Metzler Lexikon Philosophie: Evidenz
Einsichtigkeit von etwas, das aus der Sache heraus einleuchtet und sich uns entweder unmittelbar, schlagartig, intuitiv und als gewiss in seiner Gegebenheit zeigt (F. Brentano; E. Husserl), von uns in seiner Wesenheit ganzheitlich erschaut bzw. vernommen wird (M. Scheler, H.-E. Hengstenberg), oder mittelbar durch Ableitung aus einem per se Einsichtigen gewiss wird. E. weist somit einen objektiven, sachlichen (Sachverhaltsevidenz) und einen subjektiven, persönlich einsichtigen Pol (Intuitionsevidenz) auf. Beide Momente sind aufeinander verwiesen. Nur wenn beide zusammen gegeben sind, formen sie E. Diese ist somit ontologisch nicht unabhängig vom einsichtsfähigen Menschen und von etwas, das eingesehen werden kann. Dieses intentionale Moment der E. wurde insbesondere für die phänomenologische Bewegung und die zeitgenössische analytische Philosophie des Geistes von besonderer Relevanz.
Die erkenntnistheoretische Bedeutung von E. besteht darin, dass E. ein nicht bezweifelbares und eindeutiges Grunddatum menschlicher Erkenntnis ist (Descartes), das rationaler Erkenntnis vorausliegt, nicht hinterfragbar ist, weder eines Beweises fähig noch bedürftig ist und als solches zur Fundierung sicheren Wissens und zur Zurückweisung skeptischer Einwände herangezogen werden kann. Es scheint daher in der Sache nicht angebracht, vielmehr kontraproduktiv, von »Evidenzgraden« und von »Vermutungs-E.« (A. Meinong) zu sprechen. E. schließt durch ihre Gewissheit (bloße) Vermutung gerade aus; E. als einheitliches Grundelement lässt per definitionem keine Grade und kein tertium comparationis zu. Etwas ist entweder in sich evident oder nicht. Selbstevidentes durch raisonnements in seiner E. erst sichern zu wollen, ist ein absurdes Unternehmen (Brentano). – Von ontologischem Belang ist E., da sie auch Einsicht in Sachverhalte bzw. in Sätze (Propositionen) über Sachverhalte (states of affairs) sein kann. Ein Satz ist einsichtig dann, wenn entweder seine Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, und die Weise der Zusammensetzung in ihrem Zusammenhang (ihrer »Wesenheit«) positiv in innerer Wahrnehmung einleuchtend sind, oder wenn eine gegensätzliche Behauptung als evident widersprüchlich eingesehen wird. In diesem Sinne kann konstatiert werden, dass E. die Bedingung (»Wahrmacher«) von Wahrheit bzw. wahrer Sätze (»Wahrheitsträger«) ist. Es zeigt sich eine einseitige Abhängigkeit der Wahrheit von ihrer E., d.h. E. ist nicht als separate Bedingung von Wahrheit aufzufassen, sondern als deren inhärentes und fundierendes Moment im Sinne eines Teil-Ganzes-Verhältnisses.
Literatur:
- F. Brentano: Wahrheit und Evidenz. Hamburg 41974
- R. Descartes: Meditationes
- E. Husserl: 1. Logische Untersuchung. Hua XVIII. Den Haag 1975
- A. Meinong: Abhandlungen zur Erkenntnistheorie und Gegenstandstheorie (Gesamtausgabe II). Graz 1971
- M. Scheler: Die Lehre von den drei Tatsachen (Gesammelte Werke 10). Bern 21957
- H.-E. Hengstenberg: Was ist Evidenz? In: Theologisches 18, H. 9 (1988).
WB
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