Lexikon der Geowissenschaften: Wahrnehmung
Wahrnehmung, aktiver und konstruktiver Prozeß, in dem Informationen stark selektiert und den Erfordernissen der Verhaltenssituationen entsprechend aufgenommen werden. Die Wahrnehmung erfolgt unter dem Einfluß von Gedächtnisinhalten, Emotionen, Motivationen und Erwartungen (Gedächtnis). Sie hat das Ziel, Informationen aus der Umwelt zu gewinnen, um sich in dieser Umwelt möglichst erfolgreich zu verhalten. Daher kann die Aufmerksamkeit auf bestimmte Merkmale gelenkt werden, auf deren Wahrnehmung besonderen Wert gelegt wird. Die Gesetzmäßigkeiten der visuellen Wahrnehmung sind für die Gestaltung kartographischer Medien von weitreichender Bedeutung. Alle kognitionspsychologischen Ansätze gehen davon aus, daß sich die Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung optisch dargebotener Informationen als Prozeß beschreiben läßt, der über mehrere Ebenen verläuft: Vom ersten Blick auf eine Karte über das Verständnis des Gesehenens bis zur Einprägung im Gedächtnis. Obwohl es eine sachlogische Abfolge von der Wahrnehmung bis zum Verstehen gibt, laufen die Prozesse auf den Ebenen parallel und interaktiv ab. Auf den ersten Blick liefert das visuelle System eine spontane Organisation der Vorlage durch Erkennen und Unterscheiden einzelner visueller Figuren und deren Zuordnung zu Konfigurationen. Auf dieser untersten Ebene der Verarbeitung werden nur die visuellen Rohdaten bereitgestellt, ohne daß eine inhaltliche Auswertung stattfindet (= subsemantische Verarbeitung). Diese Prozesse verlaufen bottom-up und parallel, sie sind nur in geringem Maße vom Vorwissen abhängig und kaum willentlich beeinflußbar. Sie werden deshalb als präattentive oder voraufmerksame Verarbeitungsprozesse bezeichnet. Einige der Prozesse, die aus visuellen Merkmalen eine gegliederte Wahrnehmung konstruieren, sind gut untersucht, wie z.B. die sogenannten Gestaltgesetze. Die voraufmerksame Ebene der visuellen Verarbeitung ist damit weitestgehend von den Eigenschaften der Präsentationsvorlage abhängig. Sie bestimmt den ersten Eindruck, den eine Karte, ein Bild oder Diagramm bei den Betrachtenden hinterläßt: Ist die Karte gut gegliedert und übersichtlich oder wirkt sie unstrukturiert? In welche Bestandteile läßt sie sich zerlegen? Da Karten und andere visuelle Medien Informationen mit elementaren graphischen Mitteln wie Punkten, Linien, Flächen und Formen präsentieren, können die Auswirkungen der Gestaltfaktoren dort eindrücklich beobachtet werden. Das visuelle System muß bei der Kartennutzung nicht nur die Grenzen zwischen dem Objekt (z.B. Kartenzeichen) und dem Hintergrund hervorheben, sondern diese auch verfolgen können. Für die Kartengestaltung läßt sich daraus ableiten, daß die Differenzierung der Zeichen primär nach der konturorientierten Form und sekundär nach der Modifizierung des Zeicheninneren erfolgen sollte, um eine rasche, aber auch eindeutige Formwahrnehmung im Interesse der Zeichenidentifikation zu erreichen. Die Formwahrnehmung wird durch die Beobachtungssituation, insbesondere durch die Größe des Gegenstandes (z.B. Kartenzeichen), den Abstand vom Beobachter (Kartennutzer) und den Kontrast zwischen Gegenstand und Hintergrund (z.B. dem Kartenblatt mit den darauf befindlichen Kartenzeichen) bestimmt. Insgesamt erlaubt der gezielte Einsatz der Gestaltgesetzte im Rahmen der Kartenmodellierung, die Aufmerksamkeit bzw. Wahrnehmung des potentiellen Nutzers in einem begrenzten Umfang zu steuern. Grundsätzlich gilt: Auch wenn die voraufmerksame Verarbeitung noch bedeutungsfrei ist, kann sie bestimmte Interpretationen vorbereiten. Die zweite Ebene der präattentiven Verarbeitung führt ausgehend von den visuellen Rohdaten zur Wahrnehmung einer bestimmten räumlichen Konfiguration, die dann Gegenstand einer konzeptgeleiteten Analyse wird. Diese erfolgt bewußt und wird sowohl vom Vorwissen als auch von den jeweiligen Zielsetzungen beeinflußt. Mit der attentiven (= aufmerksamen) Verarbeitung wird gewissermaßen vom einfachen Wahrnehmen zur bewußten Analyse und zum Verstehen der betreffenden Karte oder Graphik übergegangen. Diese zweite Ebene der Verarbeitung ist von Zielsetzungen und dem Vorwissen des Betrachtenden abhängig. Die visuelle Aufmerksamkeit wendet sich nacheinander besonders informationshaltigen Ausschnitten der Vorlage zu. Während auf der voraufmerksamen Ebene eine parallele Verarbeitung über das Sehfeld hinweg stattfindet, verläuft jetzt die Verarbeitung sequentiell. Die Interpretation optischer Vorlagen geschieht durch eine Abfolge von Fixationen und Augenbewegungen. Dabei ist die Abfolge der Augenbewegungen interessen- oder aufgabenorientiert. Der Betrachtende schaut dorthin, wo er wichtige Informationen in der Vorlage vermutet. Zentraler Prozeß der aufmerksamen Verarbeitung ist die Klassifikation. Klassifikation bedeutet, daß die Eigenschaften der sensorisch wahrgenommenen Objekte in vertraute Kategorien eingeordnet werden. Während einer Fixation kategorisiert die betrachtende Person die visuelle Information mit Hilfe von Vorwissen (Schemata), d.h. erkennt und benennt sie teilweise. Darauf aufbauend wird entschieden, welches Bildareal als nächstes fixiert wird. Die Ebene der aufmerksamen Verarbeitung ist für die Modellierung aufgaben- und nutzerorientierter kartographischer Medien interessant, weil sie Hinweise gibt, wie der Blickverlauf und damit die Verarbeitung gesteuert werden kann. So kann die Kartengestaltung angeborene oder gelernte Blickzuwendungen ausnutzen. Dies ist z.B. der Fall, wenn Hervorhebungen eine Blickzuwendung erzwingen oder durch die Anordnung ein Blickpfad nahegelegt wird. Auf einer dritten Ebene (elaborative Verarbeitung) geht es um ein vertiefendes Verstehen der graphischen Präsentation, das nicht nur Inhalte, sondern auch die damit bezweckte Mitteilung umfaßt. Ein weitergehendes Verstehen ordnet auf dieser Ebene der Verarbeitung das Wahrgenommene in größere Zusammenhänge ein, d.h. es interpretiert es. Dabei handelt es sich um durch die Karte ausgelöste, aber über ihren eigentlichen Inhalt hinausgehende Schlußfolgerungen, Assoziationen und Vorstellungen, die durch vorhandenes Wissen vermittelt werden. Unterstützt werden diese Vorgänge durch sogenannte kognitive Schemata, in denen allgemeines und fachbezogenes Faktenwissen sowie prozedurales Methodenwissen strukturiert sind. Auf dieser Ebene entscheidet sich letztlich, ob die aktuelle Aufgabenstellung des Kartennutzers bzw. sein individuelles Wissensdefizit mit Hilfe der Karte ausgeglichen werden kann. Wahrnehmung besteht also aus physiologischen Prozessen, nämlich Entdecken und Unterscheiden, sowie konzeptionellen Prozessen, bei denen das Gedächtnissystem als Speicher von Konzepten eine zentrale Rolle spielt. Auf dieser Besonderheit der Wahrnehmung basiert psychologisch letztlich die große Bedeutung der Leitsignaturen und Leitfarben in der Kartographie, insbesondere in ihrer Bedeutung für Erhöhung der Decodiergeschwindigkeit, weil der Umfang der zum Vergleich benötigten Gedächtnismuster geringer ist. [FH]
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