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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wer steckt hinter dem Mathe-Genie namens Cleo?

Cleos Mathe-Talent schien sogar das von leistungsfähigen Computern zu übertreffen. Fast zwölf Jahre lang rätselte das Internet, wer Cleo ist. Nun scheint das Rätsel gelöst.
Eine Person steht mit den Händen in die Hüften gestemmt vor einem hellblauen Hintergrund. Der Kopf der Person ist durch eine große, flauschige Wolke ersetzt. Sie trägt ein grünes Oberteil, einen grauen Rock, dunkle Strumpfhosen und rote Schuhe. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Kreativität oder Tagträumerei.
Wer ist Cleo? Diese Frage treibt das Internet schon lange um. Angeblich handelt es sich um eine Frau, aber wie sich nun herausstellt, ist dem vielleicht gar nicht so.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen bis hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Während meines Studiums war mir die Plattform »Stack Exchange« oft eine große Hilfe. Dabei handelt es sich um ein Forum, in dem man fachbezogene Fragen stellen kann – von ganz grundlegend (»Wie addiert man Zahlen?«) bis hin zu super kompliziert und speziell (»Induziert eine Garbe abelscher Gruppen auf einem Schema X eine Garbe abelscher Gruppen auf dem Étale-Ort Xét). Wer Letzteres nicht verstanden hat: Keine Sorge, darum wird es heute nicht gehen. Nutzerinnen und Nutzer können auf Stack Exchange die gestellten Fragen beantworten, und diese werden, ähnlich wie zum Beispiel bei Reddit, up- oder downgevotet. Solche Foren erfreuen sich großer Beliebtheit, und tatsächlich ist mir im Lauf meines Studiums und meiner Karriere kaum je eine Frage begegnet, die nicht schon einmal jemand auf Stack Exchange gestellt hat. Und wenn es doch mal so war, dann veröffentlichte ich eben selbst die Frage – und hatte wenige Stunden später eine hilfreiche Antwort.

Zwischen 2013 und 2016 erregte ein User namens Cleo die Aufmerksamkeit der Mathe-Community. Alles begann damit, dass die Nutzerin Laila Podlesny um Hilfe bat, um ein kompliziertes Integral zu lösen. Viereinhalb Stunden später lieferte Cleo die Antwort: ein kurzer Ausdruck, der verschiedene irrationale Zahlen miteinander verknüpft. Keine Herleitung, keine Erklärung. Das Erstaunliche daran: Selbst gängige algebraische Computerprogramme wie Maple oder Mathematica hatten bei der Lösung versagt – sie konnten nur den angenäherten numerischen Wert angeben, nicht aber ein exaktes Ergebnis durch bekannte Konstanten.

Nun gut, könnte man sagen. Vielleicht war es ja ein Glücksfall, und Cleo hatte diese Aufgabe in der Vergangenheit schon gelöst und einfach schnell reagiert. Aber tatsächlich blieb es nicht bei dem einen Beispiel. Insgesamt 39-mal lieferte Cleo innerhalb kürzester Zeit korrekte Antworten auf extrem komplexe Aufgaben, für die andere mehrere Wochen oder gar Monate intensiver Berechnungen aufbringen mussten.

Schnell wurde Cleo zum Mythos: Auf Reddit, in den Medien und auf Stack Exchange selbst spekulierten verschiedene Menschen nach kurzer Zeit, wer sich hinter dem Pseudonym Cleo verbergen könnte. Es wurde sogar eine eigene Webseite errichtet, in der sich investigative Recherchen zu Cleo finden (ich liebe das Internet!). Und nun, knapp zwölf Jahre nach dem ersten Post, ist das Gespenst wohl enttarnt und das Geheimnis gelüftet. Cleo heißt wahrscheinlich: Vladimir.

Schwer, schwerer, Integrale

Integrale begegnen vielen Menschen bereits in der Schule. Dort lernt man sie meist als das Gegenteil einer Ableitung kennen (einige Bekannte von mir nannten sie auch »Aufleitungen«). Im Prinzip nutzt man sie, um eine Fläche unterhalb einer Kurve zu berechnen. Aber während es vergleichsweise einfach ist, eine Ableitung zu berechnen, ist es bei Integralen deutlich schwieriger.

Versteht mich bitte nicht falsch, auch Ableitungen können kompliziert sein. Ich neige beispielsweise generell dazu, mich schnell zu verrechnen. Aber es gibt feste Regeln, die klar vorgeben, wie eine Ableitung zu bestimmen ist. Und wenn man diesen vorsichtig folgt, dann sollte eigentlich nichts schiefgehen. Bei Integralen ist das aber leider nicht so. Hat man es mit Polynomen zu tun, muss man wirklich »einfach nur das Gegenteil« von dem machen, was man bei der Ableitung tun würde. Aber sobald die Terme, die man integrieren möchte, auf komplexe Art und Weise miteinander verknüpft sind, ist es extrem schwer, das Ergebnis herzuleiten.

So war es auch bei dem Post von Laila Podlesny, die am 11. November 2013 einen Hilferuf auf Stack Exchange veröffentlichte. Sie befasste sich mit folgendem Integral:

I=111x1+x1xln(2x2+2x+12x22x+1)dx

Sie veröffentlichte auch den Verlauf der Kurve, deren Fläche das Integral in den Bereichen -1 und 1 ergeben soll.

Ein Diagramm zeigt eine rot gezeichnete Kurve, die von links unten nach rechts oben verläuft. Die x-Achse reicht von -1 bis 1, während die y-Achse von 0 bis über 10 reicht. Die Kurve beginnt bei etwa y=0 und steigt stetig an, wobei sie bei x=0,5 einen deutlichen Anstieg zeigt. Das Diagramm ist mit einem Raster versehen, das die Ablesung der Werte erleichtert.
Funktion | Eine Nutzerin wollte die Fläche unterhalb dieser Kurve berechnen. Die Meisterleistung gelang Cleo offenbar innerhalb weniger Stunden.

Podlesny hatte nach eigenen Angaben bereits versucht, das Integral mit Hilfe von Computerprogrammen wie Maple oder Mathematica zu lösen, die dafür bekannt sind, exakte Ergebnisse liefern zu können. Aber alles, was sie herausbekam, war ein genäherter Zahlenwert: I = 8,3722… »Ich hoffe aber immer noch, dass es eine geschlossene Form dafür gibt«, schloss die Userin ihren Beitrag. Damit meinte sie: Sie hoffe auf eine exakte Lösung, die sich durch bekannte Konstanten und Funktionen ausdrücken lässt.

Wenige Stunden später kam die einsilbige Antwort von Cleo, die in die Internetgeschichte einging: I = 4π arccot√ϕ. Nichts weiter.

Das sorgte für Verwirrung. Zunächst einmal: In der Antwort taucht der goldene Schnitt ϕ auf, eine irrationale Zahl, mit der man in diesem Zusammenhang nicht wirklich rechnen konnte. Und auch sonst war unklar, wie Cleo auf dieses Ergebnis gekommen war: Sie musste dafür zunächst einmal das Integral allgemein berechnet haben (also ohne die Integrationsgrenzen von -1 bis 1 zu beachten). Und dafür schien es keinen einfachen Weg zu geben.

Längenverhältnis goldener Schnitt
Goldener Schnitt | Falls sich a zu b verhält wie die Gesamtlänge a + b zu a, dann hat man den goldenen Schnitt als Längenverhältnis gefunden.

Und doch ist Cleos Ergebnis korrekt. Erst mehrere Tage später veröffentlichte ein anderer Nutzer einen Lösungsweg, der das erstaunliche Resultat liefert: »Ich habe das Integral durch Substitution umgeformt, es in zwei Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt, eine partielle Integration durchgeführt und eine weitere Substitution vorgenommen, um ein Integral zu erhalten, von dem ich weiß, dass es eine geschlossene Form hat. Von dort aus habe ich eine mir bekannte Methode verwendet, um das Integral anzugreifen, allerdings auf eine ungewöhnliche Art und Weise, da der Nenner des Integranden ein Polynom achten Grades ist.« Ich kann nur sagen: Hut ab vor so viel Eifer. Die Geduld muss man erst mal haben.

In den folgenden zwei Jahren wiederholte Cleo ihr Kunststück immer wieder. Insgesamt 39 Lösungen lieferte sie, stets nach dem gleichen Schema: Ein Nutzer fragte nach der Lösung eines komplizierten Integrals, und nur wenige Stunden später erschien eine kryptische Formel, ohne Lösungsweg oder Erklärungen. Auf Cleos Profil lässt sich nachlesen, warum das so ist: »Mein richtiger Name ist Cleo, ich bin weiblich. Ich habe eine Krankheit, die es mir sehr schwer macht, mich an Gesprächen zu beteiligen oder lange Antworten zu schreiben. Ich mag Mathe und tue mein Bestes, um auf dieser Seite nützlich zu sein, obwohl ich weiß, dass meine Antworten vielleicht nicht für jeden hilfreich sind.«

Aber dann, im Jahr 2016, verschwindet Cleo plötzlich. Ihr Profil ist zwar noch da, aber sie ist nicht mehr aktiv. All das befeuert natürlich die wilden Spekulationen der Internet-Community. Wer ist oder wer war Cleo? Ist die Person gestorben? Warum hat sie anonym Lösungen ohne Lösungsweg angegeben?

Auf Geisterjagd

Die Person hinter dem User wurde von Medien wie »Scientific American« mit dem Mathematik-Genie Srinivasa Ramanujan verglichen, der ohne viel Vorbildung eine erstaunliche mathematische Intuition entwickelte – seine Erkenntnisse jedoch nie belegen konnte. Noch heute sind einige seiner Vermutungen Gegenstand der Forschung. War das bei Cleo vielleicht auch so: Sie sah ein Problem und wusste die Antwort intuitiv, ohne sie konkret herleiten zu können?

Andere vermuteten hinter dem anonymen Usernamen eine renommierte Fachperson, wie Terence Tao, Stephen Hawking oder Maryam Mirzakhani. Tatsächlich starben die beiden letztgenannten kurz nach dem Beginn von Cleos Schweigen, was die Theorie erhärtete.

Auch gab es die Vermutung, ob Cleo nicht selbst die Fragen unter einem Fake-Account formuliert haben könnte. Sie könnte im Voraus die Ableitung einer Funktion f'(x) berechnet haben – wohl wissend, dass dessen Integral wieder die Funktion selbst ergibt: ∫f'(x)dx = f(x). Aber tatsächlich betreffen viele der Antworten Spezialfälle, bei denen diese Regel nicht angewendet werden kann – zur Lösung waren beispielsweise komplizierte Techniken wie der Residuensatz nötig. Nein, Cleo muss die Integrale wirklich gelöst haben.

Einen Nutzer namens Corey :D (beziehungsweise EvilScientist311) ließ die Geschichte nicht los. Die Person errichtete eine Webseite, auf der sie ihre Bemühungen festhielt, um endlich das Geheimnis von Cleo zu lüften.

Corey :D begann damit, alle Profiländerungen von Cleo auf verschiedenen Plattformen (sie war auf drei Foren von Stack Exchange sowie auf I&S aktiv) zu untersuchen, mit Hilfe der »Wayback machine«, einer Plattform, die verschiedene Versionen von Webseiten speichert. Darüber hinaus analysierte die Person alle Kommentare von Cleo ebenso wie ihre präsentierten Lösungen. All das führte nicht wirklich weiter.

Davon ließ sich Corey :D nicht entmutigen und errichtete ein Projekt auf GitHub – einer öffentlich zugänglichen Austausch-Plattform, bei der man vorrangig an Programmcodes arbeiten kann. Das Cleo-Analysis-Projekt sollte alle Daten, die es im Internet zu Cleo zu finden gibt, unter die Lupe nehmen. Unter anderem umfasst die Analyse sämtliche 19 User, deren Fragen Cleo in der Vergangenheit beantwortet hat.

Bei der Untersuchung fiel Corey :D auf, dass alle Nutzenden (also die User, deren Fragen Cleo beantwortet hatte) offenbar phasenweise auf Stack Exchange aktiv waren – und viele von ihnen in ähnlichen Zeiträumen (etwa im Mai 2013 oder im Oktober 2013). Um auszuschließen, dass es sich dabei um ein allgemeines Muster handelt, untersuchte Corey :D zudem die aktiven Zeiten von zufälligen Stack Exchange-Nutzenden – und stieß dabei nie auf solche Ähnlichkeiten.

Damit ergab sich ein erster Verdacht: Konnte es sein, dass ein und dieselbe Person all diese 19 Userkonten steuerte? Corey :D hat da eine ganz eigene Vermutung: »Ich persönlich glaube, dass eine Gruppe von Freunden, die sich während des Studiums kennen gelernt haben, beschlossen hat, das Cleo-Konto einzurichten, bei dem eine Person die Fragen beantwortet, die von den Konten der anderen Freunde gepostet wurden (natürlich waren sie bereits gelöst). Sie erstellten das Konto in der Mitte ihres Mathematikstudiums und führten es bis zu ihrem Abschluss weiter, woraufhin sie Arbeit fanden und sich trennten, so dass sie das Cleo-Konto nicht mehr weiterführten.« Das klingt plausibel, ist aber nur Spekulation.

Vladimir taucht auf

Doch das Internet wäre nicht das Internet, wenn es sich mit so einer Situation zufriedengäbe. Ein anderer Internet-Detektiv wurde 2024 durch einen Podcast des Content-Creators Joe McCann auf die Cleo-Affäre aufmerksam und hegte – wie viele andere – den Verdacht, dass Cleos Account irgendwie mit dem von Laila Podlesny zusammenhängt (die den ersten Post absetzte, den Cleo beantwortete).

Auf der Nutzerseite von Podlesny ist eine E-Mail-Adresse hinterlegt, die der Internet-Detektiv anschrieb. Darauf kam wie erwartet keine Antwort. Aber der Onlinedetektiv ließ nicht locker: Er versuchte, sich in den angegebenen E-Mail-Account einzuloggen und ließ sich dafür die hinterlegte Backup-E-Mail-Adresse nennen, an die ein Recovery-Link geschickt wurde (was eigentlich aus Sicherheitsgründen nicht möglich sein sollte). Und diese E-Mail-Adresse enthielt nur vier Buchstaben: VRES – die ähneln dem Namen Vladimir Reshetnikov, dessen Fragen Cleo in der Vergangenheit ebenfalls beantwortet hatte.

Joe McCann veröffentlichte Mitte Februar 2025 ein Youtube-Video, in dem er all diese Ergebnisse vorstellte – inklusive der Vermutung, dass Vladimir Reshetnikov hinter Cleo steckt.

Wenn man diesen Namen googelt, findet man die Webseite eines usbekischen Professors für Mathematik und Mechanik an der Universität Sankt Petersburg – also gar nicht so abwegig, dass er der sich als Cleo ausgebende Integral-Virtuose ist. Und dann, wenige Tage nach der Veröffentlichung dieses Videos, tat sich plötzlich etwas auf den Stack-Exchange-Nutzerprofilen von Laila Podlesny und Vladimir Reshetnikov.

In den Profilinformationen findet sich unterhalb der E-Mail-Adressen nun ein kryptischer Code: »H4sIAN8vpGcC/3PMKUkt0k1Nz1fIT1NwzknN11FILkpNLElNUUiqVAjLSUzJzM0 sUghKLc5ILcnLzM4vAwAyL1G/MgAAAA==« bei Podlesny und »H4sIABKqo2cC/3MuSk0syS9SyE9TcM5JzQcAWwIygQ8AAAA=« bei Reshetnikov. Dabei handelt es sich um eine Base64-Encodierung, welche die Internet-Community natürlich schnell knackte. So steht die Zeichenfolge in Podlesnys Profil für »Alter-ego of Cleo, created by Vladimir Reshetnikov« und die zweite für: »Creator of Cleo«.

Damit scheint nun festzustehen: Vladimir Reshetnikov ist Cleo. Auf der Plattform X bestätigte Reshetnikov das.

Eine Frage stellt sich jedoch weiterhin. Wenn Reshetnikov tatsächlich Cleo ist, warum liefert er dann nicht den endgültigen Beweis, indem er das Nutzerprofil von Cleo verändert; so wie er es bei den anderen Profilen getan hat? Vielleicht geht ein fleißiger Internet-Detektiv bald auch diesem Mysterium nach.

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