Metzler Lexikon Philosophie: Vernunft, praktische
In einer allgemeinen Bestimmung kann p. V. als der Anspruch des Menschen bezeichnet werden, sein Handeln an allgemeinen Grundsätzen zu orientieren und gemäß der Weisung allgemeinverbindlicher Normen begründen und rechtfertigen zu können. In dieser Fassung ist die p. V. ihrer Idee nach handlungsleitende Vernunft (Wieland). Dadurch sucht sie eine Antwort darauf zu geben, wie der Mensch sein Leben gestalten soll. Dieses allgemeine Verständnis tritt in der Tradition der Philosophie in verschiedenen Gestalten auf. Die Verschiedenheit resultiert aus der veränderten Auffassung, worin der Maßstab des Allgemeinen zu finden ist. Insofern stellt die p. V. immer auch eine Reflexion über das praktisch Vernünftige und den Maßstab des Vernünftigen dar. Dadurch beinhalten die Reflexionen der p.n V. eine doppelte Perspektive: Einerseits eine Vorstellung darüber, was Vernunft im Praktischen bedeute, und andererseits, was es heißt, das Handeln vernünftig zu bestimmen.
Für die Etablierung der p.n V. als einer gegenüber der theoretischen Vernunft selbständigen Fragerichtung sind zwei Unterscheidungen von Aristoteles grundlegend: (a) Der vernünftige Seelenteil (das Logistikon) unterscheidet sich von dem Epistemonikon (dem erkennenden Seelenteil) durch seine eindeutige Ausrichtung auf den Bereich der Praxis, d.h. auf die Fähigkeit, in Bezug auf das Handeln, richtige Überlegungen anzustellen. (b) Das Handeln unterscheidet sich vom Herstellen (Techne) hinsichtlich seiner spezifischen Zielstruktur. Beim Herstellen stellen die Ziele ganz bestimmte Produkte dar, die durch eine Tätigkeit hervorgebracht werden. Insofern ist die Redeweise berechtigt, dass das Ziel außerhalb der Tätigkeit liegt. Dagegen ist für das Handeln (Praxis) spezifisch, dass das Ziel im Akt bzw. durch den Vollzug verwirklicht wird. Die Relevanz der Differenzierung wird erst plausibel, wenn man hinzuzieht, worin das allgemeine Ziel des menschlichen Lebens bei Aristoteles besteht. Die Eudaimonie stellt das innere Ziel des Menschen dar, in dem sich der Mensch als Mensch realisiert. Eudaimonie heißt das »gute Leben« als »gelungenes Handeln«, das der Mensch um seiner selbst willen anstrebt und verwirklicht. Er sucht sein Ziel nicht außerhalb, da er sein Ziel nur durch die Verwirklichung seiner Natur, d.h. durch logoshaftes Handeln erreichen kann. Was der Vernunft gemäß ist, ist erkennbar und entscheidet sich an dem, was Sitte und Gesetz in der Polis ist. Die Vernunft im Praktischen ist bei Aristoteles durch den allgemeinen Zweck, nämlich das gute Leben in der Polis, vorgegeben. Der Wertmaßstab des guten Lebens ist im Vollzug der Handlung selbst zu suchen, nur die gelungene Praxis verbürgt p. V. Nur ein Wesen, das sich an dem Guten orientiert, handelt vernünftig. – Der Stellenwert der p.n V. verändert sich grundlegend, wenn diese teleologische Zweckstruktur nicht mehr ein Element des menschlichen Selbstverständnisses ist. Denn dadurch ist auch der Rahmen des Allgemeinverbindlichen nicht mehr selbstverständlich. Der p.n V. ist es nunmehr aufgegeben, von sich aus einen Maßstab zu finden, an dem sich das Handeln allgemein auszurichten hat. Der Utilitarismus verweist auf eine dem Handeln immanente Rationalitätsstruktur, nämlich die Abwägung der Handlungsfolgen nach subjektiver Nützlichkeit und Zuträglichkeit. Die p. V. erhält eine doppelte Struktur: Das hedonistische Kalkül stellt einerseits eine rein rechnerische, auf die Handlungswirklichkeit bezogene Vernunft dar – die Frage nach subjektiven Beweggründen erübrigt sich. Das von Bentham in dieses Kalkül projizierte Prinzip des größten Glücks der größten Zahl formuliert andererseits einen allgemeinen Ordnungsgedanken der ausgewogenen Verteilung der Güter, ohne dass ersichtlich ist, wie dieser allgemeine Maßstab sich mit dem Interesse nach subjektiver Befriedigung verbinden lässt. J. St. Mill kann der p.n V. nur den Sinn abgewinnen, dass sich der Handelnde diejenigen Regeln, die eine rationale Praxis ermöglichen, aus wissenschaftlichen Theorien beschaffen muss. Die Allgemeinheit der Regeln gründet in der wissenschaftlichen Erkenntnis, d.h. dem Wissen um allgemeine Gesetze, um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Die p. V. hat nunmehr den Status einer Prüfung von Konsistenz und Zweckrationalität: Der Mensch hat zu prüfen, ob die intendierten Zielzustände mit anderen basalen Zielzuständen verträglich sind und ob der Zweck mit anderen wünschenswerten Zwecken kollidiert. Der Mensch ist prinzipiell in Situationen gestellt, in denen er aufgefordert ist, in Erfahrung zu bringen, wie die jeweilige Situation beschaffen ist, in der er handeln soll oder muss. Er muss den Weg zu einer effektiven Handlungswirklichkeit (mit Hilfe der Wissenschaften) begründet angeben können. Eine derartige p. V. kann aber keine Aussage darüber machen, ob und warum ein Zweck erstrebenswert ist und warum alle danach streben sollen, und bietet somit keine Antwort auf die Frage, wie der Mensch sein Leben gestalten soll. – Kant bestreitet dem auf Nützlichkeit ausgerichteten Denken nicht generell den Charakter einer p.n V. In solchen subjektiven Regeln, die sich der Handelnde gesetzt hat, kommt seiner Ansicht nach die einfache p. V. zur Geltung. Er macht allerdings darauf aufmerksam, dass solche Zwecksetzungen nicht den Charakter des Allgemeinen für sich in Anspruch nehmen können. Wenn aber Handeln nicht ohne Zweckstruktur zu denken ist, die subjektiven Zwecksetzungen aber zu heterogenen Glückseligkeitsvorstellungen führen, bedarf es eines besonderen Verfahrens, um die Allgemeinheit sicherzustellen. Der kategorische Imperativ bietet dazu die geeignete Handhabe, die Übereinstimmung der subjektiven Maximen mit einer uneingeschränkten Allgemeingültigkeit herzustellen, indem er fordert: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Er fordert zu keiner konkreten Handlung auf, sondern verlangt eine bestimmte Weise des Handelns im Allgemeinen, die unbedingte Geltung beanspruchen kann. Kant erreicht damit die doppelte Frageperspektive der p.n V., nämlich wie der Mensch sein Handeln an einer selbstgesetzten Perspektive ausrichten kann und welcher Maßstab des Vernünftigen dabei in Rechnung zu stellen ist. Wenn die Materie den Willen bestimmt, dann wird der Mensch von seinen Neigungen zu irgendeinem Inhalt (oder Glücksvorstellung) gelenkt. Dadurch kann er nicht seinem Anspruch auf p. V. entsprechen, vielmehr begibt er sich damit in Abhängigkeit einer Fremdbestimmung der naturhaften Triebe. Zu einer Selbstbestimmung findet er nur in Absehung von jedem Objekt. Das entspricht zunächst der negativen Bestimmung von Freiheit (von Fremdbestimmung). In positiver Bestimmung realisiert sich die Freiheit in der Autonomie. Das Prinzip der Autonomie wiederum schließt bei Kant ein, dass sich das Subjekt nur unter dasjenige Gesetz stellt, welches es sich selbst gegeben hat. Freiheit wird von der p.n V. positiv als Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form begriffen, d.h. der Mensch hat zu prüfen, ob seine subjektiven Maximen sich unter eine solche allgemeine Form subsumieren lassen. Das Prüfungsinstrument dazu stellt der kategorische Imperativ dar. – Der von Apel und Habermas vertretene Ansatz einer kommunikativen p.n V. unternimmt den Versuch, den kategorischen Imperativ Kants, der sich an das einzelne Vernunftsubjekt richtet, in einen rationalen Dialog zu transponieren. Der Geltungsanspruch moralischer Normen soll von einer intersubjektiven Rechtfertigung in einem Verfahren wechselseitiger argumentativer Begründung abhängig gemacht werden. P. V. wird so zur kritischen, begründenden Vernunft, die Prinzipien nur dann als begründet gelten lässt, wenn sie allgemein gerchtfertigt sind. Dadurch sucht sie den moralischen Autonomiebegriff intersubjektiv-prozedural zu reformulieren. Als programmatischer Satz gilt: P. V. ist das Vermögen und die Bereitschaft, begründet zu handeln – p. V. ist begründende Vernunft in intersubjektiven Kontexten. Eine solcherart p. V. trägt zum einen dem Umstand Rechnung, dass wir auf keine objektiven Werte oder lebensweltlichen Gewissheiten rekurrieren können, wenn die Frage beantwortet werden soll, wie wir zu handeln haben. Sie unterlässt es aber auch, solche Normvorgaben zu erstellen. Vielmehr trägt sie der geschichtlichen Veränderbarkeit einerseits und der möglichen Partikularität solcher Vorstellungen andererseits dadurch Rechnung, dass sie ein kritisches Fragepotential an gesellschaftlich vorfindliche normative Gehalte heranträgt. P. V. ist kommunikativ begründende, aber auch sich selbst hinterfragende Vernunft. Sie fordert die Gründe ein, auf denen die Geltung bestimmter Werte oder Normen in den Gemeinschaften beruht.
Literatur:
- K.-O. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Tranformation der Philosophie. Bd. II. Frankfurt 1973. S. 358 ff
- R. Bubner: Handlung, Sprache und Vernunft. Frankfurt 1976
- Ders.: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Frankfurt 1984
- R. Forst: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt 1994
- J. Habermas: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt 1991. S. 100 ff
- Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1981
- H. Schnädelbach: Vernunft. In: E.Martens/H. Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Reinbek/Hamburg 1985. S. 77 ff
- W. Wieland: Aporien der praktischen Vernunft. Frankfurt 1989
- G. Zenkert: Konturen praktischer Rationalität. Würzburg 1989.
PP
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