Der Mathematische Monatskalender: Gabriel Cramer (1704–1752): Ein wahrer Networker
Es ist noch gar nicht so lange her, dass der Name des Schweizer Mathematikers Gabriel Cramer aus den Mathematik-Lehrplänen der Schulen gestrichen wurde. Die nach ihm benannte cramersche Regel bietet nämlich eine bequeme Möglichkeit, einfache lineare Gleichungssysteme (mit zwei oder drei Gleichungen beziehunsgweise Variablen) ohne Umformungen zu lösen. Diese Regel wurde bereits 1678 von Gottfried Wilhelm Leibniz entdeckt, aber nicht veröffentlicht. Etwa zeitgleich zu Leibniz entwickelte Seki Kowa im fernen Japan eine ähnliche Methode; es ist aber kaum anzunehmen, dass dessen Erkenntnisse sehr schnell nach Europa gelangten. Auch Colin Maclaurin hatte im Prinzip die gleiche Idee wie Cramer (»Treatise of Algebra«, 1748); jedoch fehlte bei ihm ein entscheidender Schritt zur Verallgemeinerung.
Gabriel Cramer genießt als Sohn eines angesehenen Genfer Arztes die bestmögliche Schulbildung. Im Alter von 13 Jahren wechselt er an die Académie de Genève, studiert Mathematik und Philosophie bei Étienne Jallabert; mit einer Dissertation zur Theorie des Schalls schließt er als 18-Jähriger sein Studium ab. Als Jallabert zwei Jahre danach stirbt, bewirbt sich Cramer um dessen Nachfolge auf den Lehrstuhl für Philosophie, zusammen mit seinem ein Jahr älteren Freund Jean-Louis Calandrini. Der Magistrat der Stadt Genf entscheidet sich für einen dritten Bewerber, den 26-jährigen Theologen Amédée de la Rive. Da die beiden jungen Bewerber jedoch einen hervorragenden Eindruck hinterlassen haben, fassen die Vertreter der Stadt einen klugen Beschluss: Der Philosophie-Lehrstuhl soll geteilt werden (auch um ein Gegengewicht zum Einfluss der Kirche zu bilden), die zusätzlich eingerichtete Professur erhält den Schwerpunkt Mathematik. Die beiden jungen Bewerber werden beauftragt, gemeinsam die Vorlesungen zur Mathematik zu übernehmen. Cramer hält die Vorlesungen zur Geometrie und Mechanik, Calandrini die zu Algebra und Astronomie.
Der Magistratsbeschluss enthält noch eine weitere Auflage: Die jungen Akademiker werden verpflichtet, sich während einer »Grand Tour« durch europäische Universitäten über den aktuellen Stand der Forschung zu informieren. Während ihrer Abwesenheit muss der jeweils andere die volle Lehrverpflichtung bei verdoppeltem Gehalt übernehmen.
1727 beginnt Cramer seine zweijährige akademische Rundreise in Basel, arbeitet dort mit Johann und Nikolaus Bernoulli zusammen, lernt auch noch Leonhard Euler kennen, ehe dieser einen Ruf nach St. Petersburg annimmt. Er setzt dann seine Reise fort und begegnet in Cambridge und London unter anderem Edmond Halley, Abraham de Moivre und James Stirling. Über die Universität Leiden geht es dann weiter nach Paris (Alexis-Claude Clairaut, Georges-Louis Leclerc Buffon, Pierre Louis Moreau de Maupertuis). Zu all diesen Zeitgenossen bleibt er bis zu seinem Tod in brieflichem Kontakt.
Nach Genf zurückgekehrt, verfasst er einen Beitrag zur aktuellen Preisfrage der Pariser Académie royale über die Ursache der elliptischen Form der Planetenbewegung sowie zur Frage, warum die sonnenfernsten Punkte in den Umlaufbahnen der Planeten nicht fest sind. Zwar gewinnt Johann Bernoulli den Preis, aber Cramers Zweitplatzierung trägt dazu bei, dass sein Ansehen in der akademischen Welt wächst.
1734 übernimmt sein Freund Calandrini den frei gewordenen Lehrstuhl für Philosophie; von da an ist Cramer allein für die Lehre der Mathematik in Genf zuständig.
Cramers besondere wissenschaftliche Verdienste liegen in zwei Veröffentlichungen: zum einen sein Hauptwerk »Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques«, das 1750 erscheint, zum anderen die Herausgabe der »Gesammelten Werke« von Johann Bernoulli. Dieser hatte den Wunsch geäußert, dass die große Zahl seiner eigenen Schriften noch zu seinen Lebzeiten gesichtet und zusammengestellt werden möge, und für ihn kommt für diesen Auftrag nur Gabriel Cramer in Frage. Nach dem erfolgreichen Abschluss der mühe- und verdienstvollen Arbeit übergibt Johann Bernoulli 1742 auch die Schriften seines 1705 verstorbenen Bruders Jakob an Cramer, und zwei Jahre später erscheinen auch diese »Gesammelten Werke« – mit Ausnahme der »Ars conjectandi«, die Jakobs Neffe Nikolaus Bernoulli bereits 1713 ergänzt und veröffentlicht hatte.
In Zusammenarbeit mit dem in Lausanne lehrenden Mathematiker Jean de Castillon (Giovanni Francesco Salvemini da Castiglione) veröffentlicht er dann noch Johann Bernoullis Schriftwechsel mit Leibniz. Für das folgende geometrische Problem findet Castillon 20 Jahre später (inzwischen ist er erster Astronom der königlichen Sternwarte in Berlin) eine Lösung.
Zu seinem 700-seitigen Hauptwerk über algebraische Kurven wird Cramer insbesondere durch Newtons Schrift über kubische Kurven angeregt sowie durch Stirlings Ergänzungen hierzu. Nach einführenden Kapiteln, in denen er erläutert, wie Kurven gezeichnet und wie die Gleichungen der Kurven durch geeignete Transformationen vereinfacht werden können, entwickelt er im dritten Kapitel eine Klassifikation algebraischer Kurven durch den Grad des definierenden Polynoms.
Algebraische Kurven ersten Grades werden durch Polynome vom Typ \(ax + by +c \) definiert, Kurven zweiten Grades durch \(ax^2 + bxy +cy^2 + dx + ey +f \) und so weiter – für die zugehörigen Kurvengleichungen \(( ax + by +c=0,\) \( ax^2 + bxy +cy^2 + dx + ey +f=0\) und so weiter) werden drei Koeffizienten (zwei für Grad eins und einer für Grad null) beziehungsweise sechs Koeffizienten (drei für Grad zwei, zwei für Grad eins und einer für Grad null) benötigt, für eine Kurve \(n-\)ten Grades also \(\frac{1}{2} \cdot (n+1) \cdot (n+2) \) Koeffizienten. Da durch Division durch irgendeinen der von null verschiedenen Koeffizienten die Anzahl um eins reduziert werden kann, ergibt sich somit, dass zur Festlegung \(\frac{1}{2} \cdot (n+1) \cdot (n+2) = \frac{1}{2} \cdot n \cdot (n+3)\) Koeffizienten genügen. Es gilt daher:
Denn das Einsetzen der \(\frac{1}{2} \cdot n \cdot (n+3)\) Paare von Punkt-Koordinaten in die Gleichung der Kurve ergibt ein lineares Gleichungssystem mit \(\frac{1}{2} \cdot n \cdot (n+3)\) Gleichungen und ebenso vielen Variablen, aus denen die Koeffizienten eindeutig bestimmt werden können. Die Auswahl der Punkte ist allerdings nicht völlig beliebig (»ausgearteter« Fall): Je drei der ausgewählten Punkte dürfen nicht auf einer Geraden liegen.
Cramer fällt eine paradoxe Situation im Fall kubischer Kurven auf, die er aber selbst nicht erklären kann: Gemäß einem Satz von Maclaurin (den Bézout einige Jahrzehnte später letztlich bewies) können algebraische Kurven \(m-\)ten und \(n-\)ten Grades bis zu \(m \cdot n\) gemeinsame Punkte haben, das heißt für \(m = n = 3:\) Zwei kubische Kurven können sich in neun Punkten schneiden. Wählt man nun genau diese neun Schnittpunkte aus, dann dürfte es hierzu nur eine kubische Kurve geben – zu den ausgewählten Punkten existieren jedoch zwei Kurven (»Cramers Paradox«).
Im Anhang des Buchs gibt Cramer schließlich die nach ihm benannte Regel an; er beschreibt dabei für Gleichungssysteme bis zur fünften Ordnung mit Worten das Verfahren, gemäß dem die Lösungsterme gebildet werden.
Der viel beschäftigte Cramer – er nimmt zwischenzeitlich auch städtische Ämter wahr und kümmert sich beispielsweise um die Stadtbefestigung – erleidet Ende 1751 nach einem Unfall mit einer Kutsche einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Auf dem Weg nach Südfrankreich, wo er sich von den Strapazen erholen soll, stirbt er, bevor er sein Ziel erreicht hat.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.