Metzler Lexikon Philosophie: Hegelianismus
Sammelbegriff für jene philosophischen Strömungen, die sich an G. W. F. Hegels Philosophie und seiner Methode orientieren, insbesondere die bereits zu Hegels Lebzeiten einsetzende Schulbildung. In den Berliner Jahren (1818–1831) waren es vor allem die großen Vorlesungszyklen zur Philosophie der Geschichte, Ästhetik, Philosophie der Religion und Geschichte der Philosophie, mit denen Hegel die Jüngeren gewann. Der »Verein von Freunden des Verewigten« (P. K. Marheineke, S. Schulze, E. Gans, L.v. Henning, H. G. Hotho, K. L. Michelet, F. Förster) legt nach Hegels Tod binnen weniger Jahre (1832–1845) eine vollständige Ausgabe der Hegel’schen Werke vor, die – auf der Grundlage von Vorlesungsnachschriften erstellt – auch jene Systemteile enthält, die Hegel selbst nicht mehr schriftlich ausgearbeitet hatte. Mit dieser Ausgabe sichern die Schüler das Fortwirken der Hegel’schen Lehre im 19. und 20. Jh. Gegen die Angriffe auf Hegels System konnte die Konservierung allein nicht genügen; die zunehmende Kritik forderte eine Weiterbildung der Lehre. In seiner Logik (Die Wissenschaft der logischen Idee. 1858/59) versucht Rosenkranz eine Entwicklung der Hegel’schen Logik unter Berücksichtigung der Trendelenburg’schen Kritik (Logische Untersuchung, 1840); Gans’ liberale Auslegung der Hegel’schen Rechtsphilosophie führt zur Preisgabe des Hegel’schen Repräsentationsmodells (Gans: Naturrecht und Universalgeschichte. Hg. v. M. Riedel. Stuttgart 1981). Erdmann, Haym und K. Fischer führen Hegels geschichtliche Deutung der Philosophie fort. Sie sind die maßgeblichen Wegbereiter der Philosophiegeschichtsschreibung des 19. Jh. Die Hegel’sche Religionsphilosophie wird von den Schülern in neuen Fragestellungen fortgeführt, so etwa in W. Vatkes historisch-kritischer Analyse des Alten Testaments (Historisch-kritische Einleitung ins AT. 1886). Im Streit um eine angemessene Auslegung der Hegel’schen Religionsphilosophie steht eine theistisch orientierte »Rechte« bzw. gemäßigte »Mitte« (Gabler, Göschel, Hinrichs, Vatke, Daub, Rosenkranz, Schaller, Schasler) einer pantheistischen oder naturalistischen Deutung der »Linken«, den sog. Junghegelianern, gegenüber. Die von D.F. Strauß eingeführte Unterscheidung zwischen »Rechts-», »Mitte-» und »Linkshegelianern« orientiert sich an der parlamentarischen Sitzordnung (Streitschrift zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Theologie. 1837, 21841); ihre Unzulänglichkeit wird von den Zeitgenossen kritisiert; Rosenkranz verspottet sie gar in einer Komödie (Das Zentrum der Spekulation. 1840). Auch Michelet (Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. 1838) und J. E. Erdmann (Die Deutsche Philosophie seit Hegels Tod. 41896) verwerfen die grobe Schematisierung: weder ließen sich mit diesem Raster alle Anhänger Hegels noch die Vielfalt der Positionen erfassen. Die ursprünglich an rein theologischen Streitfragen getroffene Unterscheidung musste in dem Maße an Präzision verlieren, wie politische bzw. politisch-philosophische Fragen die ursprüngliche Kontroverse überlagerten. Die politische Radikalisierung der vierziger Jahre verschärft und fixiert letztlich diese Spaltung. Publikationsorgan der »Rechten« waren die von Hegel selbst begründeten Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, die »Linken« veröffentlichten seit 1838 in den von Ruge und Echtermeyer herausgegebenen Hallischen Jahrbüchern. Im 20. Jh. bringt der Neuhegelianismus eine erneute Aufnahme der Hegel’schen Philosophie.
Literatur:
- Bibliographie der Hegelschen Schule. Bearb. v. K. Rosenkranz. In: Der Gedanke 1 (1861). S. 77 ff., 183 ff., 256 ff
- W. Jaeschke: Hegel-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2003
- Ch. Jamme (Hg.): Die »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik«. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994
- K. Löwith (Hg.): Die Hegelsche Linke. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962
- H. Lübbe (Hg.): Die Hegelsche Rechte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962
- W. Moog: Hegel und die Hegelsche Schule. München 1930
- H. Ottmann: Individuum und Gesellschaft I (Hegel im Spiegel der Interpretationen). Berlin/New York 1977.
EWL
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