Eine Prise Chemie: Fataler Protein-Schwindel
Der wohl größte und bis heute folgenreichste Lebensmittelbetrug jüngerer Zeit begann im Jahr 2007. Damals gelangte eine Industriechemikalie in die Milch, die hunderttausende Babys tranken. Das hatte fatale Folgen: Rund 300 000 Säuglinge und Kleinkinder entwickelten daraufhin Nierensteine oder gar Nierenversagen, sechs Kinder starben. Schuld daran war Melamin.
Der Stoff steht normalerweise nicht auf unserem Speiseplan. Vielmehr ist er eine wichtige Zutat bei der Herstellung von licht- und witterungsbeständigen Verbundwerkstoffen, die uns im Alltag überall begegnen. Denn lässt man Melamin mit Formaldehyd reagieren, entstehen strapazierfähige Melaminharze, die etwa für Laminat, Klebstoffe, Essgeschirr und als kratzfeste Beschichtung zum Einsatz kommen. Das Makromolekül ist ein dreidimensionales Netzwerk, das Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff enthält.
Unser Essen steckt voller chemischer Details: Hier tummeln sich leckere, wohltuende und auch schädliche Inhaltsstoffe, die faszinierende Reaktionen vollführen, wenn wir ein Gericht zubereiten oder verspeisen. In der Kolumne »Eine Prise Chemie« stellen wir die spannendsten davon vor und räumen mit Mythen über Chemie in unserer Nahrung auf.
Wie gelangt so eine Substanz in Säuglingsnahrung? Erschreckend ist: Die Kontamination war kein Versehen. In China hatten mehrere Hersteller die Chemikalie ihrer Säuglingsmilch vorsätzlich zugesetzt, um einen höheren Proteingehalt vorzutäuschen – offenbar in der Annahme, der Betrug würde nicht weiter auffallen. Aber Moment, Melamin ist doch gar kein Protein. Das Ganze ergibt also überhaupt keinen Sinn, oder? Was geradezu irrsinnig klingt, wird etwas klarer, wenn man sich anschaut, welche Auflagen Lebensmittel erfüllen müssen und mit welchen Methoden diese überprüft werden.
Welche Stoffe ein Lebensmittel enthalten darf – oder muss – und in welchen Mengen, ist in Deutschland und der EU streng geregelt. Beispielsweise gibt es klare Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen ein Lebensmittel als Käse gilt, wie viele Zusatzstoffe ein Jogurt beinhalten darf oder eben wie viel Protein in Milch nachweisbar sein muss.
Säuglingsprodukte sind besonders stark reguliert. Zum einen reagieren die Allerkleinsten ausgesprochen empfindlich, wenn sie schädliche Substanzen zu sich nehmen. Zum anderen ist Milch in den ersten Lebensmonaten ihre einzige Nahrungsquelle. Daher muss garantiert sein, dass sie alle Nährstoffe in der nötigen Menge enthält. Andernfalls können sich die Kinder nicht gesund entwickeln und tragen möglicherweise langfristige Schäden davon. In der EU regelt die Delegierte Verordnung für Säuglingsanfangs- und Folgenahrung, welche Inhaltsstoffe synthetische Babymilch in welchen Mengen enthalten darf: Für Protein sind zwischen 1,8 und 2,5 Gramm pro 100 Kilokalorien vorgeschrieben.
Wie aber weist man nach, wie viel Protein ein Lebensmittel enthält? Tatsächlich ist das nicht ganz einfach und geschieht überraschenderweise gar nicht direkt. Klassisch analysiert man, wie viel Stickstoff in einer Lebensmittelprobe steckt, und rechnet diesen Anteil anschließend auf das Gesamtprodukt hoch. Das funktioniert, weil Proteine aus Aminosäuren bestehen, die wiederum Stickstoff enthalten – im Gegensatz zu Kohlenhydraten oder Fetten, die sich nur aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff zusammensetzen. Weil der Stickstoffanteil verschiedener Proteine recht konstant ist, lässt sich anschließend über einen Umrechnungsfaktor der Proteingehalt einer Probe ermitteln. Der Faktor hängt von der Art des Proteins ab; entsprechend gibt es unterschiedliche Werte für Fleisch, Eier, Milch, Weizen, Soja und so weiter.
Für die Analyse kocht man die Probe zusammen mit speziellen Katalysatoren in konzentrierter Schwefelsäure, wobei der enthaltene Stickstoff als Ammoniumsulfat gebunden wird. Das Ammoniumsulfat lässt sich wiederum in Ammoniak überführen; Letzteres wird in eine Lösung eingeleitet, was es erlaubt, dort seine Menge zu bestimmen.
Das funktioniert gut, solange niemand die Probe mit anderen Stickstoffquellen verunreinigt hat. Denn bei der beschriebenen Analysemethode wird jeglicher organisch gebundene Stickstoff in Ammoniumsulfat überführt und »mitgezählt«. Diese Schwäche nutzten die Fälscher aus.
Wie man an der Strukturformel sieht, enthält Melamin sechs Stickstoffatome (N). Sie machen zwei Drittel des Gesamtgewichts des Moleküls aus. Eine Aminosäure hingegen besitzt in der Regel ein oder zwei Stickstoffatome in ihrem Gerüst aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und in manchen Fällen Schwefel. Ausnahmen sind Histidin und Pyrrolysin mit jeweils drei und Arginin mit vier Stickstoffatomen. Auf das Gesamtgewicht des Moleküls bezogen macht Stickstoff deshalb bei den meisten Aminosäuren weniger als 20 Prozent aus. Schon kleine Mengen Melamin genügen, um den Stickstoffgehalt – und damit den vermeintlichen Proteingehalt – merklich in die Höhe zu treiben.
Die Fälscher nahmen wohl an, der Schwindel würde nicht auffallen. Im Jahr 2008 dachte man noch, dass Melamin nicht akut giftig sei. Ist die Menge niedrig genug, bemerken Erwachsene in aller Regel nicht, dass sie gerade Melamin verzehrt haben. Allerdings, das weiß man heute, kann der Stoff zusammen mit seinem Abbauprodukt Cyanursäure die Nieren schädigen.
Weil der Körper das vorhandene Melamin nicht auf einen Schlag abbaut, liegen Melamin und Cyanursäure im Körper auch gleichzeitig vor. Die Moleküle lagern sich zusammen und bilden Melamincyanurat – ein zweidimensionales Netzwerk, das schlecht wasserlöslich ist, daher Kristalle in der Niere bilden und so die Nierengänge verstopfen kann. Besonders problematisch: Weil Babys alle paar Stunden gefüttert werden, erhalten sie bei entsprechend verunreinigter Nahrung einen kontinuierlichen Nachschub an Melamin. Der Körper hat also gar nicht die Möglichkeit, den Stoff abzubauen, bevor neuer nachkommt.
Dass etliche Säuglinge mit Nierenproblemen in chinesischen Krankenhäusern behandelt werden mussten, wurde im August 2008 bekannt. Die Behörden wussten davon allerdings mindestens seit Juli; der Hersteller der Milch, die Firma Sanlu, hatte schon Ende 2007 erfahren, dass seine Milch Säuglinge krank machte. Dass das zugesetzte Melamin die Ursache war, lag nahe, denn es gab gewissermaßen eine Blaupause: Bereits 2004 und 2007 war in Südkorea und den USA mit Melamin verseuchtes Tierfutter aufgetaucht, das aus China stammte. Auch hier war die Chemikalie absichtlich hinzugefügt worden, um den vermeintlichen Proteingehalt in die Höhe zu treiben. Katzen, Hunde und Nutztiere waren daran gestorben.
Melamin lässt sich über eine ganze Reihe von Methoden nachweisen – meist trennt man die Probe durch chromatografische Verfahren auf und identifiziert anschließend die enthaltenen Stoffe per Massenspektrometrie. Nachdem sich der Verdacht bestätigt hatte, analysierten die chinesischen Behörden systematisch Säuglingsnahrung weiterer Firmen. Länder weltweit testeten importiertes Babymilchpulver gezielt auf Melamin. Bald stand fest: Ganze 22 chinesische Hersteller hatten die perfide Praxis angewendet.
Doch dabei blieb es nicht. Weitere Kontrollen, koordiniert durch das internationale Netzwerk der Lebensmittelsicherheitsbehörden (INFOSAN), förderten das ganze Ausmaß des Betrugs zu Tage: Der Stoff war Milch und Milchprodukten zugesetzt, Fertigdesserts, Zerealien, Kuchen, Keksen, Nahrungsergänzungsmitteln, Eipulver und Tierfutter, sogar Backtriebmitteln und Sojaprodukten. Die Waren wurden von China aus in 47 Länder rund um den Globus exportiert, teils gehörten sie zu bekannten Marken. In Deutschland fand man die Substanz nur in zwei verschiedenen Süßigkeiten.
Katastrophe mit Ansage
Die Lebensmittelüberwachungsbehörden standen dem Melamin-Skandal nicht ganz unvorbereitet gegenüber. In Südkorea hatten schon im Jahr 2004 plötzlich ungewöhnlich viele Haustiere unter Nierenproblemen gelitten, 2007 waren ähnlich gehäufte Fälle unter Haustieren in den USA aufgetreten. Man hatte in beiden Fällen Melamin im Tierfutter als Ursache ausgemacht.
In den darauf folgenden Wochen wurden verschiedene Lebensmittel auf Melamin und seine Abbauprodukte hin untersucht, da man bereits vermutete, es könne nur eine Frage der Zeit sein, bis der Betrug sich von Futtermitteln auf Lebensmittel ausweitet. Das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart schrieb in einer Mitteilung vom September 2007: »Auch wenn mittels dieser Stichprobenkontrollen zum jetzigen Zeitpunkt noch keine melaminhaltigen Lebensmittel vorgefunden worden sind, kann eine Einschleusung solcher Produkte in den Lebensmittelmarkt zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.« Schließlich sei die Industriechemikalie wesentlich billiger als Protein.
Und so zog die Geschichte weltweite Kontrollen und Handelsbeschränkungen nach sich: Zahlreiche Länder untersagten die Einfuhr von Nahrungsmitteln aus China. In der EU ist es bereits seit 2002 verboten, Lebensmittel tierischen Ursprungs aus China einzuführen, dazu zählt auch Säuglingsnahrung. Nun wurden noch weitere proteinhaltige Produkte von dort generell streng auf Melamin kontrolliert. Die UN legte außerdem internationale Standards für die Substanz fest: Demnach dürfen Lebensmittel maximal 2,5 Milligramm Melamin pro Kilogramm enthalten, für Säuglingsnahrung gilt ein niedrigerer Grenzwert von 1 Milligramm Melamin pro Kilogramm. Diese Höchstwerte nahm unter anderem die EU in ihre Verordnungen auf. Die kontaminierte Säuglingsnahrung in China lag meilenweit darüber: Pro Kilogramm enthielten die Chargen teils mehr als 2000 Milligramm Melamin. China überarbeitete infolge des Skandals seine Lebensmittelüberwachung, die bis dahin extrem lax war: Große Nahrungsmittelproduzenten etwa waren von offiziellen Kontrollen ausgenommen gewesen, so auch Sanlu, der Hauptlieferant des kontaminierten Milchpulvers.
Labore und Behörden auf der ganzen Welt haben die Industriechemikalie als mögliche Kontaminante seither stets auf dem Radar. Schließlich gibt es neben der Säuglingsnahrung einen weiteren Markt, der für Fälscher verlockend sein könnte: Nahrungsergänzungsmittel und Proteinshakes für Hobbysportler. Im Jahr 2015 hatten Fachleute für eine Studie solche Produkte aus Südafrika untersucht und in fast der Hälfte davon Melamin gefunden. Aus diesem Anlass analysierte beispielsweise das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Karlsruhe, eines der in Baden-Württemberg zuständigen Ämter für Lebensmittelsicherheit, Produkte auf dem deutschen Markt – und gab Entwarnung: In den 99 untersuchten Produkten fand sich kein Melamin. Seither testet das Amt stichprobenartig immer wieder Lebensmittel auf den Stoff; bislang waren alle Proben negativ.
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