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Lexikon der Psychologie: Experimentelle Psychologie

Essay

Experimentelle Psychologie

Hans-Peter Musahl

"Experimentelle Psychologie" oder auch "Experimentalpsychologie" bezeichnet die Form des Erkenntniszugangs in der Psychologie durch das Experiment, also nicht eine psychologische Teildisziplin. Zwar ist die experimentelle Forschungsmethode klassisch für Themen aus der Allgemeinen Psychologie: Wahrnehmung mit Psychophysik, Denken und Gedächtnis, Lernen, Motivation und Emotion gehören zu den klassischen experimentalpsychologischen Untersuchungsfeldern. Aber in den letzten Jahrzehnten haben Experimente in nahezu alle psychologischen Teildisziplinen Einzug gehalten.

Zur Geschichte
Die neuere Geschichte der wissenschaftlichen Psychologie ist eng mit der Experimentellen Psychologie verbunden. Das gilt für ihren Anfang, ihren Niedergang in der Zeit von 1930 bis 1945 und schließlich für ihre heutige Stellung in der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaften. Die ersten psychologischen Lehrstühle hatten eine klare experimentelle Ausrichtung, vielleicht weil es sich bei den Vätern der Psychologie keineswegs um Psychologen handelte: Das waren der Physiker und Physiologe H. v. Helmholtz, der Physiologe E. H. Weber, den Wundt als "Vater der experimentellen Psychologie" bezeichnet, der Physiker G. Th. Fechner sowie der Physiologe und Philosoph W. M. Wundt, der 1879 in Leipzig das erste Psychologische Institut gründete, das Geburtsdatum der modernen Psychologie. Die Umbenennung der 1904 gegründeten "Gesellschaft für experimentelle Psychologie" in "Deutsche Gesellschaft für Psychologie" im Jahre 1929 bezeichnet Lüer als "das Waterloo für die experimentelle Psychologie" (Lüer, 1991, S. 34). Zwar sollte damit "die Pflege auch der übrigen wissenschaftlichen Methoden der Psychologie" erreicht werden, tatsächlich markierte die nachdrückliche Öffnung für eine "geisteswissenschaftliche" Psychologie aber das vorläufige Ende der experimentalpsychologischen Forschung, den Niedergang der Wissenschaftlichkeit der Psychologie und ihre Unterwerfung unter den Nationalsozialismus – "Ganzheit" reimte sich auf "Völkisches", Psychologie wurde zur "Seelenwissenschaft". Nach dem zweiten Weltkrieg erholte sich die wissenschaftliche Psychologie in der BRD erst langsam; dabei bestimmte eine experimentell-naturwissenschaftliche Ausrichtung in Forschung und Lehre die Entwicklung. Diese Grundorientierung der Psychologie am experime.ntellen Paradigma gilt heute international; 1982 stimmte die Vollversammlung des International Council of Scientific Unions (ICSU), eine Unterorganisation der UNESCO, der Aufnahme der Internationalen Union für psychologische Wissenschaften als 19. Vollmitglied in den Verband der exakten Wissenschaften zu. Damit wird die Psychologie nun auch international denjenigen Wissenschaften zugerechnet, die bei ihrer Gründung als experimentelle Psychologie Pate gestanden hatten, Physiologie, Physik und biologische Wissenschaften.

Themen
W. M. Wundt war davon überzeugt, daß die Völkerpsychologie, ein Vorläufer der Sozialpsychologie, nicht experimentell sein könne; diese Methode sei nur zur Untersuchung psychischer "Grund"-Prozesse geeignet, nicht aber für die "höheren geistigen Prozesse" (Wundt, 1912). Heute gehören sozialpsychologische Experimente zum Standard eines jeden Psychologiestudiums – Psychologie ist zum Prototyp einer experimentellen Sozialwissenschaft geworden.
Dennoch ist der experimentelle Ansatz in den Teildisziplinen der Psychologie unterschiedlich plausibel, Fragestellungen öffnen sich dem experimentellen Zugriff unterschiedlich leicht, häufig erst, nachdem konzeptuelle oder methodische Hürden überwunden waren, in Wechselwirkung ihrerseits neue theoretische Sichtweisen eröffneten und heuristisch fruchtbar wurden. Der experimentalpsychologische Zugang ist damit nicht eine Frage des psychologischen Phänomens, sondern des Forschungstandes und des Fortschritts der verfügbaren empirischen Datenerhebungs- und der statistischen Analyse-Techniken. So können viele komplexe Fragestellungen erst mit Hilfe rechnergestützter apparativer Versuchsanordnungen untersucht werden: Für Mikroanalysen der Augenbewegung von Säuglingen werden schnelle, hochauflösende Kameras, für Blickbewegungen an Bildschirmarbeitsplätzen geeignete Infrarottechniken eingesetzt, einige psychophysiologische und wahrnehmungspsychologische Forschungsaufgaben sind ohne anspruchsvolle elektronische Techniken nicht zu lösen. Zum anderen ist die Auswertung komplexer Versuchspläne erst durch die Arbeiten von R.A. Fisher (1935, 1953) möglich geworden. Die statistischen Analyseverfahren zur Prüfung signifikanter Haupteffekte und insbesondere von Wechselwirkungen ("Interaktionen") mehrfaktorieller (= mehrere unabhängige Variablen) univariater und multivariater (= eine bzw. mehrere abhängige Variablen) Versuchspläne haben es der experimentalpsychologischen Forschung ermöglicht, von der isolierten Untersuchung einzelner Phänome zur experimentellen Analyse komplexer Fragestellungen voranzuschreiten (Multivariate Analyse). Die Verfügbarkeit von Rechnerkapazität am Arbeitsplatz, die vor 30 Jahren Rechenzentren vorbehalten war, läßt heute die Verknüpfung multifaktorieller und multivariater statistischer Analyseverfahren und die Realisierung komplexer Forschungsarbeiten zu. Dieser methodologische Fortschritt hat dazu beigetragen, die Kluft zwischen den von Cronbach (1975) noch als "zwei Disziplinen" bezeichneten experimentellen vs. korrelativen Forschungsansätzen zu verringern. Auf diese Weise kann experimentalpsychologische Forschung einen Zugewinn an externer Validität (Generalisierbarkeit) erreichen, ohne die interne Validität (logische Stringenz) der Studien zu beeinträchtigen (Validität).

Besonderheiten und Grenzen des psychologischen Experiments
Ein häufiger Einwand gegen das psychologische Experiment gilt der Frage, ob eine weitgehende Variablenreduktion und Bedingungskontrolle ohne ernsthafte Einschränkung der Variablenrepräsentativität für den Untersuchungsgegenstand hingenommen werden darf – gelegentlich versehen mit dem populären Hinweis, Psychisches könne man doch nicht "messen". Diese von geisteswissenschaftlicher Seite der experimentellen Psychologie vorgehaltene Sorge der Gegenstandsverkürzung durch den empirischen Zugriff ist jedoch zurückzuweisen: Das durch den Vorgang der Beobachtung veränderte und erst aufgrund seiner Operationalisierung dem empirischen Zugriff zugängliche Phänomen ist kein Spezifikum der Experimentalpsychologie; es reflektiert vielmehr eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Bedingung jeder Wissenschaft. Geisteswissenschaftliche Methoden sind lediglich andere Werzeuge; sie gestatten keineswegs eine "berührungsfreie" Gegenstandsbehandlung, der ein höherer Wahrheitsanspruch zukäme. Kriterium ist die Bewährung experimenteller Befunde, ihre Replikabilität und Unabhängigkeit von den individuellen, räumlichen, zeitlichen und technisch-methodischen Bedingungen. Dies gilt für die experimentelle Methode, unabhängig vom inhaltlichen Anwendungsfeld; die gelegentlichen Rückzugsgefechte und Selbstbeschränkungen sozialwissenschaftlichen, insbesondere aber psychologischen Experimentierens gegenüber demjenigen in anderen Biowissenschaften sind insofern also unangebracht. Allerdings gelten für das psychologische Experiment durch seinen Gegenstand, das Studium des Verhaltens dynamischer individueller und sozialer Systeme, Grenzen und besondere Untersuchungsbedingungen.
Eine zentrale Beschränkung der Eingriffsmöglichkeit des Experimentators wird mit der Unterscheidung von "Reizvariablen" und "Organismusvariablen" charakterisiert: Während er physikalische Reizbedingungen in der Regel willkürlich variieren oder kontrollieren kann, bringt der Proband sein Geschlecht, Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen oder seine individuelle Lerngeschichte in das Labor mit. Um Konfundierungen von Reiz- und Organismusvariablen zu vermeiden, kann der Versuchsleiter den Effekt interindividueller Variabilität konstant halten, indem er sie in Wiederholungsmessungs-Versuchsplänen neutralisiert, bei großen Stichproben auf die Wirkung der Randomisierung als Kontrolltechnik hoffen, interindividuelle Unterschiede in Blockversuchsplänen explizieren, indem er sie als Bedingungsfaktoren behandelt, oder er bestimmt ihren relativen Varianzbeitrag mit Hilfe einer Kovarianzanalyse – deutlich ist aber: Eliminieren kann er sie nicht.
Eine Reihe besonders bedeutsamer Spezifika bezieht sich unter dem Stichwort der Sozialpsychologie des Experiments auf die Interaktion zwischen dem Versuchsleiter und den Probanden als "Merkmalsträger" und Partner im Forschungsprozess. Nach den Studien zur Gehorsamsbereitschaft von St. Milgram in den 60er Jahren wurden von der American Psychological Association 1972 die heute international anerkannten "Ethical Principles in the Conduct of Research with Human Participants" (Ethik im Humanexperiment) verabschiedet; sie verweisen auf die besondere Verantwortung des Experimentators gegenüber seinen Probanden.
Versuchsteilnehmer haben häufig in dem Bemühen, ein "guter Proband" zu sein, Hypothesen darüber, was das Experiment von ihnen erwartet und sind bemüht, diesen zu entsprechen. Eine solche Haltung begünstigt eine "Sensibilisierung" von Probanden und sog. reaktive Effekte: Befindlichkeiten werden wahrgenommen und der Untersuchungssituation zugeordnet, die bisher übersehen oder anders attribuiert wurden. Es kommt zu Verhaltensweisen, die durch den subjektiv empfundenen Aufforderungsgehalt der experimentellen Situation ("demand characteristics") provoziert werden, obwohl sie mit der Untersuchungsfragestellung nicht intendiert waren.
Als Hawthorne-Effekt wird in Anlehnung an arbeitspsychologische Untersuchungen die Tatsache beschrieben, daß Probanden aufgrund des Wissens, an einer Forschungsarbeit teilzunehmen, positiv und "motiviert" reagieren; in den Studien konnte dies beobachtet werden, gleichgültig ob die Veränderung der Arbeitssituation nun Vorteile brachte oder sie wieder nahm. Es kommt hier offenbar zu einer unspezifischen Wechselwirkung zwischen Probanden und experimenteller Situation, die den Befund substantiell beeinflussen.
Um eine Wechselwirkung zwischen den Erwartungen des Experimentators und der experimentellen Situation handelt es sich beim Rosenthal-Effekt, der auch mit dem Begriff der "self-fulfilling-prophecy" gekennzeichnet wird: Tatsächlich bezieht sich diese Interaktion auf a) die Ergebniserwartungen des Versuchsleiters, b) seinen unterschiedlichen Umgang mit Probanden und c) die Gefahr einer erwartungsgeleiteten Datenauswertung und Interpretation. Die Artefakt-Gefahr besteht jeweils in einer unmerklichen Begünstigung des hypothesenkonformen Verhaltens; die tatsächlichen Interaktionspartner des Experimentators sind demnach seine Probanden oder er selbst bei der Sammlung und Auswertung der Daten. Der Gefahr der artifiziellen Begünstigung bestimmter Ergebnisse wird, z.B. in der psychopharmakologischen Forschung mit sog. Blind- (Proband weiß nicht, welcher experimentellen Bedingung er zugeordnet ist) oder Doppelblind-Studien (Proband und Datenauswerter haben keine Kenntnis der jeweils vorliegenden experimentellen Bedingung) begegnet. Damit wird dem Probanden bei Versuchsbeginn das Ziel des Experiments unter Umständen verschleiert, gelegentlich werden Versuchsteilnehmer mit unzutreffenden oder irreführenden Angaben über das Ziel der Untersuchung getäuscht – zum Zwecke der experimentalmethodischen Klarheit werden ethische Prinzipien des Experiments verletzt (Ethik im Humanexperiment). Dies kann nur dann hingenommen werden, wenn eine andere Vorgehensweise das Forschungsziel gefährdete und wenn die Versuchsteilnehmer in einem ausführlichen Gespräch nach Abschluß des Experiments ("debriefing") über die tatsächlichen Ziele und den Umstand der Täuschung aufgeklärt werden.
Die Zukunft der Psychologie wird vom Fortschritt der experimentellen Methodologie bestimmt. Dies gilt, wie die Geschichte der Experimentellen Psychologie belegt, für neue Entwicklungen im Forschungsprozess wie auch – im Sinne grundlagenorientierter Anwendungsforschung – für die Überwindung der Trennung zwischen "Theorie" und "Praxis".

Literatur
Cronbach, L.J. (1975). Beyond the two disciplines of scientific psychology. American Psychologist, 33, 116-127.
Fisher, R.A. (1935, 1953). The design of experiments. (1st, 6th ed.). Edinburgh: Oliver & Boyd.
Lüer, G. (Hrsg.). (1987). Allgemeine Experimentelle Psychologie. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.
Lüer, G. (1991). Psychologie im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Gesellschaft: Historische Fakten, Entwicklungen und ihre Konsequenzen. In D. Frey (Hrsg.), Bericht über den 37. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel 1990, Bd. 2 (30-43). Göttingen: Hogrefe.
Wundt, W. (1912). Elemente der Völkerpsychologie: Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Leipzig: Kröner.

  • Die Autoren
Gerd Wenninger

Die konzeptionelle Entwicklung und rasche Umsetzung sowie die optimale Zusammenarbeit mit den Autoren sind das Ergebnis von 20 Jahren herausgeberischer Tätigkeit des Projektleiters. Gerd Wenninger ist Mitherausgeber des seit 1980 führenden Handwörterbuch der Psychologie, des Handbuch der Medienpsychologie, des Handbuch Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie Herausgeber der deutschen Ausgabe des Handbuch der Psychotherapie. Er ist Privatdozent an der Technischen Universität München, mit Schwerpunkt bei Lehre und Forschung im Bereich Umwelt- und Sicherheitspsychologie. Darüber hinaus arbeitet er freiberuflich als Unternehmensberater und Moderationstrainer.

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