Forstwirtschaft: Weihnachtsbäume aus dem Klon-Labor
Unter den uralten, einzigartigen Bäumen der botanischen Sammlung des Späth-Arboretums der Humboldt-Universität zu Berlin kann selbst der Verkehrslärm die friedliche Idylle kaum stören. Und in der über drei Hektar großen botanischen Sammlung der Humboldt-Universität zu Berlin gibt es ungewöhnlichen Nachwuchs. Aus der Schneedecke recken sich Dutzende von Mini-Weihnachtsbäumchen. Das Besondere an ihnen: Es sind Klone. Eine ganze Klon-Armee von Nordmanntannen.
Die Nordmanntanne ist hier zu Lande die Nummer eins unter den Weihnachtsbäumen. Mehr als 20 Millionen Exemplare stehen zum Fest in deutschen Wohnzimmern. In ihrer Heimat im Kaukasus kann diese immergrüne Tanne 500 Jahre alt und 60 Meter hoch werden. Auf europäischen Plantagen fällt man Nordmanntannen dagegen bereits nach acht bis zehn Jahren – lange bevor sie blühen und Samen bilden. Deswegen stammen viele Samen für die hiesige Zucht aus den Nadelwäldern des Kaukasus.
Die Babytannen im Späth-Arboretum sind mühsam gezogene Klone aus solchem kaukasischen Saatgut, kaum ein Jahr alt und wenige Zentimeter hoch. Die einige Millimeter langen Nadelbaum-Embryonen, aus denen solche Baume wachsen, lagern in eisigen Metallfässern mit flüssigem Stickstoff in einem Container unweit der Späthstraße, die am Arboretum vorbeiführt. Hier arbeitet die Biologin Andrea Rupps mit ihrer Arbeitsgruppe daran, wertvolle Genotypen solcher Koniferen – der Fachbegriff für Nadelbäume – zu bewahren, besonders widerstandsfähige Exemplare für die Zukunft zu sichern und die Forstwirtschaft mit ausgefeilten Klonverfahren zu bereichern.
Pflanzen zu klonen ist gängige Praxis
Nadelbäume klonen – das klingt erst einmal irritierend. Dabei gehört Klonen zum Tagesgeschäft der Landwirtschaft, und das ganz ohne Hightech. Dank der »Totipotenz«, einer speziellen Eigenschaft einiger Pflanzenzellen, können sich Pflanzenteile wieder vollständig zum ursprünglichen Organismus entwickeln. So vervielfacht man beispielsweise Bananen-, Kartoffel- oder Erdbeerpflanzen in großem Stil. Man muss dabei nur einen Bananenstrunk, eine Kartoffel oder einen Blatttrieb der Erdbeerpflanze wieder in die Erde stecken. Auch Orchideen sind erst dank dieser so genannten vegetativen Vermehrung erschwinglich.
Die Klon-Bäume von Berlin sind dennoch etwas Besonderes. Denn Nadelbäume ließen sich nicht in der gleichen Weise vegetativ vermehren, erklärt Andrea Rupps. Sie leitet das Team Pflanzenentwicklung am Späth-Arboretum, das zum Institut für Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin gehört. »Einen Zweig abschneiden, Stecklinge daraus machen und dann wieder einpflanzen – das funktioniert nicht. Der würde nämlich wie ein Seitenast plagiotrop, also seitwärts weiterwachsen.« Für die Forstwirtschaft ist jedoch entscheidend, dass Nadelbäume aufrecht wachsen und einen geraden Stamm haben. »Deshalb mussten wir erst ein Verfahren aufbauen, um Koniferen effektiv vegetativ vermehren zu können.«
Vegetative Vermehrung ist auch deshalb interessant, weil man dafür kein Saatgut braucht. Diverse Faktoren sorgen nämlich dafür, dass manche Baumsamen weltweit knapp werden. Einerseits sorgten Waldschäden in den vergangenen Jahren dafür, dass immer mehr Flächen mit robusten Bäumen neu bepflanzt werden mussten, was auch die Nachfrage nach Samen antreibt. Andererseits stehen Nadelbäume generell vor großen Herausforderungen: Der Klimawandel mit seinen extremen Wetterbedingungen wie Hitze, Trockenheit, Starkregen und Spätfrost lässt die Bäume weniger Samen produzieren und erschwert die Vermehrung der Bäume.
Das Saatgut wird knapp
»Besonders problematisch ist die Situation bei Lärchen«, erklärt die Koniferenforscherin Juliane Raschke aus Rupps' Team. Gerade Lärchen sind für Aufforstungen beliebt. Denn sie bilden tiefere Wurzeln als Fichten, wachsen ausgesprochen schnell und sind sehr widerstandsfähig. Dadurch eignen sie sich als Vorwald, in dem die jungen Bäume noch mit extremen Wettereinflüssen kämpfen und mit Begleitvegetation konkurrieren müssen.
»Die Bäume erleben jedoch nur etwa alle zwölf Jahre so genannte Mastjahre, in denen sie besonders viele Samen produzieren«, führt Raschke aus. In den Jahren dazwischen ist die Samenbildung sehr gering, daher sei es auch so folgenschwer, wenn im Mastjahr die Ernte durch das Klima schlecht ausfällt. »Hinzu kommen im Klimawandel vermehrt auftretende Schädlinge, die sich von Blüten und Samen ernähren und so die natürliche Samenproduktion reduzieren.«
Auch bei den Nordmanntannen ist der Nachschub an Samen keineswegs grenzenlos. Dass Tannenzapfen am Boden liegen, ist ein Irrglaube. Auf dem Waldboden findet man in der Regel Fichten- oder Kiefernzapfen, Tannenzapfen dagegen zerfallen noch am Baum. Für das wertvolle Nordmanntannen-Saatgut klettern deswegen Sammler vor allem in Georgien unter schwierigen Arbeitsbedingungen auf die hohen Tannen, um die Zapfen zu ernten. Zuweilen fällen sie auch Bäume, weil die Samen sonst nicht zugänglich wären. Brände vernichten manche Bestände, andere sind durch kriegerische Konflikte schlechter zugänglich.
Babybäumchen aus der Zellkultur
Deswegen suchen Fachleute auch bei Nadelbäumen Alternativen zur traditionellen Saatgutgewinnung. Ein viel versprechender Ansatz ist dabei die so genannte somatische Embryogenese. Bei diesem Verfahren, das erstmals 1953 in Karottenzellen glückte, programmiert man »Somazellen«, das sind Körperzellen der Pflanze, geschickt um. Pflanzenhormone bringen die in einem Nährmedium wachsenden Zellen dazu, sich zu Embryonen zu entwickeln. Aus den Embryonen können wiederum vollständige Pflanzen heranwachsen.
Theoretisch kann man mit der somatischen Embryogenese also genetisch identische Kopien eines Baums erzeugen, ohne auf Samen angewiesen zu sein. Praktisch ist das jedoch schwierig, und zwar aus zwei Gründen. »Nadelbäume haben ein riesiges Genom, das die Forschung erschwert«, erklärt Rupps. Noch dazu wachsen Bäume langsam und leben enorm lange, was die Koniferenforschung zur Generationenaufgabe macht: »Im Vergleich zu Modellorganismen wie der Ackerschmalwand, deren Generationswechsel nur sechs Wochen beträgt, benötigen Lärchen 20 bis 40 Jahre, um fruchtbar zu werden und Nachkommen zu erzeugen.«
Eine somatische Embryogenese dagegen dauert nur etwa ein Jahr. Doch sie sei ihrerseits ein vielstufiger Prozess mit einer hohen Fehlerquote, erläutert Raschke. Die Koniferenforscherin erlebte etliche Rückschläge mit den gesammelten Samen, an denen sie die somatische Embryogenese erprobte: »Von tausenden Samen, die im Labor kultiviert werden, entwickeln sich nur wenige zu reifen Embryonen weiter, dem ersten Entwicklungsschritt in der Gewebekultur«, sagt sie. »Von diesen keimen wiederum nur einige, und nur ein Bruchteil der Keimlinge kann schließlich in die Erde gepflanzt werden.«
350 Versuche für einen Erfolg
Mit Pinzette und viel Fingerspitzengefühl schälte Raschke unzählige Samen aus den Zapfen und zog die Embryonen heraus, untersuchte diese mikroskopisch, experimentierte mit Nährstofflösungen. Jedes Mal wartete sie geduldig auf den ungewissen Ausgang aller Mühen: War die jeweilige »Induktion« geglückt, woraufhin sich neue Embryonen ausbilden, oder gab es wieder nur Gewebebrei in der Kulturschale? Einer von 350 Versuchen sei erfolgreich, sagt sie.
Von der Autorin gibt es auch eine Filmreportage über die Nadelbaumforschung am Späth-Arboretum.
In den Kellergewölben des Späth-Hauses gießt sie nun liebevoll den kleinen, erfolgreichen Satz an Babynordmanntannen und Babylärchen, die es bis hierhin geschafft haben. Im Freien, bei den Geschwisterbäumchen im Arboretum, müssen sich die frischen Keimpflanzen erst noch beweisen.
Bereits 1985 gelang schwedischen Forscherinnen erstmals die somatische Embryogenese bei einer Nadelbaumart: der Weißtanne. Seither hat sich auf dem Gebiet aber wenig getan; weltweit forschen bloß vergleichsweise wenige Arbeitsgruppen an der somatischen Embryogenese bei Koniferen. Die Wissenschaftlerinnen am Späth-Arboretum wollen nun die somatische Embryogenese bei Nordmanntannen und bei den für die Forstwirtschaft wichtigen Lärchen und Douglasien perfektionieren.
»Die größte Herausforderung besteht darin, die somatische Embryogenese an adulten Zellen auszulösen, zum Beispiel aus Nadeln oder Wurzelspitzen«, erläutert Rupps. »In der Koniferenforschung nennen wir das den Heiligen Gral.« Einer ihrer Mitarbeiter hatte ihn einst zufällig im Rahmen seiner Bachelorarbeit erreicht, als er aus einer Blütenknospe einen Lärchenklon erschaffen konnte. Aber seine Ergebnisse waren leider nicht reproduzierbar – ein glücklicher Einzelfall unter Hunderten von Fehlschlägen.
Sind Klone die Zukunft der Forstwirtschaft?
Dagegen liefert die mühsamere Arbeit mit den Embryonen aus den Samen solide Ergebnisse. Denn obwohl zu Beginn, bei der Herstellung der Klone, viele Versuche scheitern, ist das anschließende Vermehrungsverfahren sehr effizient und erzeugt unzählige Nachkommen. Rupps ist zuversichtlich, dass sie mit ihren Projektpartnern aus der Forstwirtschaft das Verfahren in der Pflanzenproduktion etablieren kann.
Ihr Ziel ist vor allem eine Klonbank aufzubauen, quasi eine Arche Noah. Im unscheinbaren Container an der Hauptstraße holt sie mit Skihandschuhen und Kopfschutz eine kaltdampfende Schublade aus einem Metallgefäß und präsentiert die bei –196 Grad Celsius konservierten bunt beschrifteten Fläschchen: Hier lagern über 1000 Klone von Douglasien, Lärchen und Tannen, sicher verwahrte, wichtige Genressourcen, die auf ihren Einsatz in der Zukunft warten.
Rupps klärt auch gern den Irrtum auf, dass Klone zu einer unerwünschten Monokultur führen würden. Ihre Klonbank enthalte ja eine Vielzahl verschiedener Klone, die je nach Standortansprüchen und Eigenschaften in Kombination miteinander oder mit anderen Arten gepflanzt werden könnten – und natürlich klassisch aus Samen erzeugten Pflanzen. »So kann eine multiklonale Forstwirtschaft entstehen, die die genetische Vielfalt erhält und gleichzeitig die Vorteile der somatischen Embryogenese nutzt«, erläutert die Forscherin.
Eine solche Klonbank habe vor allem drei Vorteile, fährt sie fort: Erstens könne man ausgewählte Genotypen und spezielle Kreuzungen gezielt vermehren. Zweitens wären Embryonen beziehungsweise Keimpflanzen dauerhaft lagerfähig und unabhängig von der Saison verfügbar. Und drittens könnte die Forstwirtschaft spezielle Pflanzenmischungen auswählen, die zum Standort passen und zum Beispiel schneller und passgenauer Flächen aufforsten, auf denen Extremwetter oder Schädlinge den Bewuchs zerstört hatten. In Berlin liegen also womöglich schon jetzt nicht nur die Wälder der nächsten Jahrzehnte, sondern auch schon unsere zukünftigen Weihnachtsbäume auf Eis.
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