Lexikon der Mathematik: Gebrochene Analysis
Die gebrochene Analysis, auch Fractional Calculus genannt, ist ein Teilgebiet der Analysis, in dem die zu n ∈ ℕ gebildete höhere Ableitungf(n) und n-fach iterierte Integration \(\displaystyle \int {\ldots \\ n}\displaystyle \int f\) geeigneter reeller Funktionen f verallgemeinert werden auf den Fall nicht-ganzzahliger n.
Es geht also darum, zu einer Funktion f : [a, b] → ℝ, wobei a, b ∈ ℝ seien mit a< b, für q ∈ ℝ (oder sogar q ∈ ℂ) Funktionen Dqf : [a, b] → ℝ so zu definieren, daß D0f = f gilt, Dnf = f(n) für n-mal differenzierbares f und
Erste Ideen zu gebrochenen Ableitungen entwickelte schon ab 1695 Gottfried Wilhelm Leibniz \((q\space =\space \frac{1}{2})\), und auch Leonhard Euler stellte 1730 die Frage, wie man n-te Differentialquotienten für nicht-ganze n definieren könne. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Ableitungen und Integralen besitzen Differintegrale keine unmittelbar anschauliche Interpretation als Steigungen oder Flächeninhalte. Die gebrochene Analysis hat aber durchausnützliche Anwendungen sowohl innerhalb der Mathematik (etwa bei partiellen Differentialgleichungen) als auch in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, z. B. in Rheologie und Diffusionstheorie) gefunden, wobei Differentialgleichungen mit Ableitungen nicht-ganzer Ordnungen eine wichtige Rolle spielen.
Je nach Verwendungszweck ist es vorteilhaft, Differintegrale auf verschiedene Weisen zu definieren, von denen einige kurz dargestellt seien:
Differenzenquotienten und Riemann-Summen. Ist fn-mal differenzierbar an der Stelle x, so gilt:
Setzt man
Die Stellen x − jϵp für j = 0,…, p − 1 definieren eine Zerlegung von [a, x]. Ist f über [a, x] Riemann-integrierbar, so lassen sich damit die iterierten Integrale als Grenzwerte von Riemann-Summen ausdrücken:
Mit
Das Residuum von Γ an der Stelle −r ist (−1)r/r!. Folglich gilt
Riemann-Liouville-Integral. Hier geht man aus von der Cauchy-Formel für die n-fach iterierte Integration,
Für q > 0 setzt man Dqf ≔ DnDq−nf mit einer beliebigen natürlichen Zahl n >q, wobei Dn die gewöhnliche n-fache Ableitung bezeichnet. Dieser Zugang ist unter geeigneten Voraussetzungen an f äquivalent zu dem über Differenzenquotienten, aber auch für a = −∞ möglich, und geht auf Überlegungen von 1832 von Joseph Liouville (a = −∞) und 1847 von Georg Friedrich Bernhard Riemann (a ∈ ℝ) zurück. Das Riemann-Liouville-Integral ist besser für formale Rechnungen geeignet als der Zugang nach Grünwald und Letnikov und auch wegen der relativen Einfachheit seiner Definition der meistbenutzte Zugang zu Differintegralen.
Exponentialreihen. Auf Liouville geht auch die Idee zurück, ausgehend von einer Darstellung
Potenzreihen mit nicht notwendig ganzen Exponenten p. Ebenfalls von Riemann stammt der Ansatz, die für q ∈ ℕ gültige Identität
Cauchy-Integralformel. Die für n ∈ ℕ0 für eine in einer Umgebung U von z ∈ ℂ holomorphe Funktion f und einen Integrationsweg in U gültige Cauchy-Integralformel
Analytische Fortsetzung. Von der Cauchy-Formel
Nicht-ganze Potenzen linearer Operatoren. Geht man von einer allgemeineren Theorie nicht-ganzer Potenzen geeigneter linearer Abbildungen aus, so kann man Differintegrale durch Anwenden dieser Theorie auf den Differentialoperator erhalten.
Grundeigenschaften des Differintegrals. Wie die gewöhnliche höhere Ableitung und iterierte Integration ist auch die allgemeine Differintegration linear, d. h. für geeignete f, g und reelle (oder komplexe) Zahlen α, β gilt
Für das Differintegral eines Produktes gibt es eine Verallgemeinerung der Produktformel von Leibniz, und auch die Kettenregel kann man auf Differintegrale verallgemeinern. Die Beziehung DmDn = Dm+n für m, n ∈ ℕ überträgt sich unter zusätzlichen Voraussetzungen auf die Differintegration: Für geeignet differintegrierbare Funktionen f : [a, b] → ℝ und q ∈ ℝ gilt DqDpf = Dp+qf für p< 0, und im Fall m< p< m + 1 mit einem m ∈ ℕ0 gilt dies, wenn man noch f(k) (a) = 0 für 0 ≤ k< m voraussetzt. Daraus ergibt sich für die Vertauschbarkeit von Differintegrationen: Ist m< p< m + 1 und n< q< n + 1 mit m, n ∈ ℕ0, ferner f(k) (a) = 0 für 0 ≤ k< max(m, n), so folgt
Die Differintegrale einfacher Funktionen lassen sich explizit ausrechnen. Ist c ∈ ℝ und fc: [a, b] → ℝ die durch fc(x) ≔ c definierte konstante Funktion, so gilt
Mit Hilfe der genannten Differentiationsregeln und mit Regeln zur Differintegration von Potenzreihen kann man auch die Differintegrale vieler komplizierterer Funktionen bestimmen.
Literatur
[1] Kilbas, A.; Marichev, O. I., Samko, S. G.: Fractional Integrals and Derivatives: Theory and Applications. Gordon & Breach Science Pub., 1993.
[2] Miller, K. S.; Ross, B.: An Introduction to the Fractional Calculus and Fractional Differential Equations. John Wiley & Sons Inc. New York, 1993.
[3] Oldham, K. B.; Spanier, J.: The Fractional Calculus. Academic Press New York, 1974.
[4] Podlubny, I.: Fractional Differential Equations. Academic Press San Diego, 1999.
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