkeit für die technischen Monumente und Landschaftsrelikte früherer Epochen, die durch die hektische Nachkriegsentwicklung immer schneller zu verschwinden drohten. Im Jahre 1959 etablierte der "Council for British Archaeology" (CBA) ein Forschungskomitee, welches in Zusammenarbeit mit der Universität Bath Kartierschlüssel für die Erfassung der industriearchäologischen Objekte entwickelte. Insbesondere die Amateure machten sich nun in ganz England auf Entdeckungsjagd und füllten Erhebungsbögen aus ("recording"). Ein ähnliches Vorhaben zur Erstellung eines Kulturlandschaftskatasters insbesondere durch interessierte Laien existiert seit 1999 in Schleswig-Holstein. Der erste internationale Kongreß zum Thema Industriearchäologie fand 1973 in Ironbridge/Shropshire statt Auf dem dritten internationalen Kongress in Stockholm 1978 wurde unter dem Druck immer wieder aufflammender Diskussionen um die Begriffe Industriearchäologie, Technische Monumente oder Industrieerbe der Name der bis heute bedeutsamen und regelmäßig tagenden internationalen Vereinigung auf TICCIH festgelegt ("The International Committee for the Conservation of the Industrial Heritage"). In der Folge konnte die Industriearchäologie sich zu einer Fachdisziplin entwickeln, die von Universitätsmitgliedern und Museumswissenschaftlern in aller Welt betrieben wird. Dem unterschiedlichen Fachhintergrund der einzelnen Forscher entsprechend sind Inhalt und Wortbedeutung von Industriearchäologie relativ offen. So kann sie beim Fach Archäologie verankert sein, bedeutet jedoch für Nichtarchäologen keine Unterordnung in dieses Fachgebiet, sondern eher eine "Historische Industrieentwicklung mit Umbruchskomponenten" bzw. eine "Untersuchung aufgelassener (Industrie-)elemente". Grabungen am Untersuchungsobjekt können notwendig sein, sind aber durchaus nicht die Regel. Mit "Industrie" wiederum ist nicht nur die Betrachtung dieses, wenngleich zentralen Wirtschaftssektors gemeint, vielmehr sollen alle Daseinsbereiche des siedelnden und wirtschaftenden Menschen abgedeckt werden, die sich infolge von technischen Weiterentwicklungen oder Rückschritten phasenhaft in der soziokulturellen und kulturlandschaftlichen Entwicklung widerspiegeln. Neben der Industrie gehören dazu z.B. auch bestimmte Elemente aus dem ländlichen Raum, wie Be- und Entwässerungseinrichtungen, Mühlen, Silos, besondere Wirtschaftsgebäude etc. Zur inhaltlich-thematischen Organisation der Industriearchäologie zählen also folgende Bereiche: Agrarsektor; Bergbau, Steine, Erden; Industrie (Metallverarbeitende Industrie, Textilindustrie u.a.); Energie; Verkehr; Freizeit; gemeinschaftliche und öffentliche Versorgung (Wasser, Werkswohnungen u.a.). Die Forschung widmet sich in der Regel ausgewählten thematischen Bereichen, Teilbereichen oder Einzelobjekten. Die Erfassung, Erklärung und Weiterentwicklung der gesamten industriell geprägten Kulturlandschaft größerer Regionen ist erst allmählich zu einem wichtigen Thema der Industriearchäologie geworden. (altindustrialisierte Regionen im Umbruch, Bergbaufolgelandschaften, insbesondere des Braunkohletagebaus).
Der klassische Ansatz der Industriearchäologie, vor allem von Seiten der Technikgeschichte, sieht im Technischen Denkmal (Denkmal im Sinne einer "industriellen Leistung", eines Objekts) den Mittelpunkt der Betrachtung. Zur Datenerhebung gehört hier vor allem die Dokumentation von Industriegeschichte sowie des Arbeitsplatzes (Archiv- und Geländearbeit), der Produkte oder der Arbeiterbewegung (Archivarbeit). Auf interdisziplinäre Forschung wird Wert gelegt, so werden neben Ökonomie auch Kunst, Geologie und Geographie und andere "Kultur- und Umwelteinflüsse", die das Technische Denkmal ausgeprägt haben, berücksichtigt. Der geographische Ansatz ist teilweise ähnlich, indem er ebenfalls entscheidende Entwicklungs- und Umbruchsphasen in Wirtschaft und Siedlung heraus arbeitet und die einzelnen Elemente, die zusammen die Kulturlandschaft bilden, erfasst, typisiert und bewertet. Der rein technikorientierte Ansatz tritt hier natur- und fachgemäß entsprechend zurück, er ist aber für die Erklärung des Kulturlandschaftwandels in bestimmtem Umfang vonnöten und bisher zu wenig berücksichtigt worden. Insofern ergänzen sich Industriearchäologie und historisch-genetische Kulturlandschaftsforschung in idealer Weise. Das in Abbildung 1 dargestellte Schema zeigt diese Verknüpfungen und Wechselbeziehungen auf. Unter kulturgeographischem Ansatz wird das Technische Denkmal zum Kulturlandschaftselement und als Entwicklungsfaktor des Kulturlandschaftswandels gewertet und interpretiert. Dabei kann die Kulturlandschaftsforschung dann als Dachorganisation gesehen werden, die sich der Industriearchäologie bedient, an diese aber auch methodische und sachliche Erkenntnisse weitergibt, die wiederum von Dritten, insbesondere Einrichtungen aus Praxis und Öffentlichkeit, angewendet werden können. Was nun den zeitlichen Rahmen der Industriearchäologie betrifft, so standen ursprünglich in England die Zeugnisse der "Early Industrial Revolution" im Mittelpunkt der Untersuchung. Dazu gehören vor allem frühe Dampfmaschinen (Erfindung der Newcomen'schen Dampfmaschine (1711/12) und ihr Einsatz in den Minen von Cornwall sowie die erste Verwendung von Koks im Hochofen des Abraham Darby in Coalbrookdale/Shropshire (1709), dem die Produktion von Gusseisen und Errichtung der weltweit ersten gusseisernen Brücke, der "Ironbridge" (1779), folgten. Bald dehnte sich die Untersuchungsspanne der Industriearchäologie bis in die Gegenwart aus, wozu insbesondere die seit den 1960er-Jahren rapide zunehmenden Stilllegungen von Eisenbahnstrecken beitrugen.
Uneinheitlicher ist die Meinung, wie weit die Industriearchäologie in die Vergangenheit zurückreichen sollte. Je weiter zurück, desto stärker sind die Ansprüche der Archäologie, aber auch der Technikgeschichte (Bergbau) auf ihr ureigenstes Terrain. Klar ist dennoch, dass eine starre Fixierung nicht in Frage kommen kann, da jeder Teilbereich der Industriearchäologie eine andere Entwicklung aufweist. So muss insbesondere beim Bergbau häufig eine jahrtausendelange Entwicklung berücksichtigt werden, und auch bei Einrichtungen der Wasserversorgung oder bei Mühlen ist die Einordnung des jeweilig vorliegenden Typs ohne Kenntnis der Entwicklung in Antike und Mittelalter, den typischen Vorläuferepochen technischer Entwicklung, ziemlich unmöglich. So kann man z.B. an Relikten des Aquädukts und der Kornmühlen von Barbegal (Provence), die zu Römerzeiten Arles mit Mehl versorgten, feststellen, dass die Römer schon einen Vorläufer des Betons erfunden hatten. Bei der Untersuchung von Kanälen und Schleusen muss mindestens bis zum Mittelalter zurückgegangen werden (Stecknitz-Kanal, Schleswig-Holstein, 1398), beim Eisenbahnwesen erscheint die Phase der Industriellen Revolution als Einstieg angebracht. Vorläufer von Fahrzeugen auf Holzschienen, insbesondere im Bergbau, gab es aber auch hier schon.
Entwicklung und Rezeption des Begriffes der Industriearchäologie unterlagen weltweit gewissen Modifikationen. Zunächst einmal wurde die Industriearchäologie schon früh nicht nur für die forschende Tätigkeit, sondern auch für die Objekte selbst sowie für die Abhandlung dieser Objekte und ihrer Museen in regional orientierter Literatur verwendet. Im Laufe der Zeit ist die Verbindung von Industriearchäologie und Tourismus immer stärker geworden, sodass auch andere eingängigere Begriffe gewählt wurden, um aufgelassene Objekte – in der Geographie auch als Gewerbe-, Industrie- oder Verkehrswüstung (Wüstung) bezeichnet – besser vermarkten zu können. Hier hat sich in Deutschland vor allem der Begriff Industriekultur etabliert. Er wird zwar häufig synonym mit Industriearchäologie gebraucht oder gar als Ersatz angesehen, kann dies aber nicht leisten, da er weder de facto noch im Wortinhalt die bisherige interdisziplinäre und forschende Tätigkeit mit beinhaltet. Der Begriff Industriekultur vermag jedoch ein traditionell eher negatives Regionalimage offensichtlich noch positiver zu beeinflussen als der Begriff Industriearchäologie. Unter Industriekultur ist ein kulturell aufbereitetes Angebot von Industrie-Objekten und damit verbundenen Events zu verstehen (400 km lange "Route der Industriekultur" im Ruhrgebiet). Beide Begriffe haben demnach ihre Berechtigung, sie sollten aber klar voneinander getrennt bleiben. Besser lässt sich Industriearchäologie, zumindest auf die Objekte bezogen, mit "Industrielles (Kultur-)erbe" gleich setzen. Damit wird, ähnlich wie beim "Technischen Denkmal", dem Objekt schon rein begrifflich eine gewisse Bedeutung zugewiesen. Der Begriff Kulturerbe ist bekannt im Zusammenhang mit der UNESCO-Welterbe-Liste, auf der auch einige Technische Denkmäler bzw. Objekte industriearchäologischer Forschung stehen, z.B. Ironbridge Gorge (Museumstal in Shropshire, seit 1986), in Deutschland der Rammelsberg und die Altstadt von Goslar (1992) sowie die ehemalige Völklinger Hütte (1994), in Frankreich der Canal du Midi (1996), in Österreich die Semmering-Eisenbahn (1998). Auf der Anwärterschaftsliste für Deutschland befinden sich drei weitere Objekt der Montanarchäologie, darunter das denkmalgeschützte "Oberharzer Wasserregal", ein ausgedehntes Ensemble von ehemals 120 Teichen und 600 km Zuleitungsgräben und Dämmen für die Wasser-Energie-Versorgung der historischen Bergwerke im Raume Clausthal-Zellerfeld/Torfhaus/St. Andreasberg. Die damals größte Talsperre Deutschlands wurde 1715-22 im Harz für den Bergbau in St. Andreasberg angelegt. Von den 1992 neu aufgestellten Obelisken ( Abb. 2) sind vier Originale. Sie sollten als Eisbrecher eine Blockierung der Ausflut verhindern.
Die Notwendigkeit einer Erforschung und Erfassung der industriellen Kulturlandschaft und ihrer Elemente wird allseits erkannt und auch vom Gesetzgeber gefordert. Ein einheitliches Kulturlandschaftskataster, möglichst unter Einbeziehung der Denkmalämter, bleibt daher auch als Grundlage für die Umweltverträglichkeitsprüfung ein Desiderat. Kenntnisstand über Anzahl, Typ und Bewertung von technischen Denkmälern und historischen Kulturlandschaftselementen ist bislang von Bundesland zu Bundesland auch innerhalb Deutschlands sehr unterschiedlich.
Als Vorbild kann das flächendeckende "Inventar historischer Verkehrswege der Schweiz" (IVS) dienen.
Lit:
[1] NAGEL, F.N. (1999): Kulturlandschaftsforschung und Industriearchäologie. Inhalte, Methodik, Anwendung. In: Zur Kulturgeographie und Industriearchäologie in Norddeutschland. Freie Lauenburgische Akademie, Beiträge f. Wiss. u. Kultur, 4, 9-25.
[2] SLOTTA, R. (1982): Einführung in die Industriearchäologie. – Darmstadt.
Industriearchäologie 1: Industriearchäologie 1: Arbeits- und Einflussfelder von Kulturlandschaftsforschung und Industriearchäologie.
Industriearchäologie 2: Industriearchäologie 2: Granitobelisken am Oderteich (Harz).
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