Migräne: Schmerzattacke aus der Hirnhaut
Wie ein Messerstich fährt der Schmerz in die Stirn, Lichtblitze zucken durch das Gesichtsfeld: Empfindungen, die für Millionen Menschen regelmäßig zum Leben gehören. Denn rund zehn Prozent der Weltbevölkerung leiden unter Migräne; schon seit Jahrtausenden begleitet sie die Menschheit. Bereits Plinius der Ältere, der eine Enzyklopädie im alten Rom verfasste, beschrieb in seinem Werk »Naturalis historia« fünf verschiedene Arten von Kopfschmerzen, darunter mit »temporum dolores« eine Form, die den typischen Symptomen von Migräne entspricht.
Vermutlich ebenso lange stellt sich die Frage: Woher kommt der Schmerz im Kopf? Welche Strukturen lösen ihn aus? Um dem auf den Grund zu gehen, nutzten Bronson Ray und Harold Wolff vom Cornell University Medical College in New York ab den 1940er Jahren eine sich ihnen bietende Gelegenheit: Gehirnoperationen, bei denen die Patientinnen und Patienten wach bleiben, um Fragen zu beantworten oder Funktionstests zu absolvieren. Damit stellen die Chirurgen sicher, kein Gewebe zu entfernen, das für essenzielle Fähigkeiten wie das Sprechen wichtig ist. Die zwei Mediziner wohnten in ihrem Spital über fünf Jahre hinweg 30 solcher Eingriffe bei.
Die beiden verwendeten mechanische, thermische und chemische Mittel, um verschiedene Punkte im Inneren des Schädels zu testen. Dabei fragten sie die Patienten immer: Tut das weh? Und wo spüren Sie den Schmerz? Mit der Zeit stellten Ray und Wolff fest, dass die Hirnhäute, auch Meningen genannt (siehe »Kurz erklärt«), die einzigen Stellen des Denkorgans sind, an denen wir Schmerzen empfinden. Denn obwohl das Gehirn essenziell ist, um die Information »Schmerz« zu verarbeiten, hat es selbst keine Schmerzrezeptoren. Anders bei den Meningen: Sie werden von den beiden Trigeminusnerven (Gesichtsnerven) versorgt. Diese entspringen in den Trigeminusganglien an der Schädelbasis und reichen in die Hirnhäute hinein, wo sie sich verästeln und eng an Blutgefäße anschmiegen (siehe »Das trigeminovaskuläre System«).
Das Fazit des Experiments war: Die Hirnhäute sind die primären schmerzsensiblen Strukturen in unserem Kopf. Und die Schlussfolgerung gilt bis heute. 2018 bestätigten französische Fachleute um Denys Fontaine von der Université Cote d'Azur die Ergebnisse mit modernen Methoden. Wenn sie die Meningen reizten, fragten Ray und Wolff die Patientinnen und Patienten auch, wo genau diese den Schmerz spürten. Niemand von den Befragten konnte lokalisieren, dass er in den Hirnhäuten ausgelöst wurde. Stattdessen schmerzten ihnen die Schläfe und der Augenbereich – also wo Migränekopfschmerzen am häufigsten auftreten. »Damit kam die These auf, dass irgendetwas die Nervenenden in den Hirnhäuten aktiviert, was wiederum die Kopfschmerzen eines Migräneanfalls erzeugt«, berichtet Gregory Dussor, Professor für Neurowissenschaften an der University of Texas at Dallas.
Beginnt alles im zentralen Nervensystem?
Denkbar wäre, dass der Hypothalamus, der unter anderem Atmung, Körpertemperatur und zirkadiane Rhythmik reguliert, den Beginn der Migräneattacke steuert, so Dussor. Die Struktur ist nämlich in den Stunden und Tagen vor einem Anfall besonders aktiv, wie Laura Schulte und Arne May vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 2016 herausfanden, indem sie einen Migränepatienten einen Monat lang täglich in einen MRT-Scanner schoben.
»Im Nervensystem schreitet die Attacke fort und schließlich werden die Schmerzfasern in den Hirnhäuten aktiviert«, beschreibt Dussor ein mögliches Szenario. Er hält die Hirnhäute nicht für den Ursprung der Anfälle, vielmehr liege dieser im zentralen Nervensystem. Die Meningen seien jedoch ein wichtiger Faktor, um die Kopfschmerzphase der Migräne zu ermöglichen. Und das bereitet schließlich den Betroffenen die meisten Beschwerden. »Wir verstehen aber noch immer nicht, was genau die Schmerzfasern in den Hirnhäuten aktiviert«, so der Neurowissenschaftler.
Die Hirnhäute, auch Meningen genannt, bestehen aus der Dura mater, der Arachnoidea und der Pia mater. 2024 konnte eine Gruppe um Maiken Nedergaard vom University of Rochester Medical Center eine vierte Struktur identifizieren. Die Häute umgeben Hirn und Rückenmark und schützen es physisch vor Verletzungen. Zwischen ihnen befindet sich Liquor (Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit) und verlaufen Blutgefäße. Innerviert werden die Meningen vor allem vom Vagusnerv sowie vom Trigeminusnerv, auch Gesichtsnerv genannt.
Møllgard, K. et al.: A mesothelium divides the subarachnoid space into functional compartments. Science 379, 2024
In den 1970er Jahren schlugen Neurologen um Michael Moskowitz von der Harvard Medical School in Boston vor, dass lokale Entzündungen in den Meningen die hier liegenden Nerven längerfristig aktivieren und so Migränekopfschmerz auslösen. Entzündungen sind eine Abwehrreaktion des Körpers auf Krankheitserreger. Doch anders als bei einer Hirnhautentzündung (Meningitis) sind bei einer Migräne keine Viren oder Bakterien im Spiel. Stattdessen komme es zu einer sterilen (neurogenen) Entzündung, an der keine Erreger mitwirken.
Tatsächlich ist diese Hypothese noch immer das wahrscheinlichste Szenario, erklärt Dan Levy, Professor für Anästhesie und Kopfschmerzexperte an der Harvard Medical School. Hier spielen die Trigeminusneurone, die mit ihren Fasern in die Hirnhäute reichen, eine wichtige Rolle. »In einem Prozess, der Axonreflex genannt wird, setzen aktivierte Nervenzellen Neuropeptide frei«, sagt Dan Levy. Solche Stoffe lösen dann die neurogene Entzündung aus. Im Fall der Hirnhäute handelt es sich dabei vor allem um das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide). Mehrere Beobachtungen deuten darauf hin, dass es den Migräneschmerz verursacht. So lässt sich die Pein bei vielen Betroffenen durch Gabe von CGRP-Blockern stoppen. Injiziert man das Peptid den Patienten direkt ins Blut, triggert es einen Migräneanfall. Levy betont: »Die neurogene Inflammation ist noch immer eine Theorie, aber es ist eine valide Theorie.«
»Wir verstehen noch immer nicht, was genau die Schmerzfasern in den Hirnhäuten aktiviert«Gregory Dussor, Neurowissenschaftler
Die freigesetzten Neuropeptide bewirken auch, dass sich die Blutgefäße in der Umgebung der Neurone weiten. Doch ob und wie das den Kopfschmerz beeinflusst, ist unter Expertinnen und Experten umstritten. Laut einer Hypothese werden dadurch Nervenzellen, die sich um die Gefäße winden, gedehnt und reagieren bei Migräne eventuell hypersensibel. »Vielleicht sind auch Immunzellen beteiligt, die diese Sensibilität steigern«, spekuliert Levy.
Migräne könnte aber auch ganz anders ablaufen, so meinen manche Fachleute. »Die Diskussion kreist immer noch um die Frage, ob der Schmerz nicht zentral im Gehirn entsteht«, erklärt Gregory Dussor. Die schmerzgenerierenden Netzwerke in Hirnrinde und Thalamus können prinzipiell jederzeit verursachen, dass wir Schmerz empfinden – ganz ohne externen Auslöser. Solche Empfindungen treten mitunter bei Menschen nach einem Schlaganfall auf: Dann schmerzt eine Stelle ihres Körpers, obwohl dort keine Verletzung besteht. »Dieser Vorgang ist aber höchst ungewöhnlich und betrifft vermutlich nur eine kleine Zahl an Personen«, sagt Dussor.
Flut aus Proteinen
Ein seltsames Phänomen, das häufig mit den Attacken einhergeht, könnte ein Stück weit das Rätsel um den Ursprung des Schmerzes lösen. Bei etwa einem Drittel der Patienten tritt die Migräne mit Aura auf. So berichten viele Betroffene davon, zu Beginn eines Anfalls seltsame Lichtblitze oder farbige Flecken zu sehen, weitere Missempfindungen oder Sprachstörungen zu erleben. Mitunter kommt es auch zu bestimmten Vorzeichen, »Prodrome« genannt: In den Tagen vor einem Migräneanfall verspüren die Menschen ungewöhnliche Müdigkeit, Konzentrationsprobleme oder Heißhunger.
Wie diese zusätzlichen Symptome der Migräne entstehen, ist noch nicht abschließend geklärt. Doch die Meningen spielen hier – anders als beim Schmerz – wohl kaum eine Rolle, glaubt Dussor: »Es wäre sehr schwer zu argumentieren, wie die Hirnhäute die unterschiedlichsten Beschwerden einer Aura oder Prodromi auslösen könnten.« Ein wahrscheinlicher Mechanismus ist eine Welle neuronaler Aktivität in der Hirnrinde. Eine solche »kortikale Streudepolarisierung« breitet sich langsam aus, am häufigsten im Sehzentrum, und löst die unterschiedlichen visuellen Störungen und prodromalen Symptome aus.
Dass ein derartiges Ereignis seinerseits die peripheren Schmerzrezeptoren in den Hirnhäuten aktivieren könnte, zeigt nun eine Studie von 2024. Das Team um Maiken Nedergaard vom University of Rochester Medical Center löste Depolarisierungswellen im Gehirn von Mäusen aus und beobachtete, dass Neurone dabei eine Vielzahl von Proteinen in die Hirnflüssigkeit (Liquor) freisetzen. Anschließend verfolgte es, wie die Flüssigkeit diese Stoffe zum Trigeminusganglion transportiert. Letzteres liegt, wie der Rest des peripheren Nervensystems, außerhalb der Blut-Hirn-Schranke. Die Fachleute entdeckten aber eine bisher unbekannte Lücke in der Schutzbarriere, durch die der Liquor direkt in das Ganglion fließen kann. Auf die Art wird es von dem im Hirn freigesetzten Proteincocktail geflutet – allen voran mit CGRP.
»Die neurogene Inflammation ist noch immer eine Theorie, aber es ist eine valide Theorie«Dan Levy, Anästhesist
Könnte dieser Mechanismus ebenfalls die Migräneschmerzen von Betroffenen ohne Aura erklären? Die Autoren denken, ja – denn auch bei ihnen findet sich im Liquor ein erhöhter CGRP-Spiegel. Nedergaard und ihre Kollegen weisen jedoch darauf hin, dass sich der Proteinspiegel im Liquor nach der Aktivierungswelle schnell normalisiert. Daher lösen vermutlich weitere Prozesse die Kopfschmerzen in späteren Phasen der Migräne aus.
»Die neue Arbeit zeigt einen weiteren Mechanismus, der zu den Schmerzen bei Migräne beitragen kann – aber ich glaube nicht, dass dies die einzige Antwort ist«, erläutert Dussor. Außerdem werfe die Studie weitere Fragen auf, etwa, warum Migräne vor allem von Kopfschmerz begleitet wird. »Das Trigeminusganglion innerviert die meisten Strukturen des Kopfes – würde es von CGRP und anderen Substanzen im Liquor einfach umspült, dann müsste es überall weh tun: in der Hornhaut der Augen, im Mund, in den Schädelknochen, in den Ohren.« Dussor spekuliert daher, dass das Ganglion durch die Flut an CGRP sensibilisiert wird, in den Hirnhäuten aber spezifische Nervenenden aktiviert werden, was schließlich zum Kopfschmerz führt.
Triptane wirken auf vielen Ebenen
»Man hätte gerne eine einzige Erklärung, aber ich denke, es ist um einiges komplizierter, als es die meisten zugeben möchten«, so der Forscher. »Migräne ist wahrscheinlich ein Spektrum. Verschiedene Mechanismen lösen den Kopfschmerz bei unterschiedlichen Personen aus, und die wirken sich einfach ähnlich aus.« Momentan wird die Erkrankung in zwei Gruppen eingeteilt, nämlich in Migräne mit und ohne Aura. »Ich denke, in jeder dieser Kategorien gibt es eigentlich mehrere Migränetypen.« In manchen Subgruppen werde die Migräne vielleicht durch Verletzungen der Nerven ausgelöst, in anderen entstehe der Schmerz zentral und in vielen durch Aktivierung des Trigeminusnervs. »Und daher wird es vermutlich nie ein einziges Medikament geben, das bei allen Patienten wirkt«, gibt Dussor zu bedenken.
Tatsächlich gibt es bisher kein Mittel, das gezielt am Trigeminusnerv ansetzt. Triptane, die in den 1990er Jahren auf den Markt kamen, waren die ersten speziell für Migräne entwickelten Wirkstoffe. Sie wurden zunächst als Vasokonstriktoren eingesetzt, also um der Weitung der Blutgefäße entgegenzuwirken. »Über die Jahre haben wir aber gelernt, dass Triptane die Freisetzung von Neuropeptiden blockieren und somit die neurogene Entzündung stoppen«, erklärt Levy. »Triptane wirken folglich auf vielen Ebenen, und das ist – meiner Meinung nach – der Grund, weshalb sie relativ breit gegen Migräne einsetzbar sind.«
»Das Feld möchte gerne eine einzige Erklärung haben, aber ich denke, es ist um einiges komplizierter, als es die meisten zugeben möchten«Gregory Dussor, Neurowissenschaftler
Viele der eingesetzten Medikamente wurden ursprünglich zur Behandlung von Epilepsie oder Depressionen entwickelt. »Auch wenn sie wirksam sind, nehmen viele Patienten sie ungern, da sie Nebenwirkungen im zentralen Nervensystem auslösen, etwa die Kognition verlangsamen oder schläfrig machen«, sagt Dussor. In den letzten zehn Jahren kamen neue Mittel auf den Markt, allen voran solche, die auf CGRP abzielen. Sie blockieren entweder das Neuropeptid selbst oder die Rezeptoren, an denen es andockt. Bei vielen Betroffenen stoppen diese neuen Wirkstoffe die Attacke. »Aber wir wissen nicht, wo genau sie wirken und CGRP blockieren«, betont Levy.
Einen Hinweis darauf liefert eine bestimmte Medikamentengruppe, die CGRP blockiert: monoklonale Antikörper. Solche Moleküle sind so groß, dass sie die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Daher erreichen sie zwar die Hirnhäute, aber vermutlich nicht oder höchstens in geringsten Mengen das Gehirn selbst. Für Dussor stützt das die einfachste Erklärung, nämlich dass CGRP in den Hirnhäuten wirkt. Entsprechend könne man gezielt Medikamente entwickeln, die Mechanismen in den Meningen beeinflussen und die nicht ins Gehirn gelangen müssen, um wirksam zu sein. Der Vorteil: Solche Mittel hätten vermutlich deutlich weniger Nebenwirkungen.
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