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Eulbergs tönende Tierwelt: Platzhirsch im Fadenkreuz

Im Herbst kann man sie wieder hören – die dröhnenden Brunftrufe des männlichen Rotwilds (Cervus elaphus). Überall? Nein, denn in vielen Regionen werden die Rothirsche als Schädling ausgerottet. Dabei haben sie eine extrem wichtige Funktion für unser Ökosystem, wie unser Kolumnist erklärt.
Buntstiftzeichnung eines männlichen Rothirschs
Der Rothirsch (auch Rotwild genannt) gehört zu den Echten Hirschen. Wie bei den meisten anderen Vertretern der Hirsche bildet nur das männliche Tier ein Geweih aus, das es jährlich wechselt.
Wissen Sie, wie ein Siebenschläfer klingt? Oder ein Reh? Warum der Pirol auch Regenkatze genannt wird? Vermutlich nicht – obwohl all diese Lebewesen Teil unserer heimischen Fauna sind. In der Kolumne »Eulbergs tönende Tierwelt« stellt der Techno-Künstler, Ökologe und Naturschützer Dominik Eulberg faszinierende Exemplare aus der Tierwelt vor unserer Haustür vor.

Vor mehr als 20 Jahren arbeitete ich für ein paar Monate im Müritz-Nationalpark. Eine meiner Aufgaben war es, ab Ende September Besuchergruppen an die traditionellen Brunftplätze des Rotwilds zu führen. Was war das jeden Abend für ein Spektakel! Spannender und unterhaltsamer als jede Fernsehserie: War der Platzhirsch von gestern auch heute noch der Boss? Wer würden seine Nebenbuhler sein? Würde es Kämpfe geben? Die Rothirschbrunft ist auch akustisch eines der absoluten Highlights unserer Gefilde, ein vollmundiger Ohrenschmaus:

Mit kilometerweit dröhnendem Röhren streiten sich im Herbst die kapitalen Männchen um die Gunst der Weibchen und darum, wer der Platzhirsch sein darf. Denn es gibt nur einen Chef auf dem Brunftplatz und dieser hat das Recht, sich mit allen Weibchen eines Rudels zu paaren. Die anderen Männchen sind nun nur noch Konkurrenten, die es zu vertreiben gilt. Zu dieser Zeit ist das Geweih der Rothirsche (Cervus elaphus) in voller Pracht, der Testosteronspiegel auf seinem Höchststand. Die Brunftrufe bestehen aus einer Abfolge von drei bis acht Einzelrufen, wobei der erste immer der lauteste und längste ist. Jeder Hirsch hat dabei seinen eigenen »Duktus«, so dass man rasch die einzelnen Individuen akustisch auseinanderhalten kann. Auch die Hirschkühe hören genauestens hin, denn sie erkennen an feinsten Nuancen des Röhrens, wie fit das Männchen ist.

Reicht ein verbales und visuelles Kräftemessen der Widersacher nicht aus, kommt es zum Kampf. Dabei knallen die Geweihe lautstark gegeneinander und verhaken sich. Nun schieben sich die Tiere über den Platz, »forkeln« sich, bis der Unterlegene den Kampf beendet. Da die Hirsche so sehr mit ihren Konkurrenten und der Paarung beschäftigt sind, nehmen sie während der Brunftzeit kaum Nahrung zu sich und verlieren bis zu einem Viertel ihres Körpergewichts.

Ihr Geweih wächst jedes Jahr neu. Je nach Lebensalter verlieren sie es zwischen Februar und April. Es wächst dann unmittelbar nach, mehr als zwei Zentimeter pro Tag. Somit ist das Hirschgeweih der am schnellsten wachsende Körperteil im Tierreich. Im Schnitt erreicht es ein Gewicht von 6,5 Kilogramm, in seltenen Ausnahmen auch bis zu 20 Kilogramm.

Der Rothirsch | Das Sommerfell des Rotwilds ist rotbraun, daher leitet sich auch sein Name ab. Das Winterfell hingegen ist braungrau.

Neben ein paar wiederangesiedelten Wisenten ist der Rothirsch das größte frei lebende heimische Wildtier. Ein ausgewachsenes Männchen erreicht fast die Größe eines Pferds, hat eine Schulterhöhe von etwa eineinhalb Metern, eine Länge von über zwei Metern und wiegt bis zu 250 Kilogramm. Seinen Namen verdankt der Rothirsch dem im Sommer rötlich braunen Fell. Anders als das Reh bildet Rotwild Rudel, um sich sicher zu fühlen. Entgegen dem weit verbreitenden Irrglauben ist es zudem kein klassischer Waldbewohner. Ursprünglich bewohnte es offene Landschaften, etwa weite Steppen. Da der Mensch immer weiter in die Natur eindrang, waren die Tiere jedoch gezwungen, sich in größere Waldgebiete zurückzuziehen. Man schätzt den Lebensraumverlust des Rotwilds in Europa auf 91 Prozent.

Einst pendelten Rothirsche im Lauf der Jahreszeiten zwischen verschiedenen Lebensräumen, die ihnen optimale Bedingungen boten – ähnlich wie Gnus oder Zebras in den Savannen Afrikas dies heute noch tun. Es sind historische Wanderungen von großen Herden bekannt, die ihre Sommerquartiere in Höhenlagen wie den Alpen, dem Bayerischen Wald oder dem Harz im Herbst verließen, um den Winter im milderen Flachland zu verbringen. Diese uralten Wanderungen gibt es nicht mehr, denn wir teilen viele unserer dicht besiedelten Bundesländer in so genannte Rotwildgebiete und rotwildfreie Zonen ein, in denen jedes Tier außerhalb der Schonzeit geschossen wird. So muss etwa in Baden-Württemberg, wo der Rothirsch gar das Landeswappen ziert, Rotwild per Gesetz auf 96 Prozent der Landesfläche ausgerottet werden. Denn der profitorientierte Mensch fürchtet in seiner Forst- und Landwirtschaft seinen Verbiss, sieht ihn dort als Schädling an. Dies führt zu der bemerkenswerten Situation, dass man Rothirsche im Winter in manchen Nationalparks füttert, damit sie sich nicht in den umliegenden Gebieten bedienen.

  • Der Rothirsch
    Hier finden Sie alle wichtigen Eckdaten und Beobachtungstipps rund um den Rothirsch.
  • Steckbrief

    Klasse: Säugetiere

    Ordnung: Paarhufer

    Familie: Hirsche

    Tribus: Echte Hirsche

    Größe: 165 bis 230 Zentimeter

    Gewicht: 100 bis 250 Kilogramm

    Fortpflanzungsperioden pro Jahr: 1

    Nachkommen pro Periode: 1 bis 2

    Höchstalter: 20 Jahre

    Bundesweiter Gefährdungsgrad (Rote Liste): nicht gefährdet

    Volkstümlicher Name: Edelhirsch

  • Beobachtungstipps

    Ende September bis Mitte November in der Abenddämmerung auf traditionellen Brunftplätzen

    Im Rudel | Eine Gruppe von weiblichem Rotwild, gefolgt von einem jungen Rothirsch. Sein Geweih weist noch keine Verästelungen auf.

Allerdings hat Rotwild eine extrem wichtige Funktion in unserem Ökosystem. Zum einen wirkt es durch seinen Verbiss der Verbuschung und dem Zuwachsen mit Bäumen entgegen, schafft dadurch offene Lebensräume und erhöht immens die Artenvielfalt in einem Gebiet. Verbissene Bäume wachsen außerdem dichter und buschiger, wodurch zusätzliche Nistplätze entstehen. Rothirsche schaffen sogar aktiv Nisthöhlen, indem sie die Baumrinde abschälen: Durch den resultierenden Pilzbefall formen sich schlitzartige Höhlen, die vielen Waldvögeln als Nistplatz dienen, wie eine spannende Untersuchung im polnischen Białowieża-Nationalpark zeigt.

Darüber hinaus trägt das Rotwild in seinem Fell, im Kot und an den Hufen verschiedene Pflanzensamen mit sich und transportiert diese so über hunderte Kilometer. Suhlen und Aufwühlen des feuchten Bodens lassen neue Lebensräume entstehen, etwa für Wasserinsekten. Auch das verlorene Winterfell findet rasch Abnehmer: Einige Vogelarten nutzen es zum Nestbau. Abgeworfene Geweihstangen sind auf Grund ihres hohen Kalzium- und Phosphorgehalts bei zahlreichen Nagetieren begehrt. Und selbst der Tod der Hirsche erfüllt eine wichtige Funktion im Kreislauf der Natur: Ihre Kadaver sind Nahrung für viele andere Arten.

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