Lexikon der Psychologie: Aufmerksamkeit
Essay
Aufmerksamkeit
Jochen Müsseler
Begrifflichkeiten
Der wichtigste Aspekt der Aufmerksamkeit umschreibt unsere Fähigkeit, aus dem vielfältigen Reizangebot der Umwelt einzelne Reize oder Reizaspekte auszuwählen und bevorzugt zu betrachten, andere dagegen zu übergehen und zu unterdrücken. Würden vom Organismus alle Reize mit der gleichen Priorität verarbeitet, wäre aufgrund eines sensorischen Reizüberangebots ein geordnetes Handeln unmöglich. Innerhalb der Psychologie der Informationsverarbeitung betrachtet man daher Aufmerksamkeit vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Selektion (selektive Aufmerksamkeit) – man widmet sich also den Mechanismen, die eine mehr oder weniger große Einengung des Reizangebots (auch in unserer subjektiven Erlebniswelt Bewußtsein) nach sich ziehen. Daneben wird in anderen Bereichen der Psychologie der Aufmerksamkeitsbegriff bisweilen auch als allgemeine Zustandsbeschreibung verwendet. So unterliegt das Aktivationsniveau mit seinen beiden Extremen Wachen und Schlafen (Schlaf) zeitlichen Aufmerksamkeitsschwankungen und erfaßt unsere generelle Wahrnehmungsbereitschaft. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Vigilanz (Wachsamkeit) zu nennen, der die Fähigkeit zur genauen Wahrnehmung und zur Reaktionsbereitschaft auf bestimmte Reize, insbesondere über längere Zeiträume hinweg, erfaßt (Daueraufmerksamkeit,Konzentration).
Theorien
Aufmerksamkeit ist daher keine isolierte kognitive Teildisziplin wie etwa Wahrnehmung und Gedächtnis. Sie ist vielmehr in zahlreichen Teilbereichen und Modellen der Informationsverarbeitung als eine Komponente enthalten, die gleichsam als moderierende Variable auf den Informationsfluß einwirkt. Diese Schlüsselposition nimmt Aufmerksamkeit schon in der introspektiven Psychologie Wilhelm Wundts oder William James ein. Die moderne Aufmerksamkeitspsychologie entwickelte sich aber erst nach 1950 und hat ihre experimentellen Ausgangspunkte in Untersuchungen von Collin Cherry und Donald Broadbent zum dichotischenHören. Wenn beiden Ohren über Kopfhörer unterschiedliche Texte dargeboten werden, kann man zwar nach Belieben den einen oder den anderen Text begleitend nachsprechen, man ist dann aber nicht in der Lage, den Inhalt des anderen Textes gleichermaßen zu beachten. Mit diesem Paradigma wurde im angelsächsischen Bereich eine Forschungstradition begründet, die sich bis heute in den sog. Zwei-Prozeß-Theorien der Aufmerksamkeit widerspiegelt. Nach diesen Theorien müssen im informationsverarbeitenden System Prozesse danach unterschieden werden, ob sie unwillkürlich und weitgehend kapazitätsfrei ausgeführt werden oder ob sie willkürliche und damit unserem Bewußtsein zugängliche, d.h. berichtbare Aufmerksamkeitszuwendungen verlangen, die einer Kapazitätsbegrenzung unterliegen. Diese beiden Komponenten, eine zunächst automatische, kapazitätsfreie und eine darauffolgende kontrollierte, kapazitätsbeschränkte Verarbeitung (automatic vs. controlled processes), finden sich bereits in der Broadbentschen Filtertheorie der Aufmerksamkeit ( Abb.1 ): Vor einen Kanal mit begrenzter Kapazität ist ein (Selektions-)Filter geschaltet, der die bis dahin parallel von den Rezeptoren einlaufende Reizinformationsmenge in ihrem Umfang reduziert. Nur die von diesem Filter nicht zurückgewiesene Information gelangt danach zur weiteren Verarbeitung.
In Analogie zu den damals gängigen, aber in ihrem Leistungsumfang relativ beschränkten maschinellen Prozessortypen war der Gedanke der, daß vom Prozessor nicht beliebig viel Reizinformation zu einem gegebenen Zeitpunkt verarbeitet werden kann und daß deswegen ein (Selektions-) Mechanismus benötigt wird, der aus dem Reizangebot eine begrenzte Informationsmenge isoliert. In der Nachfolge wurde diese Vorstellung ausgeweitet. Konnte nach Broadbent der Filter allein auf physikalische Reizmerkmale nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip ausgerichtet werden, wodurch er im Verarbeitungsstrom relativ früh und damit peripher anzusiedeln war, gingen nachfolgende Konzeptionen eher von späten, zentralnervösen Selektionsmechanismen aus (early vs. late selection); ferner traten anstelle des einen Kanals mit begrenzter Kapazität sogenannte Mehrkanal-Konzeptionen (single vs. multiple channel), und unspezifische Kapazitätsbegrenzungen wurden durch spezifische ersetzt, die Kapazitätsengpässe nur bei der Beanspruchung derselben Strukturen und Funktionen forderten (specific vs. unspecific resources). Spätestens mit diesen Erweiterungen verliert der Aufmerksamkeitsbegriff seine zunächst homogen gedachte Konzeption, d.h. Aufmerksamkeit wird nicht mehr als ein einheitlicher Mechanismus gesehen, sondern als ein Sammelbegriff vielfältiger Mechanismen, die zur lokalen Theoriebildung beitragen.
Selektive Aufmerksamkeit
Eine Doktrin blieb aber insbesondere im angelsächsischen Bereich über die Jahre bestehen: Selektionsmechanismen wurden als eine unabwendbare Konsequenz einer durch die kognitive Hardware verursachten Kapazitätsbeschränkung angesehen. Kapazität war nach dieser Konzeption das vorrangige Konstrukt, Selektion das nachgeschaltete. Seit Mitte der 80iger Jahre hat sich allerdings eine Rückbesinnung auf eine Sichtweise durchgesetzt, die den Funktionszusammenhang zwischen Kapazitätsbegrenzung auf der einen und zu fordernden Selektionsmechanismen auf der anderen Seite umkehrt (Neumann, 1996; Van der Heijden, 1992). Selektionsmechanismen werden seitdem nicht mehr als Folge einer hardware-bedingten Kapazitätsbegrenzung angesehen, sondern sie werden als Konsequenz eines kognitiven Apparates gefordert, der ein geordnetes Handeln in unserer Umwelt erst ermöglicht (selection for action). Die extern beobachtbaren Kapazitätsbegrenzungen sind also Folge der Selektion und nicht umgekehrt. Diese Sichtweise macht das Postulat einer hardware-abhängigen Kapazitätsbegrenzung überflüssig und stellt die Selektion in den Vordergrund. Damit ist selektive Aufmerksamkeit nicht ein Mechanismus, der sich nahezu ausschließlich in der Wahrnehmungsdomäne abspielt, vielmehr sollte er im Zusammenhang mit Handlungssteuerungsmechanismen analysiert werden. Dabei ist zu beachten, daß Aufmerksamkeitszuwendungen u.a. nach einer Orientierungsreaktion schon dadurch eingeleitet werden, daß sich der Organismus (z.B. durch Kopf- und/oder Körperbewegungen) bzw. sein Rezeptorsystem (z.B. durch sakkadische Blickbewegungen) entsprechend ausrichtet (overt orienting). Daneben kann ein Individuum aber auch ein Objekt sozusagen "verdeckt aufsuchen" (covert orienting), d.h. es kann bei fixiertem Blick seinen Aufmerksamkeitsfokus in die Peripherie verlagern. Diese Fähigkeit unseres visuellen Systems ist wahrscheinlich eng mit Blickbewegungen verknüpft, was sich z.B. in der sog. Prämotorischen Theorie der Aufmerksamkeit (Rizzolatti et al., 1994) niedergeschlagen hat. Nach diesem Ansatz liegt eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit vor, wenn die entsprechenden Blickbewegungsparameter programmiert sind. Im Unterschied dazu kann aber auch angenommen werden, daß eine Aufmerksamkeitszuwendung für die nachfolgende Blickbewegung die Funktion einer räumlichen Zielspezifikation erfüllt. Zu beachten ist in beiden Fällen, daß zwar einem Wechsel der Aufmerksamkeit unter natürlichen Bedingungen in der Regel eine entsprechende Blickbewegung folgt, jedoch beide Prozesse trotz ihrer funktionellen Gemeinsamkeiten auch unabhängig voneinander realisiert werden können.
Experimentelle Untersuchungen
Zur experimentellen Untersuchung von verdeckten Selektionsprozessen kommen – meist unter Fixationskontrolle – vorrangig Aufgaben vom Typus des Hinweisreizes oder vom Typus des Suchens zur Anwendung. In den frühen Studien des ersten Typus ging es zunächst um die sog. Aufmerksamkeitsspanne, also um die Menge an Information, die einer Reizanordnung bei kurzzeitiger Darbietung (Tachistoskop) entnommen werden kann (sog. spatial bar-probe task, Sensorischer Kurzzeitspeicher). In den später verwendeten Versuchsanordnungen verweist zunächst ein peripher (z.B. ein Punkt) oder zentral (z.B. ein Pfeil) dargebotener Hinweisreiz auf einen Ort im visuellen Gesichtsfeld, an dem dann ein zu identifizierender Zielreiz (z.B. ein Buchstabe) dargeboten werden kann (peripheral vs. central cuing). Funktion des Hinweisreizes ist es, Aufmerksamkeit räumlich auszurichten. Dabei kann angenommen werden, daß das Erscheinen eines peripheren Hinweisreizes eine unwillkürliche Aufmerksamkeitsausrichtung quasi automatisch nach sich zieht, wohingegen ein zentral dargebotener Hinweisreiz eine willkürlich initiierte Ausrichtung notwendig macht. In der Tat wird unter beiden Bedingungen der Zielreiz bei vorheriger Präsentation des Hinweisreizes schneller und besser erkannt als bei einer Bedingung, in der beispielsweise kein Hinweisreiz präsentiert wurde. Beide Bedingungen unterscheiden sich aber in dem optimalen Zeitintervall zwischen Hinweisreiz und Zielreiz, das zur Aufmerksamkeitsausrichtung benötigt wird. Unwillkürliche Aufmerksamkeitsverlagerungen benötigen danach lediglich 100 bis 200 ms, um ihre maximale Wirkung zu entfalten, willkürliche Aufmerksamkeitsverlagerungen aber 300 bis 400 ms. Diese nicht beobachtbaren räumlichen Aufmerksamkeitsverlagerungsprozesse werden häufig mit der Metapher des Scheinwerferkegels umschrieben, der wie auf einer Theaterbühne verschiedene Szenen der visuellen Umwelt offenlegt und dessen Inhalte präferiert verarbeitet werden. Dementsprechend wird u.a. diskutiert, ob sich der Aufmerksamkeitsfokus kontinuierlich/diskontinuierlich, zeitvariabel/zeitkonstant verlagert und ob er in seinem Umfang begrenzt oder variabel ist. Allerdings ist eine Überbeanspruchung dieser Metapher nicht angezeigt. Ökonomischer ist eine Betrachtungsweise, die Aufmerksamkeitsausrichtungen lediglich als eine Sensitivitätssteigerung an den entsprechenden Raumkoordinaten sieht (Sperling & Weichselgartner, 1995, Abb. 2 ).
Bei peripher erscheinenden Hinweisreizen kann dies durch neuronale Bahnungsmechanismen bewerkstelligt werden, bei zentral dargebotenen Hinweisreizen muß man zudem eine zentralnervös initiierte Sensibilisierung bestimmter Koordinaten fordern. Während Aufgaben vom Typus Hinweisreiz den raumbasierten Charakter der Aufmerksamkeitszuwendung betonen, können Aufgaben vom Typus Suchen auch auf objektbasierte Zuwendungsprozesse verweisen (man kann beispielsweise gezielt nach einem roten Objekt unter grünen Objekten suchen). Auch sie dürften zentralnervös gesteuert werden.
Literatur
Sperling, G., & Weichselgartner, E. (1995). Episodic theory of the dynamics of spatial attention. Psychological Review, 102, 503-532.
Abb. Aufmerksamkeit 1: Informationsfluß entsprechend der Filtertheorie der Aufmerksamkeit (nach Broadbent).
Abb. Aufmerksamkeit 2: Hypothetische, durch Aufmerksamkeitsprozesse bewirkte Veränderungen eines Sensitivitätsgradienten. Zunächst ist im Beispiel der Sensitivitätsgradient um den Fixationspunkt FP zentriert, er verlagert sich dann nach einer Zeit Δt, die zur Ausrichtung der Aufmerksamkeit benötigt wird, in die Peripherie zum Punkt P.
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