Lexikon der Geographie: Kultur
Kultur, häufig als begrifflicher Gegenpart zu Natur verwendet. Dabei bezeichnet Natur meistens das vom Menschen unberührt Gebliebene (z.B. Wildnis), Kultur dagegen die Summe der Veränderungen der Natur durch den Menschen (z.B. Kulturlandschaft). In dieser Betrachtungsweise umfasst Kultur nur vom Menschen geschaffene Dinge (Artefakte), die als solche innerhalb der Forschung beschrieben werden können. Entgegen dieser Definition, die allein eine Beschreibung kultureller Güter zulässt, stehen erklärende (Erklärung) und verstehende (Verstehen) Ansätze, die das "Wie" der Umformung von Natur als dynamischen Prozess in den Mittelpunkt der Kulturforschung stellen. Kultur kann in diesem Verständnis im Sinne der Handlungstheorie begrifflich als Ergebnis vergangenen und als Bedingung künftigen sozialen Handelns eingegrenzt werden; in einer genaueren Festlegung als die Gesamtheit der bewerteten und bewertenden Handlungsweisen der Mitglieder einer Gesellschaft sowie deren Ergebnisse. Hier ist Kultur weder nur materiell als Summe von Artefakten, noch nur abstrakt als Wertsystem aufzufassen. Jedes Artefakt ist vielmehr nur dann zu verstehen und zu deuten, wenn wir den Sinn, den menschliches Handeln der Herstellung ihm verlieh, kennen bzw. wenn wir seinen Verwendungszweck erfahren haben. Erklären und Verstehen von Kultur(en) setzt also die Kenntnis beider Aspekte voraus.
Handlungsweisen sind von Handlungsmustern bestimmt und können von außen beobachtbar als Sitten, Bräuche, soziale Gewohnheiten auftreten oder als gedankliche Orientierungsmuster bestehen. Diesen Handlungsmustern liegen kulturspezifische Werte, Normen, Ideale und Ideen zugrunde. Der größte Teil der Gesellschaftsmitglieder einer Kultur bezieht sich bewusst, weniger bewusst oder unbewusst auf sie, womit sie die entscheidenden Integrationselemente einer Kultur sind. Vor allem die gleiche Beurteilung zentraler Werte wie Gerechtigkeit, Menschenrechte, Freundschaft usw. ermöglichen den sozialen Konsens (oder er scheitert gerade an ihnen). Die Art der Wertorientierung (Verbindung von Werten und Handeln) ist dann schließlich auch das Kriterium, über welches sich Kulturen differenziert voneinander beschreiben lassen, wobei "Grenzen" von Kulturen immer fließend bleiben. Von einer Kultur spricht man insbesondere dann, wenn Handlungsmuster und entsprechende Institutionen bzw. ihre Werte, Normen, Ideale und Ideen in sich relativ geschlossen und gegenseitig aufeinander abgestimmt auftreten. Da jede Kultur als Lebensform nur im Bewusstsein, Unbewussten und Unterbewusstsein ihrer Träger, den sozialkulturell geprägten Personen, besteht, muss sie jede Generation immer wieder neu lernen und weitergeben, tradieren. Dafür kennt jede Gesellschaft ihre spezifischen Einrichtungen zur Sozialisation bzw. Enkulturation. Trotz aller Standardisierung des Handelns in Traditionen und Institutionen bleibt jede Kultur immer einem interpretativen Prozess durch den Akteur unterworfen. Aus diesen Gründen ist Kultur auch immer ein dynamisches Phänomen, das ständig im Wandel begriffen ist; allerdings mit jeweils unterschiedlichen Graden von Dynamik, der Konfliktintensität und Strategien der Konfliktregelung sowie unterschiedlichen Zeiträumen des Wandels.
Die sogenannte "materielle Kultur" (mobile und immobile Artefakte) kann in diesem Sinne keineswegs losgelöst von der "immateriellen Kultur" (Handlungsmuster) analysiert werden, denn Erstere ist immer das Produkt sinnhaften Handelns, das seinerseits eine Interpretation "immaterieller Kultur" darstellt. "Materielle Kultur" ist also ein objektiver Ausdruck von spezifischen Werten, Handlungsmustern und Institutionen, die das Handeln mit einer bestimmten Sinngebung versehen. In dieser Optik ist beispielsweise die Kulturlandschaft als das Ergebnis kulturspezifischen sinnhaften Handelns zu begreifen.
Kultur ist also in handlungstheoretischer Sicht keinesfalls etwas, das eine Gesellschaft nicht "haben" kann, wie das noch des öftern in dem von einem antiquierten Zivilisationsbegriff geprägten Kulturverständnis anzutreffen ist. Jede Gesellschaft ist Trägerin einer Kultur und nicht nur bestimmte Fertigkeiten (etwa solche, die eine längere Ausbildung verlangen oder besonders musisch sind), sondern alle Handlungsweisen und -muster sind Ausdruck, sind Reproduktion einer bestimmten Kultur.
BW
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