Artenvielfalt: In allen Wipfeln daheim
Grüne Hölle, großes Krabbeln: Kerbtiere wie Mücken, Ameisen, Käfer oder Schmetterlinge dominieren die Tierwelt der Tropen - zur Freude und zum Leidwesen von Einheimischen, Touristen wie Forschern gleichermaßen. Doch wie artenreich ist ihre Gruppe tatsächlich? Und wie viel Heimat beanspruchen sie pro Spezies?
Die Rechnung, die Terry Erwin 1982 aufstellte, war so simpel wie faszinierend: Der amerikanische Biologe nebelte einen Baum im tropischen Regenwald von Panama mit einem Insektengift ein und addierte anschließend die tot zur Erde purzelnden Kerbtiere nach Arten getrennt. Allein an Käfern fand er 1200 Spezies, von denen seiner Schätzung nach bis zu 165 nur auf diesem einzigen Gewächs leben und fressen konnten. Dann kalkulierte er, dass Käfer etwa vierzig Prozent aller Kerfe ausmachen und ihm zudem etwa ein Drittel aller Arthropoden entgangen waren, die im unteren Baumbereich hausen und nicht vom Gift erreicht wurden. Zusammen mit weiteren Einflussgrößen kam er damit insgesamt auf 600 wirtsspezifische Endemiten. Und da es weltweit etwa 50 000 verschieden Bäume gibt, könnte die Gesamtheit der Kerbtiere sagenhafte 30 Millionen Arten umfassen – von denen die Wissenschaft bis heute nur einen winzigen Bruchteil kennt.
Fünf, zehn oder dreißig Millionen?
Viele der Annahmen, die Erwin einst aufstellte, wurden inzwischen von anderen Biologen einer kritischen Betrachtung unterzogen und revidiert. So sollen Käfer nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen nur noch ein knappes Viertel der Insektenvielfalt stellen, und es gelten weniger als zehn Käferarten pro Wirtsbaum als endemisch – was letztlich die Diversität aller Kerfe auf geschätzte, aber immer noch beachtliche 3 bis 5 Millionen Mitglieder eindampft.
Unsicher ist allerdings auch diese Zahl. Denn Studien an tropischen Bäumen in Peru oder Malaysia haben erbracht, dass sich ihre Bestände bereits auf kleinem Raum sehr unterschiedlich zusammensetzen können. Schon minimal veränderte Bodenqualitäten, Niederschläge oder Topographien können jeweils ganz andere Arten fördern. Doch gilt das ebenso für Insekten, indem beispielsweise Wasserläufe – die es zahlreich in den riesigen Regenwäldern Amazoniens, des Kongos oder auf Neuguinea gibt – unüberwindliche Barrieren bilden und somit stets neue Lebensgemeinschaften hervorbringen? Und trifft der fraßliche Generalismus der meisten Käfer tatsächlich auch auf andere Insektengruppen wie Schmetterlinge oder Wanzen zu?
Weit verbreitet und wenig wählerisch
Beides würde nicht nur die absolute Biodiversität der irdischen Fauna beeinflussen, sondern hätte gleichermaßen Konsequenzen für den Naturschutz, möchte man möglichst viel davon bewahren. An diese entomologische Sisyphus-Arbeit machten sich nun wieder zwei Forschungsgruppen: Vojtech Novotny von der Universität Südböhmen in Branisovska und seine Kollegen untersuchten, wie sich die Lebensgemeinschaften von Insekten über große Distanzen in einem Tieflandregenwald von Papua-Neuguinea verändern [1]. Und ein Team um Lee Dyer von der Tulane-Universität in New Orleans verglich die jeweiligen Nahrungsansprüche von Schmetterlingsraupen in verschiedenen lateinamerikanischen Tropenwäldern mit jenen aus gemäßigten Breiten [2].
Das Arbeitsgebiet von Novotnys Mannschaft umfasste 75 000 Quadratkilometer unberührter Natur – ein ausgedehntes Gebiet, das nur der Sepik-Fluss als größeres Hindernis durchströmt. Tiere und Pflanzen könnten sich also ungehindert ausbreiten, und tatsächlich machten die Forscher kaum einen Unterschied in den Insektenlebensgemeinschaften auf Bäumen der gleichen Gattung aus, selbst wenn diese 950 Kilometer voneinander entfernt im Wald standen. Einen Feigenbaum in der Nähe der Hafenstadt Madang an der Nordküste Papua-Neuguineas befielen demnach zu mehr als der Hälfte die gleichen Schmetterlingsraupen wie eine verwandte Art weiter im Landesinneren. Bei Holz fressenden Ambrosia-Käfern stimmte die Artenkomposition zu zwei Dritteln überein, und bei einer Gruppe sich an Früchten delektierender Fliegen ergaben sich praktisch gar keine Unterschiede.
Die Kerfe können also zumindest hier ihrer bevorzugten Nahrung – sofern diese selbst weit verbreitet ist – über große Distanzen hinweg nachspüren. Auch der Sepik hindert zumindest die mobilen Falter oder Fliegen nicht an der Ausbreitung: Erkenntnisse, die sich womöglich auch auf andere Regenwälder, die in großen kontinuierlichen Becken wie dem Amazonas oder Kongo wachsen, übertragen lassen. Umgekehrt beheimateten von den untersuchten Pflanzen mit begrenztem Areal nur wenige spezialisierte Pflanzenfresser, während Generalisten dominierten: Der Endemismus fällt entsprechend gering aus. Demnnach gäbe es deutlich weniger als zehn Millionen Insektenarten, so die Wissenschaftler.
Oder doch nicht?
Eine These, die von Dyers Team gleich wieder in Frage gestellt werden dürfte: Wenigstens in den Tropen Mittel- und Südamerikas haben sich die Schmetterlinge stärker in ihrer Nahrungswahl spezialisiert als ihre Verwandten in Kanada oder den Vereinigten Staaten – etwa weil das Potpourri pflanzenchemischer Abwehrstoffe in niederen Breiten umfangreicher ist und zu individuellen Anpassungen zwingt oder Räuber und Parasiten einen höheren Feinddruck aufbauen. Beides fördert auf Dauer das Besetzen engerer ökologischer Nischen, weshalb sich die Insektengemeinschaften von einer Pflanzenart zur nächsten deutlich unterscheiden und mehr Endemiten existieren – im Endeffekt folgt daraus eine höhere Diversität.
Die genaue Anzahl der Insektenarten dürfte deshalb wohl noch lange geheimnisvoll bleiben, zumal Erwin in seinem Dreisatz auch mit einem Anteil von 84 Prozent an Pflanzen fressenden Kerbtieren kalkulierte – nur der kümmerliche Rest entfiel auf räuberische Kerfe, Aasfresser, Bakterienrasenverwerter oder Parasiten. Ob diese Verhältnisse der Realität entsprechen, hat jedoch noch kaum jemand überprüft: Es könnten also auch deutlich mehr sein. Und fraglich ist ebenso, ob wirklich der Kronenraum der Regenwälder der vorherrschende Hort der krabbelnden Vielfalt ist. Eine Studie auf Sulawesi entdeckte vielmehr, dass 70 bis 80 Prozent der Insekten auf und im Boden leben. Vielleicht behält Erwin mit seinen astronomisch anmutenden Zahlen also über Umwege doch recht.
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