Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Otto Weininger
Geb. 3.4.1880 in Wien; gest. 4.10.1903 ebenda
W. als Denker des Judentums zu verstehen, hat einen durchaus tragischen Aspekt. Er liegt nicht nur im Selbstmord, durch den der 23jährige seinem Leben ein frühes Ende setzte, sondern auch in dem denkbar polemischen Begriff des Judentums, den er in seinem ebenso umstrittenen wie wirkungsmächtigen Buch Geschlecht und Charakter (1903) entwickelte, dessen berühmt gewordenen, eklatanten Antifeminismus und Antisemitismus er selbst unter das schwierige Vorzeichen des »Selbsthasses« brachte.
W. war der Sohn des bekannten, assimilierten Goldschmiedes Leopold Weininger Er studierte seit Oktober 1898 an der Wiener Universität hauptsächlich Philosophie und Psychologie, daneben aber auch Zoologie, Botanik und Medizin. In seinem der Dissertation – eben Geschlecht und Charakter – beigefügten Lebenslauf vom 9. Juni 1902 schreibt er: »Was meinen Studiengang in meinem Hauptfache anlangt, habe ich nur anzuführen, daß ich mit dreizehn Jahren über philosophische und kosmologische Dinge nachzudenken anfing. Am meisten Einfluß haben auf mich in psychologischer Beziehung die ›biologische Methode‹ in Avenarius’ ›Kritik der reizenden Erfahrung‹ ausgeübt, in philosophischer Beziehung die praktische Philosophie von Nietzsche und Kant.« In der Tat läßt sich sagen, daß sich W.s typologischer Blick auf die Differenz der Geschlechter, die auch sein polemisches Verständnis des Judentums leitet, aus einer Kombination von psychologischen und philosophischen Perspektiven ergibt. Die Ausgangslage bei Richard Avenarius’ metaphysikkritischem Empiriokritizismus in der Folge von Ernst Mach revidierte W. Anfang 1902, indem er zu einer typologisierenden, letztlich wieder metaphysischen, wenn nicht gar platonischen Unterscheidung zwischen einem männlichen (»M«) und einem weiblichen Prinzip (»W«) gelangte. Sie ist die Grundlage von W.s biologistisch gedachter, geradezu fatalistischer Charakterologie. Allerdings versteht er die Differenz zwischen »W« und »M« nicht absolut, sondern vielmehr dialektisch, indem sie in jedem Individuum in einem spezifischen Mischungsverhältnis auftritt. Das theoretische Zentrum von W.s Geschlecht und Charakter besteht damit im Theorem der Bisexualität. Es leitet die Arbeit, die W. im Juli 1902 dem bekannten Wiener Philosophieprofessor Friedrich Jodl vorlegte und die dieser mit wenigen Vorbehalten gegenüber der krassen antifeministischen Tendenz angenommen hatte. In der Tat liegt das Provozierende von W.s Dissertation nicht so sehr in seiner halb wissenschaftlichen, halb spekulativen Lehre der Bisexualität, sondern vielmehr in seiner polemischen Wertung, ja Moralisierung: Dem unproduktiven, sexualisierten und amoralischen Typus »Weib« stellt er den schöpferischen, intellektuellen und moralischen Typus »Mann« entgegen, dergestalt, daß noch »das höchststehende Weib […] unendlich tief unter dem tiefstehenden Manne« steht, so W.s Disqualifizierung des Typus W. Dabei versteht er seine biologistischantifeministische Ethik, die auch an Paul Julius Möbius’ Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) anschließt, als eine Art Neukantianismus, genauer als letzte Konsequenz aus Kants Sittenlehre, indem er die weibliche Sexualität letztlich deshalb als unmoralisch zurückweist, weil diese den männlichen Partner immer nur als Mittel instrumentalisiert, nie aber als Selbstzweck achtet. Deshalb ergibt sich daraus für W. nicht nur die Verweigerung des Geschlechtsaktes durch den Mann, sondern auch eine Antwort auf die »Frauenfrage«, wobei er dem Weiblichen jede Emanzipations- bzw. Gesellschaftsfähigkeit abspricht.
Im Vergleich zur gedruckten Arbeit vom Juni 1903 ist die ungedruckte Fassung vom Juni 1902 jedoch noch moderat. Dem als Dissertation eingereichten Text fügt W. zwischen Herbst 1902 und Frühjahr 1903 die anstößigsten Kapitel erst noch hinzu: »Erotik und Ästhetik«, »Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum«, »Das Weib und die Menschheit« – und vor allem: »Das Judentum«. Kurz vor dieser Zuspitzung des Antifeminismus und seiner Übertragung auf das Judentum, am 21. Juni 1902, tritt W. zum Protestantismus über. Zuvor hatte ihn sein Vater vor diesem Schritt gewarnt, mit dem Verdacht, er tue dies bloß aus »materiellen Interessen«. In der Tat aber bedeutet W.s Konversion der Weg in die »geistige Nation« Kants, indem er im Protestantismus nicht nur die eigene jüdische Herkunft zurückweist, sondern auch die naheliegendere österreichische »Staatsreligion«, nämlich den Katholizismus. Im Kapitel »Das Judentum« wird jedoch noch ein weiterer Aspekt der Konversion deutlich, der mitten in das Programm des »Selbsthasses« weist: W. greift Richard Wagners Interpretation der jüdischen Moderne in dessen Schrift Das Judentum in der Musik (1850) auf, der als Bedingung der Integration der Juden nichts weniger als ihren »Untergang« forderte: »Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Juden zu sein.« Eben diesen »Untergang« fordert auch W. als erste Stufe einer »Neugeburt« der Juden als Menschen bzw. Christen. Damit erklärt W. den »Selbsthaß« zu einem konstitutiven Element seit Christus, der zum Prototyp eines programmatischen jüdischen Antisemitismus wird, indem er seine jüdische, amoralische Existenz förmlich abtötet und in einer christlichen, moralischen aufersteht. Es ist dies die Denkfigur, die nicht nur W.s Konversion, sondern letztlich auch seinen Selbstmord begründet.
Dieser für das Judentum vernichtenden Forderung liegt die Applikation des Antifeminismus auf das Judentum zugrunde: Dem Antifeminismus entspricht nach W. auf einer völkerpsychologischen Ebene der Antisemitismus. Das Judentum wird so in seine typologische Geschlechterpsychologie integriert, indem es der Weiblichkeit zugerechnet wird, das Christentum dagegen der Männlichkeit: »Es bereitet jedem, der über beide, über das Weib und über den Juden, nachgedacht hat, eine eigentümliche Überraschung, wenn er wahrnimmt, in welchem Maße gerade das Judentum durchtränkt scheint von jener Weiblichkeit.« Der Hinweis auf die Vorgänger in dieser Koppelung von Antifeminismus und Antisemitismus ist leicht mit Namen von Tertullian bis Schopenhauer und Houston Stewart Chamberlain zu belegen, und damit wird deutlich, daß W. durchaus ein zirkulierendes Stereotyp aufgreift, um dieses dann dem Anspruch nach wissenschaftlich, in der Umsetzung freilich hochgradig spekulativ zu reformulieren. So werden bei W. die Juden zum Inbegriff des negativen, weiblichen Charaktertypus: Sie sind amoralisch, materialistisch und sexuell fixiert, sie haben keine eigene Persönlichkeit, keine Seele und keine Idee der Unsterblichkeit. In W.s neo-romantischer Kulturkritik wird das Judentum damit zum Negativbild der Moderne schlechthin: »Unsere heutige Zeit läßt das Judentum auf der höchsten Höhe erblicken, die es seit den Tagen des Herodes erklommen hat. Jüdisch ist der Geist der Modernität, von wo man ihn betrachte.« In der Moderne, »die nicht nur die jüdischeste, sondern auch die weibischeste aller Zeiten ist«, erwartet W. deshalb geradezu eine Art Endkampf »zwischen Judentum und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann, zwischen Gattung und Persönlichkeit, zwischen Unwert und Wert«. Anders als die Frauen haben nach W. dabei die Juden dennoch – nämlich eben vermittels ihres geradezu therapeutischen Selbsthasses – die Möglichkeit, sich selbst zu überwinden und im männlichen Christentum, wie dereinst seine jüdischen Religionsbegründer, neu geboren zu werden.
Wenn W. in einer Fußnote bemerkt: »Der Verfasser hat hier zu bemerken, daß er selbst jüdischer Abstammung ist«, dann wird nochmals deutlich, wie sehr er in seinem Buch mit der tragischen Aporie der jüdischen Moderne überhaupt auch seine eigene beschrieb. Was die Konversion schon gezeigt hat, bestätigt der Selbstmord nur noch deutlicher, den W. am 3. Oktober in Beethovens Sterbehaus in Wien durch einen Pistolenschuß in sein Herz geradezu inszenierte. Es ist dies die wörtlichste und damit tätlichste Konsequenz aus seinem Buch. Daß W. und sein Buch damit erst recht zum Skandalon wurden, ist leicht nachvollziehbar und hat zweifellos auch begünstigt, daß Geschlecht und Charakter zu einem der meistdiskutierten und meistverkauften Bücher bis zum Zweiten Weltkrieg werden konnte. In geringerem Maß galt dies auch für die posthum veröffentlichte Aufsatzsammlung Über die letzten Dinge, die W.s Freund Moritz Rappaport 1904 auf dessen testamentarischen Wunsch hin aus dem Nachlaß herausgegeben hat. W. fand Apologeten (wie Strindberg oder Kraus) und Kritiker, wurde zu einer literarischen Figur von Carl Sternheim bis Joshua Sobols Weiningers Nacht (1982) und Gegenstand zahlreicher, mehr oder weniger wissenschaftlicher Analysen meist psychologischer Art, von Ferdinand Probsts Der Fall Otto Weininger (1904) bis zu Sigmund Freuds Deutung von W.s Antisemitismus und Antifeminismus aus dem »Kastrationskomplex«: »W., jener hochbegabte und sexuell gestörte junge Philosoph, der nach seinem merkwürdigen Buche ›Geschlecht und Charakter‹ sein Leben durch Selbstmord beendigte, hat in einem vielbemerkten Kapitel den Juden und das Weib mit der gleichen Feindschaft bedacht und mit den nämlichen Schmähungen überhäuft. W. stand als Neurotiker völlig unter der Herrschaft infantiler Komplexe; die Beziehung zum Kastrationskomplex ist das dem Juden und dem Weibe dort Gemeinsame.«
Nicht nur psychologisch, sondern auch soziologisch sind schließlich die Interpretationen des schwierigen Phänomens des jüdischen Selbsthasses angelegt. Bereits Anton Kuh hat in seinem satirischen Essay Juden und Deutsche (1921) neben dem »Zionisten« und »Assimilanten« den »geistigen Kalendertypus: den Selbsthasser« als tragischste Konsequenz aus der Assimilation unterschieden und an Kraus und W. deutlich gemacht, wie das Projekt jüdische Moderne auf diese Weise unweigerlich auf Selbstverleugnung und Projektion hinauslaufen werde: »Sein jüdischer Drang war die Schauspielerei; mit Flammenglut der andere zu sein […]. Er wurde diabolischer Kopist – mit Kommentaranhang. Er sah überall Brüder, Onkel, Schwestern, Väter, Tanten und ahmte sie mit der ganzen Grausamkeit der Scham und Selbstflucht nach. Er pumpte sich von jedem Blutrest durch Feststellung aus dem Gesicht der andern leer.« Theodor Lessing hat diese Perspektive in seinem 1930 erschienenen Buch Der jüdische Selbsthaß aufgegriffen, indem er u.a. an W. die »Pathologie« der Selbsterniedrigung als Verinnerlichung externer Erniedrigung einer »leidenden Minderheit« wie die der Juden erklärte. Dieser Interpretation des Selbsthasses als Internalisierung externer Wahnbilder folgen auch jüngere Interpretationsansätze, so etwa Hans Mayer in Außenseiter (1975) oder Sander Gilman in Jüdischer Selbsthaß (1993), der definiert: »Selbsthaß entsteht dadurch, daß die Außenseiter das Wahnbild von ihnen als Wirklichkeit annehmen, das jene in der Gesellschaft entwerfen, die die Außenseiter definieren, und auf die die Außenseiter sich beziehen.« Damit wird der jüdische Antisemitismus eines W. nicht einfach pathologisiert, sondern letztlich aus einer historischen und gesellschaftlichen Situation erklärt, in der die Juden sich gerade beim Versuch der europäischen Integration in der Moderne als Andere und Ausgeschlossene erfahren.
Werke:
- Geschlecht und Charakter, Wien 1903.
- Über die letzten Dinge, Wien 1904. –
Literatur:
- J. Le Rider/N. Leser (Hg.), O.W., Werk und Wirkung, Wien 1984.
- J. Le Rider, Der Fall O.W., Wien 1985.
- S. Gilman, Jüdischer Selbsthaß, Frankfurt a.M. 1993.
- R.S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien 1999, 405–435.
Andreas Kilcher
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