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Lexikon der Ernährung: Essstörungen

Essstörungen

Werner Köpp, Berlin

In der Medizin ist man gewohnt, Essen unter dem Aspekt der Nahrungsaufnahme bzw. der Nahrungsverwertung zu betrachten. Damit ist der Vorgang des Essens aber nicht hinreichend charakterisiert. Essen hat auch eine Bedeutung vor dem jeweils kulturellen Hintergrund. Wir sprechen geradezu von einer Esskultur und viele Festlichkeiten sowie religiöse Rituale finden im Zusammenhang mit einem Festessen statt. Verschiedene Lebensereignisse, wie Taufen, Hochzeiten, Geburtstage und Beerdigungen, aber auch z. B. politische Empfänge werden oft von großen Festgelagen begleitet. Und jemanden „zum Essen“ einladen, bedeutet schließlich auch, sich ihm / ihr intensiv zuzuwenden.
Die Nahrungsaufnahme ist schon im Säuglingsalter zwingend ein kommunikativer Akt zwischen Individuum und Umwelt. Hierbei kommt es nicht nur darauf an, dass Nahrung zugeführt wird, sondern auch darauf, wie das geschieht. Viele Volksmärchen thematisieren daher nicht nur die existenzielle Angst vor Hungersnot, sondern auch die Themen „Liebeszuwendung“ und „Liebesentzug“, die von früher Kindheit an in unserem Erleben mit der Nahrungsaufnahme verbunden sind und eine Repräsentanz in unserer Seele gefunden haben. Nahrungsaufnahme und Körperpflege konstituieren sozusagen unsere frühesten Beziehungserlebnisse. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch in der deutschen Sprache Redewendungen herausgebildet haben, die die Oralität (im psychoanalytischen Sinn verallgemeinernd gedacht als „Kategorie des Habenwollens“) mit dem Erleben von Liebe verknüpfen: „jemandem die Haare vom Kopf fressen“, „jemanden zum Fressen gerne haben“, „Liebe geht durch den Magen“, „sich vor Liebeshunger verzehren“, „jemanden vernaschen“, „jemanden süß finden“ etc.
Das bisher Gesagte sollte zunächst auf allgemein nachvollziehbare seelische und gesellschaftliche Aspekte des Essens verweisen. Die moderne Entwicklung der Ess- und Körperkultur in den technisierten Ländern ist aber auch durch ein Schlankheitsideal gekennzeichnet, das äußerst destruktive Züge annehmen kann und an dem eine ganze Reihe von Berufsbranchen verdienen – z. B. die Diätindustrie, Frauenzeitschriften und Fitnessstudios. Was die Diäten angeht, kann man sagen, dass – abgesehen von medizinisch begleiteten und indizierten Ernährungsmaßnahmen – solche Anstrengungen in aller Regel wirkungslos bleiben. Würde auch nur eine einzige Schlankheitsdiät wirken, bräuchte man nicht immer wieder neue erfinden!
Im Weiteren soll auf die drei wichtigsten psychogenen Essstörungen des Jugend- und Erwachsenenalters eingegangen werden, die als kulturgebundene Syndrome mit multifaktorieller Ursachen- und Entstehungsgeschichte (Ätiopathogenese) verstanden werden können.

Anorexia nervosa(AN)

Definition

Die AN – auch Pubertätsmagersucht genannt – ist durch ein selber herbeigeführtes Untergewicht gekennzeichnet, das mindestens 15 % unter dem zu erwartenden Gewicht liegt.1 Zur klassischen Form der AN gehört bei den Frauen auch das Vorliegen einer Amenorrhoe, die meistens eine Folge des Untergewichtes ist. Bei ca. 10 % der Kranken geht sie allerdings der Gewichtsabnahme voraus.2 Die Betroffenen weisen ein gestörtes Körperbild auf: Trotz ihres fortgeschrittenen Untergewichtes finden sie oft ihren Körper noch immer zu dick und unternehmen weiterhin Aktivitäten, um Kalorien einzusparen (z. B. Diät und / oder Erbrechen) bzw. um vermehrt Kalorien zu verbrauchen (z.B. exzessives Sporttreiben).

Epidemiologie

Mehr als 95 % der AN-Kranken sind Frauen. Betroffen sind ca. 1 % der weiblichen Bevölkerung zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr in den technisch hoch entwickelten Ländern mit einem Häufigkeitsschwerpunkt in der Pubertät. Bis in die 80er Jahre wurde eine erhöhte Prävalenz in der oberen Mittel- und Oberschicht beschrieben – ein Befund, der mittlerweile immer öfter in Frage gestellt wird. Unter allen psychiatrischen und psychosomatischen Diagnosen hat die AN die höchste Mortalitätsrate: Im Verlauf von 20 Jahren sterben trotz Behandlung mehr als 15 % der Kranken.

Ätiopathogenese und
klinisches Erscheinungsbild

Psychisch dominiert ein zwanghaft-asketisches Ideal das Krankheitsbild. Jede Form eigener Triebhaftigkeit wird verdrängt. Das trifft für das Essen ebenso wie für die Sexualität zu. Die Rolle als Frau / Mann wird aktiv zurückgewiesen und ängstlich vermieden. Die sexuelle Reifung wird einerseits verleugnet und andererseits durch die Gewichtsreduktion verhindert. Die Krankheit kommt häufig im Gefolge erster zaghafter, meist ambivalenter sexueller Kontaktversuche zum Ausbruch. In der Regel handelt es sich zusätzlich um einen familiären Ablösungskonflikt im Rahmen einer Adoleszentenkrise, bei dem Anlehnungswünsche gegenüber der Herkunftsfamilie einerseits und expansive Autonomiestrebungen andererseits zu einem zunächst unlösbaren, inneren Konflikt führen. Diese familiäre und auch intrapsychische Dynamik geschieht allerdings vor dem Hintergrund eines Schönheitsideals, das – besonders für Frauen in den hoch entwickelten Ländern – eng mit paradoxen bzw. widersprüchlichen Erwartungen an deren Rollenverständnis verknüpft ist. Dieser Herausforderung entziehen sich die AN-Kranken durch eine paradoxe Übererfüllung des geschlechtsgebundenen Schlankheitsideals.
Wie erwähnt, nehmen die Betroffenen ihren Körper verzerrt war und bewerten ihre eigene Erscheinungsform negativ. Die Wahrnehmungsstörung bezieht sich aber häufig nicht nur auf den eigenen Körper und auf das (verzerrte) Erleben körperlicher Vorgänge; zusätzlich wird auch die tatsächliche Menge der zugeführten Nahrung erheblich überschätzt bzw. die unterkalorische Ernährung verleugnet. Im Gespräch wird von manchen Betroffenen kognitiv und im Sinne der sozialen Erwünschtheit eingeräumt, dass sie wohl untergewichtig seien, aber im Essverhalten setzt sich dennoch ein unbewusster Gegenwille („ich kann nicht anders!“) durch.
Obwohl im Rahmen von Zwillingsstudien gezeigt werden konnte, dass Anlagefaktoren für die Entstehung einer AN eine Rolle spielen können, ist bislang wenig darüber bekannt, worin diese Anlage konkret besteht (z. B. Verminderung des Esstriebes oder der Hungerwahrnehmung?) und welche Penetranz sie hat. Alles in allem scheint die oben geschilderte Konfliktpsychodynamik demgegenüber eine wichtigere Rolle zu spielen. Anlagefaktoren könnten so gesehen determinieren, ob jemand magersüchtig werden kann; aber die psychosoziale Entwicklung bestimmt, ob er es tatsächlich wird!

Bulimia nervosa(BN)

Definition

Rezidivierend (> 1-mal / Wo) tritt ein übermäßiges Essbedürfnis auf, das zu unabweisbaren Essanfällen mit Kontrollverlust führt. Danach werden Maßnahmen ergriffen, um eine mögliche Gewichtszunahme abzuwenden (meist selbst induziertes Erbrechen, aber auch Fasten, die Einnahme von Laxanzien, Diuretika oder Appetitzüglern). Die Betroffenen werden von einer anhaltenden, überwertigen Sorge um ihre körperliche Erscheinungsform, ihr Gewicht und durch zwanghaftes Nachdenken über das Essen gequält.
Die Nahrungsmenge während eines Essanfalles kann mehrere tausend Kilokalorien betragen. Manchmal münden Essanfälle in quälende „Fressorgien“ ein, denen die Betroffenen hilflos ausgeliefert sind.

Epidemiologie

Die Bulimie tritt typischerweise in der späten Adoleszenz (17. / 18. Lj.) auf. Betroffen sind hauptsächlich Frauen der technisch hoch entwickelten Länder. Sie zeigt keine ausgeprägte Schichtspezifität. Der Anteil männlicher Patienten liegt zwischen 5 und 10 % und scheint in den letzten Jahren leicht zuzunehmen. Mit dem Vollbild der Bulimie ist in Deutschland bei ca. 3 % der Frauen zwischen dem 15. und 35. Lj. zu rechnen. Zusätzlich kommen aber bei sehr vielen jungen Frauen bulimische Verhaltensweisen vor, ohne dass das Vollbild einer klinischen Diagnose erreicht wird.

Ätiopathogenese und
klinisches Erscheinungsbild

Während den Anorektikerinnen die asketische Triebunterdrückung weitgehend gelingt, findet bei den Bulimikerinnen ein ständiger Kampf zwischen Triebkontrolle und Triebdurchbruch statt. Die Unterlegenheit gegenüber dem eigenen Trieb wird als beschämende Schwäche bzw. Niederlage erlebt und schuldgefühlshaft verarbeitet. Das verstärkt wiederum die Neigung zur Selbstentwertung (Abb.).
Obwohl das Erscheinungsbild der Bulimie sich als gestörtes Essverhalten präsentiert, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass dies auch der Schwerpunkt der Psychopathologie ist. Im Rahmen einer seelischen Regression auf frühere psychische Entwicklungsstufen ist die Verschiebung von Konflikten anderer Antriebsgebiete (z. B. Aggression, Sexualität, überwertige und ständig frustrierte Anlehnungswünsche) häufig.
Zwar gibt es keine einheitliche Persönlichkeitsstruktur, doch weisen mehr als 20 % der Betroffenen neben ihrer Essstörung auch noch eine Persönlichkeitsstörung auf. An eine schwere Persönlichkeitsstörung muss insbesondere dann gedacht werden, wenn außer der BN auch noch andere, vor allem substanzgebundene Abhängigkeiten bestehen (z. B. Akohol oder andere Drogen).
Die Psychodynamik der BN ist in mancher Hinsicht jener der AN nicht unähnlich. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die eigene Triebhaftigkeit, die inneren und äußeren Konflikte den BN-Patientinnen erlebnisnäher sind. Sie erleben dadurch stärker als die AN-Patientinnen die Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Erlebniswelt und ihrer sozialen Situation: Die BN tritt oft im Rahmen eines ambivalent getönten, spannungsreichen Ablösungskonfliktes während der späten Adoleszenz auf. In dieser Lebensphase sind Heranwachsende seelisch besonders verletzlich. Sie müssen ihre Rolle als Erwachsene finden und sie ich-gerecht gestalten. Sie müssen sich abgrenzen gegenüber ihrer Herkunftsfamilie und deren Normen, die z. T. nicht mehr zu den neuen Erfordernissen in der Gesellschaft und in der Gruppe der Gleichaltrigen passen. Gleichzeitig wird erwartet, dass sie sich loyal zu ihrer Herkunftsfamilie verhalten. Die Coping-Fähigkeiten (d. h. die zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewältigung von Problemen) werden dabei auf eine harte Probe gestellt, an der Betroffene mit einer schwächeren Ich-Struktur in konfliktbeladenen Familien scheitern. Das geht oft mit depressiven Verstimmungen einher.
Auch im Umgang mit dem eigenen Körper gibt es bei der BN Parallelen zur AN, aber auch deutliche Unterschiede: Bei der BN zielt die Gewichtsregulation auf ein „Normalgewicht“ im Sinne sozialer Erwünschtheit. Das internalisierte und überall propagierte Schönheitsideal soll möglichst „punktgenau“ erfüllt werden. Daher weisen BN-Betroffene meistens nur ein geringes Untergewicht, ein Gewicht im Normbereich oder sogar leichtes Übergewicht auf. Der häufige Wechsel von Diätmaßnahmen und Essdurchbrüchen kann zu dem sog. Jo-jo-Effekt führen: Eine zwischenzeitlich erfolgreiche Gewichtsreduktion, die aber niemals durchgehalten werden kann und letzlich zu einem Gewicht führt, das über dem unerwünschten Ausgangsgewicht liegt. Manche Patientinnen drängen dann sogar auf chirurgische Operationen, die ihre Anatomie verändern sollen. Weil sie es unerträglich finden, nicht wie ein Katalogmannequin aussehen zu können, hassen sie ihre eigenen Körperformen (insbesondere die natürlichen Vorwölbungen des Bauches und des Gesäßes).

Medizinische Folgen von
Anorexia nervosa und
Bulimia nervosa

In vielen Fällen wird von den Betroffenen das pathologische Essverhalten beim Arztbesuch verheimlicht. Stattdessen wird über unspezifische Symptome und Beschwerden geklagt (Tab. 1), die häufig diagnostische und therapeutische Umwege nach sich ziehen.
Bei der körperlichen Untersuchung finden sich bei der AN sowohl jene typischen Funktionsänderungen, mit denen der Körper Energie einzusparen versucht, als auch solche Befunde, die auf ein zunehmendes Versagen verschiedener Organsysteme hinweisen. Die körperlichen Routinebefunde bei der BN sind insgesamt geringer ausgeprägt als bei der AN (Tab. 1).
Die Veränderungen der Laborwerte (Tab. 1) resultieren bei der AN vor allem aus dem Energiedefizit und aus dem Fehlen essenzieller Nahrungsbestandteile, bei der BN vor allem aus den Folgen der Elektrolytverschiebung im Gefolge des Erbrechens (renale Kompensationsversuche des H-Ionenverlustes).

Behandlungsmöglichkeiten

Die Behandlung von AN und BN ist prinzipiell integrativ, d. h. fächerübergreifend und interdisziplinär. Die fünf Säulen einer solchen Behandlung sind in Tab. 2 dargestellt.
Der Schwerpunkt der Behandlung und auch die Frage nach zunächst stationärer Behandlung richtet sich nach dem Schweregrad der Essstörung. Für die AN gilt, dass die Erkrankung umso schwerer ist, je niedriger der Körpermassenindex ist und je mehr aktive Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ergriffen werden. Ein Körpermassenindex von weniger als 13 kg / m² gilt in der Literatur als einer der wichtigsten Prädiktoren für spätere Mortalität.
Bei der BN nimmt der Schweregrad mit der Häufigkeit der Heißhungerattacken und der Essanfälle zu.
Für die Einschätzung, ob eine zunächst stationäre Behandlung stattfinden muss, spielen außer der Schweregradeinschätzung auch eine mögliche Komorbidität und psychosoziale Kriterien eine Rolle.
Fast alle AN-Patientinnen müssen zunächst wegen der gefährlichen medizinischen Situation stationär internistisch und psychosomatisch behandelt werden. Die Notwendigkeit einer initialen stationären Behandlung ist zwar bei der BN nicht so oft gegeben, doch können auch hier Situationen eintreten, die eine Klinikaufnahme unabdingbar machen: Jegliche organische Komorbidität (z. B. ein parallel bestehender Diabetes mellitus Typ 1 oder ein Asthmaleiden) erzwingt auch bei der BN eine stationäre Behandlung bei Neuentdeckung der Essstörung. Ebenso können akute Folgen der BN – z. B. Magenparese oder das versehentliche Verschlucken von Gegenständen, die bei der Pharynxreizung verwendet wurden – eine akute stationäre Behandlung erfordern.
Häufig – insbesondere bei der BN – stehen aber auch psychische und psychosoziale Indikationskriterien für eine initial stationäre Behandlung im Vordergrund: Eine festgefahrene familiäre Situation, kleptomanische Verhaltensweisen zur Lebensmittelbeschaffung, akut zugespitzte Partnerschaftskrisen und eine allgemeine Perspektivlosigkeit in beruflicher Hinsicht sind hierbei die häufigsten Gründe.
Es ist heute allgemein akzeptiert, dass nach einer stationären Behandlung – egal ob der Behandlungsschwerpunkt internistisch oder psychotherapeutisch war – eine weiterführende ambulante Psychotherapie unerlässlich ist. Nur im Falle einer relevanten psychiatrischen Begleitstörung (z. B. schwere Depression) ist evtl. der Einsatz von Psychopharmaka angezeigt. In jüngerer Zeit wird allerdings vermehrt diskutiert, ob bei der BN (nicht bei der AN!) Fluctin einen adjuvanten Effekt zur Psychotherapie haben kann, der hilft, den Verlauf von Heißhungerattacken abzumildern.
Sowohl die stationäre wie auch die ambulante medizinische und psychotherapeutische Behandlung sollte in den Händen von Ärztinnen und Ärzten liegen, die ausreichende Erfahrungen mit Essstörungen haben. Keinesfalls sollte z. B. bei einer AN das sog. Low T3-Syndrom mit Thyroxin oder eine Bradykardie mit einer Frequenz von über 40 / min. sympathikomimetisch behandelt werden. Immer wieder vorkommende Synkopen können Folge einer Hypovolämie, einer Hypoglycämie oder auch durch Herzrhythmusstörungen ausgelöst sein bzw. durch eine erhöhte zerebrale Anfallsbereitschaft (bei Elektrolytstörung) zu Stande kommen.
Leider muss bei den Essstörungen auch mit Langzeitfolgen gerechnet werden: Die Schwangerschaften von ehemals Essgestörten verlaufen häufiger kompliziert und im späten Erwachsenenalter sind die ehemals Essgestörten stärker als andere osteoporosegefährdet. In seelischer Hinsicht persistiert oft – trotz normalisierten Essverhaltens – eine weiterhin gestörte, von Lustlosigkeit geprägte Einstellung zur Nahrungsaufnahme und bei den ehemals AN-Kranken eine abweisende Haltung gegenüber der eigenen Triebhaftigkeit.

Psychotherapeutische Ansätze

Die wichtigsten Psychotherapiemethoden bei AN und BN sind in Tab. 3 dargestellt. Es ist heute – insbesondere für die stationäre Behandlung von AN und BN – Konsens, dass diese nicht alternativ, sondern additiv entweder parallel oder nacheinander angewandt werden sollten.

Erste Schritte

Am Anfang der therapeutischen Bemühungen steht die Realitätsprüfung – also die genaue Erfassung der körperlichen und seelischen Störungen – ganz im Vordergrund. Es geht dabei nicht nur darum, dass von Seiten der behandelnden Person die verschiedenen Dimensionen des Beschwerdebildes erkannt und verstanden werden, sondern auch darum, der Patientin ihre Situation näher zu bringen. Das bedeutet, geduldig und nicht vorwurfsvoll bereits zu diesem Zeitpunkt an den Verleugnungstendenzen der Patientin zu arbeiten. Die Realitätsprüfung stellt auch einen therapeutischen Umgang mit der Abwehr (eigener Selbstwahrnehmung) der Patientin und ihrem Widerstand (gegen die Therapie) dar.

Arbeit am Symptom

Im Weiteren steht die Arbeit am Symptom im Vordergrund. Manche Patientinnen sind in so starkem Maße in ihr pathologisches Essverhalten verstrickt, dass sie – im Falle der AN – laufend und zwanghaft über das Essen nachdenken müssen; die BN-Betroffenen verlieren sich oft in einer Art Fress-Orgie, die gezielt unterbrochen werden muss, damit überhaupt Gespräche möglich werden. Zu diesem Zeitpunkt bedeutet „Arbeit am Symptom“ in der Regel, dass verhaltensmodifikatorische Techniken stärker die Therapie bestimmen als psychodynamische. Esstagebuch, Pläne über Frequenz und Zusammensetzung der Mahlzeiten sowie das Organisieren anderer, vom Essen unabhängiger Maßnahmen sollen die fehlende Selbstkontrolle durch vorübergehende Außensteuerung substituieren.

Psychodynamische Phase

Erst nach der Bewältigung dieser ersten Schritte findet eine Psychotherapie statt, die im engeren Sinne psychodynamisch ist – d. h. einsichtsorientiert im Kontext bearbeiteter, bislang verdrängter Affekte. Das heißt auch, dass nun die reine Symptomebene verlassen (nicht vergessen!) werden kann. Stattdessen werden stärker eigene Verhaltens- und Erlebnisweisen innerhalb und außerhalb der Therapie beleuchtet. Die in der Psychoanalyse so wichtig gewordene therapeutische Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung ist dabei von großer Wichtigkeit und erleichtert das Verständis außertherapeutischer Kontakte bzw. Konflikte.
Ob mehr eine psychodynamische Arbeit am Trieb-Abwehrkonflikt stattfindet, oder die Entwicklung des Selbst bzw. des Ich das eigentliche Therapieziel ist, hängt vom Vorliegen einer zur Modifikation zwingenden Komorbidität (z. B. Borderline-Syndrom) ab. Unabhängig von der jeweils aktuell eingesetzten psychotherapeutischen Methode ist das oberste Ziel jedes Verfahrens, den Betroffenen mit therapeutischer Hilfe einen neuen Weg zu eröffnen, der ihrem Autonomie- und Anlehnungsstreben eine ichgerechte Ausdrucksform ermöglicht und nicht mehr die Zerstörung des eigenen Körpers benötigt.

Prognose

Therapie-Langzeitstudien zeigen, dass ca. 55 % der AN- und 70 % der BN-Kranken im Verlauf mehrerer Jahre geheilt werden können. Bei manchen AN-Kranken geht die hypophage Essstörung in eine BN über (ca. 40 % der BN-Patientinnen hatten früher einmal ein AN). Bei ungefähr 20 % der AN- und BN-Patientinnen lässt sich therapeutisch eine deutliche Besserung, aber keine Heilung erzielen. Bei dem Rest der Betroffenen wird keine Besserung erzielt oder es tritt sogar eine Verschlechterung des Krankheitsbildes auf. Die Mortalitätsrate ist – wie oben erwähnt – bei der AN mit ca. 15 % deutlich höher als bei der BN (unter 5 %). Nach initialer Besserung oder Heilung kann es besonders bei der BN immer wieder zu Rückfällen in das alte, pathologische Essverhalten kommen. Spontanremissionen kommen bei der AN sehr selten und bei der BN etwas häufiger vor, wobei diese Möglichkeit allerdings mit zunehmender Krankheitsdauer immer unwahrscheinlicher wird.

Ess-Sucht
(Binge Eating Disorder – BED)

Diese Essstörung soll nur kurz behandelt werden, weil unter den Wissenschaftlern noch nicht ganz klar ist, ob es sich um eine eigene Krankheitsentität handelt oder ob nicht in Wirklichkeit eine Unterform der BN vorliegt.
BED ist gekennzeichnet durch wiederkehrende Essattacken (manchmal auch nachts), die wie bei der BN durch Heißhungerattacken eingeleitet werden und bei denen auch ein Kontrollverlust stattfindet. Da keine Maßnahmen zur Verhinderung einer möglichen Gewichtszunahme ergriffen werden, kann bei den Betroffenen mit entsprechender Anlage zur Adipositas zunehmend ein Übergewicht die Folge sein. Beleitende depressive Störungen sind hierbei häufig, ebenso wurden Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen bei den Betroffenen gehäuft gefunden.
Die US-amerikanische Psychiatrische Gesellschaft hat diese Störung zunächst einmal als eigenständige Diagnose im DSM IV eingeführt. In der ICD-Klassifikation der WHO dagegen wird die BED nicht als eigenständige Krankheit geführt.
Die Psychotherapie unterscheidet sich kaum von der der BN: Die inneren Konflikte, die zu Essattacken führen und die kognitive Beeinflussung des pathologischen Essverhaltens stehen auch hier im Fokus der psychodynamischen und verhaltensmodifikatorischen Bemühungen. In internistischer Hinsicht muss jedoch die Adipositasbehandlung besonders beachtet werden.

Weiterführende Literatur:

S. Baeck, Eßstörungen bei Kindern und Jugendlichen.Ein Ratgeber für Eltern, Angehörige, Freunde und Lehrer. Lambertus, Freiburg / Breisgau, 1994.

H.C. Deter u. W. Herzog, Langzeitverlauf der Anorexia nervosa – Eine 12-Jahres-Katamnese. Vandenhoeck & Ruprecht, 1995.

W. Herzog et al. (Hrsg.): Analytische Therapie bei Eßstörungen – Therapieführer. Schattauer, Stuttgart, 2000 (2. Aufl.).

W. Köpp und G.E. Jacobi (Hrsg): Beschädigte Weiblichkeit – Essstörungen, Sexualität und sexueller Missbrauch. Asanger, Heidelberg, 2000 (2. Aufl.).

G. Reich, M. Cierpa (Hrsg): Psychotherapie der Eßstörungen. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis, störungspezifisch und schulenübergreifend. Thieme, Stuttgart, 1997.

J. Westenhöfer, Eßstörungen – Anorexia nervosa – Bulimia nervosa – Binge Eating Disorder. Aktuelle Ernährungsmedizin 21 (1996) 235–242.


Esstörungen: Dynamisches Bedingungsgefüge für die Bulimia nervosa. Esstörungen

Essstörungen: Tab. 1. Häufig beklagte Beschwerden, körperliche Untersuchungsbefunde und Laborwerte bei Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN); (+= vorhanden, (+)= fakultativ vorhanden, – = nicht vorhanden, *= nur, wenn Erbrechen praktiziert wird).

ANBN
Beschwerden
unregelmäß. Zyklusentfällt+
Amenorrhö+(+)
Obstipation+(+)
Bauchschmerz(+)
Schwächegefühl(+)+
Schwindel(+)(+)
Bewegungsdrang+
Heißhunger+
Libidomangel+
Appetitlosigkeit+
Befunde der
körperlichen Untersuchung
Kachexie+
Trockene Haut+
Lanugobehaarung+
Petechien(+)
Ödeme(+)(+)
Akrozyanose+
Hypothermie+
Bradykardie+
Arrhythmie *(+)(+)
Hypotension+(+)
Sialadenose *
(Schwellung d. Speicheldrüsen)
(+)+
Zahnschäden *(+)+
Laborbefunde
Hyperamyalasämie *(+)+
Hypokaliämie *(+)+
Hypochloridämie *(+)+
Hyponatriämie *(+)(+)
Metabol. Alkalose+
Metabol. Acidose+
erhöhtes S.-Kreatinin+
erhöhte SGPT(+)
erhöhte SGOT(+)
erhöhte BSG(+)
erhöhtes S.-Bilirubin(+)
Hb-Erniedrigung+
Leukocytopenie+
Hypalbuminämie+
erniedr. Zyklushormone+
erniedr. Thyroxin (T3)+
Vitaminmangelzustände+
ANBN

Essstörungen: Tab. 2. Die fünf Behandlungssäulen einer integrativen, disziplinübergreifenden Behandlung bei AN und BN.

BehandlungsformBeispiele
essstörungsspezifische MaßnahmenErnährungsberatung
medizinische Behandlung körperlicher Veränderungen bzw. Folgeschädenkünstliche Ernährung; Elektrolyt-Infusionen
PsychotherapieVerhaltensth., psychodynamische Th., Familienth., kreative Medien etc.
psychosoziale Integrationbetreute Wohngemeinschaft
evtl. psychopharmakologische BehandlungFluctin bei BN; andere Depressiva bei gleichzeitig vorliegender Depression

Essstörungen: Tab. 3. Die wichtigsten Psychotherapieformen bei der Behandlung von AN und BN.

BehandlungsformIndikation
kognitive Verhaltenstherapiebesonders bei chronifizierten, dysfunktionalen Gedanken
psychodynamische Therapiebesonders bei Selbstwertproblemen, Reifungskrisen, Traumata
Familientherapiebesonders bei Ablösungskonflikten u. gestörter Familieninteraktion
körperorient. Psychoth. u. Arbeit mit kreativen Medienz. B. erlebniserweiterndes Malen, konzentrative Bewegungstherapie
  • Die Autoren

Albus, Christian, Dr., Köln
Alexy, Ute, Dr., Witten
Anastassiades, Alkistis, Ravensburg
Biesalski, Hans Konrad, Prof. Dr., Stuttgart-Hohenheim
Brombach, Christine, Dr., Gießen
Bub, Achim, Dr., Karlsruhe
Daniel, Hannelore, Prof. Dr., Weihenstephan
Dorn, Prof. Dr., Jena
Empen, Klaus, Dr., München
Falkenburg, Patricia, Dr., Pulheim
Finkewirth-Zoller, Uta, Kerpen-Buir
Fresemann, Anne Georga, Dr., Biebertal-Frankenbach
Frenz, Renate, Ratingen
Gehrmann-Gödde, Susanne, Bonn
Geiss, Christian, Dr., München
Glei, Michael, Dr., Jena (auch BA)
Greiner, Ralf, Dr., Karlsruhe
Heine, Willi, Prof. Dr., Rostock
Hiller, Karl, Prof. Dr., Berlin (BA)
Jäger, Lothar, Prof. Dr., Jena
Just, Margit, Wolfenbüttel
Kersting, Mathilde, Dr., Dortmund
Kirchner, Vanessa, Reiskirchen
Kluthe, Bertil, Dr., Bad Rippoldsau
Kohlenberg-Müller, Kathrin, Prof. Dr., Fulda
Kohnhorst, Marie-Luise, Bonn
Köpp, Werner, Dr., Berlin
Krück, Elke, Gießen
Kulzer, Bernd, Bad Mergentheim
Küpper, Claudia, Dr., Köln
Laubach, Ester, Dr., München
Lehmkühler, Stephanie, Gießen
Leitzmann, Claus, Prof. Dr., Gießen
Leonhäuser, Ingrid-Ute, Prof. Dr., Gießen
Lück, Erich, Dr., Bad Soden am Taunus
Lutz, Thomas A., Dr., Zürich
Maid-Kohnert, Udo, Dr., Pohlheim
Maier, Hans Gerhard, Prof. Dr., Braunschweig
Matheis, Günter, Dr., Holzminden (auch BA)
Moch, Klaus-Jürgen, Dr., Gießen
Neuß, Britta, Erftstadt
Niedenthal, Renate, Hannover
Noack, Rudolf, Prof. Dr., Potsdam-Rehbrücke
Oberritter, Helmut, Dr., Bonn
Öhrig, Edith, Dr., München
Otto, Carsten, Dr., München
Parhofer, K., Dr., München
Petutschnig, Karl, Oberhaching
Pfau, Cornelie, Dr., Karlsruhe
Pfitzner, Inka, Stuttgart-Hohenheim
Pool-Zobel, Beatrice, Prof. Dr., Jena
Raatz, Ulrich, Prof. Dr., Düsseldorf
Rauh, Michael, Bad Rippoldsau
Rebscher, Kerstin, Karlsruhe
Roser, Silvia, Karlsruhe
Schek, Alexandra, Dr., Gießen
Schemann, Michael, Prof. Dr., Hannover (auch BA)
Schiele, Karin, Dr., Heilbronn
Schmid, Almut, Dr., Paderborn
Schmidt, Sabine, Dr., Gießen
Scholz, Vera, Dr., Langenfeld
Schorr-Neufing, Ulrike, Dr., Berlin
Schwandt, Peter, Prof. Dr., München
Sendtko, Andreas, Dr., Gundelfingen
Stangl, Gabriele, Dr. Dr., Weihenstephan
Stehle, Peter, Prof. Dr., Bonn
Stein, Jürgen, Prof. Dr. Dr., Frankfurt
Steinmüller, Rolf, Dr., Biebertal
Stremmel, Helga, Bad Rippoldsau
Ulbricht, Gottfried, Dr., Potsdam-Rehbrücke
Vieths, Stephan, Dr., Langen
Wächtershäuser, Astrid, Frankfurt
Wahrburg, Ursel, Prof. Dr., Münster
Weiß, Claudia, Karlsruhe
Wienken, Elisabeth, Neuss
Wisker, Elisabeth, Dr., Kiel
Wolter, Freya, Frankfurt
Zunft, Hans-Joachim F., Prof. Dr., Potsdam-Rehbrücke

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