Medizin: Ist das Downsyndrom eine Immunstörung?
Menschen mit Downsyndrom besitzen infolge einer Genommutation das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach statt zweifach. Daher bezeichnet man das Syndrom auch als "Trisomie 21". Es ist die häufigste Chromosomenanomalie beim Menschen; etwa eines von 700 Neugeborenen kommt damit auf die Welt. Die Betroffenen leiden oft unter organischen Schäden; ihre kognitiven Fähigkeiten sind in der Regel eingeschränkt.
Seit Jahren ist bekannt, dass sich Down-Patienten hinsichtlich ihrer Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten klar von anderen Menschen unterscheiden. Sie neigen stärker zu Autoimmunerkrankungen und sind deshalb überdurchschnittlich oft von Diabetes Typ I, entzündlichen Gelenkserkrankungen, Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) oder einer chronischen Entzündung der Schilddrüse betroffen. Auch Krebserkrankungen des Blut bildenden oder des lymphatischen Systems treten bei ihnen gehäuft auf. Andererseits leiden sie deutlich weniger unter soliden Tumoren – also solchen, die an einem festen Ort im Körper sitzen. Lungen-, Brust-, Haut- und Gebärmutterhalskrebs kommen bei Menschen mit Downsyndrom seltener vor als in der Allgemeinbevölkerung.
Mediziner rätseln seit Jahren, was die Ursache dafür sein mag. Nun haben Forscher um Thomas Blumenthal von der University of Colorado eine überraschende Antwort gefunden. Ihre Forschungen deuten darauf hin, dass Trisomie 21 in erster Linie eine Störung des Immunsystems ist. Die fehlregulierte Körperabwehr schädigt demnach Körperorgane und das Gehirn – und ruft so das bekannte Erscheinungsbild des Downsyndroms hervor. Möglicherweise hilft diese Erkenntnis dabei, die Patienten künftig wirksamer zu behandeln.
Blumenthal und seine Kollegen untersuchten, welche Eiweißstoffe im Blut von Down-Betroffenen zirkulieren, und verglichen dies mit den Werten bei normalem Chromosomensatz. Hierfür nutzten die Forscher eine Technik, die Proteine mit Hilfe so genannter Aptamere nachweist – kurzer Nukleinsäurestücke, die zielgerichtet an bestimmte Moleküle binden. So konnten die Wissenschaftler in den Blutproben von insgesamt 263 Menschen jeweils tausende Proteine nachweisen. 165 Teilnehmer der Studie wiesen das Downsyndrom auf, die übrigen nicht.
Deutlich anderer Proteinspiegel bei Down-Betroffenen
Die Untersuchung ergab, dass sich die beiden Gruppen hinsichtlich ihrer Proteinspiegel deutlich unterschieden. Mindestens 200 Eiweißstoffe kamen bei Down-Betroffenen entweder häufiger oder seltener vor als bei den anderen. Besonders auffällig: Mehrere Proteine, deren Gene auf Chromosom 21 verortet sind, ließen sich in wesentlich größeren Mengen nachweisen. Menschen mit Trisomie 21 besitzen von den Genen, die dort liegen, drei statt zwei Kopien, weshalb ihr Organismus auch mehr zugehörige Genprodukte herstellten sollte.
Einige dieser Proteine üben Schlüsselfunktionen in der Körperabwehr aus, indem sie als "Masterregulatoren" über diverse Signalwege viele Immunprozesse steuern. Zu ihnen gehören vier so genannte Interferon-Rezeptoren. Werden sie auf Grund des überzähligen Chromosoms 21 vermehrt hergestellt, neigt das Immunsystem zu überschießenden Reaktionen, die sich zu Autoimmunerkrankungen entwickeln können. Andererseits könnte die überaktive Körperabwehr daran mitwirken, dass Down-Betroffene seltener an soliden Tumoren leiden: Aus der Krebsimmuntherapie ist bekannt, dass eine Entfesselung des Immunsystems zur Rückbildung bösartiger Wucherungen führen kann. Blutkrebs wiederum tritt bei ihnen vielleicht deshalb häufiger auf, weil ihr Organismus diverse Wachstumsfaktoren beziehungsweise deren Rezeptoren in veränderten Mengen herstellt, wie die Daten zeigen.
Von den mindestens 200 Proteinen, die beim Downsyndrom in veränderter Konzentration vorliegen, wirkt etwa jedes zweite an der Kontrolle des Immunsystems mit. So spielt β2-Mikroglobulin, eine Untereinheit des Haupthistokompatibilitätskomplexes I, eine wesentliche Rolle beim Bekämpfen körperfremder Strukturen und tritt im Blut von Trisomie-21-Betroffenen vermehrt auf. Ein anderes Beispiel ist Immunglobulin E, ein Antikörper, der an der Parasitenabwehr und an Allergien mitwirkt. Sein Blutspiegel erwies sich bei Menschen mit Downsyndrom als deutlich vermindert.
Mehr entzündungsfördernde Proteine
Wie die Untersuchung belegt hat, sind bei Down-Betroffenen die Konzentrationen mehrerer entzündungsfördernder Proteine erhöht. Dazu gehören Interleukin-6 und -22, CCL2 sowie der Tumornekrosefaktor (TNF-α). Moleküle wiederum, die das Immunsystem eher dämpfen, werden in geringeren Mengen gebildet – etwa LILRB-Proteine (Leukozyten-Immunglobulin-ähnliche Rezeptoren der Unterfamilie B). Diese Veränderungen fördern eine überaktive Immunabwehr und verstärken die Neigung zu Autoimmunreaktionen. Aus früheren Studien ist bekannt, dass etliche Proteine, deren Blutspiegel bei Trisomie-21 verändert ist, mit Autoimmunerkrankungen und chronisch-entzündlichen Prozessen in Zusammenhang stehen – etwa mit chronischen Schilddrüsenerkrankungen, rheumatoider Arthritis, Schuppenflechte (Psoriasis), Diabetes Typ I und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.
Eine weitere Klasse von Eiweißstoffen, die beim Downsyndrom in veränderten Konzentrationen auftreten, sind die Proteine des so genannten Komplementsystems. Sie zirkulieren im Blutkreislauf und dienen der Abwehr eingedrungener Fremdstoffe, beispielsweise Mikroorganismen, können aber auch Körperzellen zerstören und Gewebeschäden verursachen – etwa bei der Autoimmunerkrankung Schmetterlingsflechte. Blumenthal und sein Team haben nachgewiesen, dass der Blutplasmagehalt vieler dieser Proteine bei Trisomie 21 vermindert ist. Das könnte der Grund sein, warum die Betroffenen häufiger an Lungen- und Mittelohrentzündungen sowie an Nierenkomplikationen leiden. Auch gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Komplementsystem und neurodegenerativen Störungen. Mehrere Bestandteile des Komplementsystems wirken daran mit, Synapsen im Gehirn zu zerstören, während sich das Alzheimersyndrom ausprägt – daher vermuten die Forscher, dass die Alzheimerkrankheit bei Down-Betroffenen anders fortschreitet.
Die veränderten Immunfunktionen sind vielleicht auch der Grund für die kognitiven Beeinträchtigungen, die mit dem Downsyndrom häufig einhergehen. Das jedenfalls vermuten die Forscher um Blumenthal. Ihr Argument: Wenn die Mikroglia, die Immunzellen des Gehirns, dauerhaft überaktiv sind, können sie andere Hirnzellen schädigen – beispielsweise Neurone. Im Gehirn von Trisomie-21-Betroffenen gebe es starke Hinweise auf eine hochaktive Mikroglia und entzündliche Prozesse, sagt Joaquin Espinosa, einer der beteiligten Wissenschaftler. Das trage möglicherweise zum Untergang von Nervenzellen, zu den kognitiven Defiziten und einem erhöhten Alzheimerrisiko bei. Negativ könnte sich zudem auswirken, dass mehrere Proteine, die für die Neurogenese wichtig sind, bei Trisomie 21 schwächer ausgeprägt werden, wie die Daten zeigen.
"Weltweit arbeiten viele Forscher an Verfahren zur Proteinbestimmung, die sich diagnostisch oder therapeutisch einsetzen lassen"Albert Sickmann
Allerdings muss man bei solchen Schlüssen Vorsicht walten lassen, betont Albert Sickmann, Leiter des Leibniz-Instituts für Analytische Wissenschaften (ISAS). Bei den Untersuchungen von Blumenthal und seinen Kollegen handle es sich um eine typische Discovery-Studie – also eine, die ganz am Anfang steht, wenn man nach Proteinen mit diagnostischer oder therapeutischer Aussagekraft sucht. Der wesentlich langwierigere Teil stehe noch bevor, nämlich die Validierung der Ergebnisse und die Entwicklung neuer klinischer Testverfahren daraus. "Weltweit arbeiten viele Forscher an Verfahren zur Proteinbestimmung, die sich diagnostisch oder therapeutisch einsetzen lassen", beschreibt Sickmann. "Man versucht das bei sehr vielen Arten von Erkrankungen." Proteomanalysen könnten häufig mehr über den Zustand von Zellen und Geweben aussagen als Genomuntersuchungen, weil Proteine – im Gegensatz zu genetischen Mutationen – direkt auf physiologische Vorgänge einwirken.
Es gibt heute schon Arzneistoffe, die Interferon-Signalwege unterbrechen – so genannte Januskinase-Inhibitoren. Mediziner setzen sie unter anderem ein, um rheumatoide Arthritis oder Schuppenflechte zu behandeln, bei denen Autoimmunprozesse eine Rolle spielen. Blumenthal und seine Kollegen möchten als Nächstes untersuchen, ob sich mit solchen Arzneimitteln auch die Symptome des Downsyndroms behandeln lassen. Eine nicht unbegründete Hoffnung, wie der Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes bestätigt: "Die interessante Studie gibt durchaus Ansatzpunkte für Therapiestrategien."
Allerdings, so Henn, dürfe man vom Erforschen der molekularen Mechanismen des Downsyndroms keine therapeutischen Wunder erwarten. Denn infolge der Chromosomenanomalie prägten sich schon in frühen Stadien der vorgeburtlichen Organentwicklung manche Veränderungen aus, die zum Zeitpunkt der Geburt nicht mehr umkehrbar seien – beispielsweise bei der Bildung der Herzhöhlen. Was aber keineswegs von der Pflicht entbinde, den Betroffenen auf der medizinischen Ebene optimale Lebensperspektiven zu geben und an deren Verbesserung zu arbeiten.
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