Lexikon der Biologie: Nagetiere
Nagetiere, Nager, Rodentia, nach Anzahl der Arten und Individuen größte und damit „erfolgreichste“ Ordnung der Säugetiere: Walker (1983) nennt noch 1687 (andere weit mehr, zum Teil bis 3000) rezente Nagetier-Arten, 380 Gattungen und 29 Familien. Die Körpergröße der Nagetiere reicht von 5 cm (Zwergmaus) bis über 1 m (Capybara) Kopfrumpflänge. Die Gestalt ist sehr verschieden: Kopf klein bis groß, Augen groß bis verkümmert und fellüberwachsen, Ohren groß bis fehlend, Beine kurz bis lang, Zehenzahl 4–5/3–4, Schwanz fehlend bis überkörperlang (zum Teil mit Schuppen bedeckt: z.B. Biber, Nutria, Ratten). Viele Nagetiere verfügen über einen ausgeprägten Geruchssinn, nur wenige über ein gutes Sehvermögen; Echoorientierung kommt bei Mäusearten vor. Das Gehirn der Nagetiere ist relativ einfach gebaut ( Gehirn II ), meist mit glatter Oberfläche, gefurcht nur bei größeren Arten (z.B. Biber, Murmeltiere, Capybara). Hervorragend ist die Lernfähigkeit (Lernen) mancher Nagetiere (z.B. Ratten als Versuchstiere für Lernversuche; Labyrinthversuch [Abb.]). Viele Kleinnager haben eine hohe Vermehrungsrate durch rasche Generationenfolge und beachtliche Wurfgrößen. Die Jungen der meisten Nagetiere sind Nesthocker, die der Meerschweinchen und ihrer Verwandten Nestflüchter. Die Lebensdauer ist bei Kleinnagern in der Regel kürzer als 2 Jahre; große Nagetiere, z.B. Stachelschweine, können 12–18 Jahre alt werden. Einige Nagetiere halten Winterschlaf (z.B. Bilche, Hamster, Murmeltiere, Ziesel). Kennzeichnend für alle Nagetiere ist ihr Nagegebiß: Im Ober- und Unter-Kiefer befinden sich je 2 scharfe Nagezähne; durch das Fehlen von Eckzähnen und vorderen Backenzähnen kommt eine große Lücke (Diastema) zwischen Nage- und Backenzähnen zustande. Die Gesamtzahl der Zähne beträgt maximal 22, nur in der Gattung Heliophobius (Erdbohrer) 28. Fehlt die natürliche Abnutzung der zeitlebens nachwachsenden Nagezähne, so entstehen Zahnmißbildungen (z.B. spiralförmiger Wuchs). Wegen der auffallenden Ähnlichkeit mit dem Gebiß der Hasentiere(Lagomorpha) hat man früher die Nagetiere (als Unterordnung Simplicidentata, weil nur 1 Schneidezahn pro Kieferhälfte) mit den Hasentieren (als Unterordnung Duplicidentata, weil 2 Schneidezähne pro Kieferhälfte) in einer Ordnung zusammengefaßt. Heute sieht man die Nagegebisse beider Gruppen als konvergente Entwicklungen (Konvergenz) an. – Die systematische Untergliederung der Nagetiere basiert hauptsächlich auf der Ausbildung der Kiefer-Muskulatur und damit zusammenhängenden Merkmalen des Schädels ( vgl. Abb. 1 ). Danach unterscheidet man gewöhnlich 4 Unterordnungen, wobei die Monophylie (monophyletisch) der Ordnung Nagetiere neuerdings von einigen Autoren in Frage gestellt wird ( vgl. Tab. ). – Nagetiere sind fossil seit dem Paleozän nachgewiesen (Paramys); sie leiten sich vermutlich von primitiven Insektenfressern ab, die frühen Primaten nahestanden ( vgl. Abb. 2 ). – In allen Erdteilen (Ausnahme: Antarktis) beherbergt fast jeder Lebensraum auch mehrere Arten Nagetiere. Zu ihrer weltweiten Verbreitung trug auch der Mensch bei (z.B. durch Schiffsverkehr). Die meisten Nagetiere sind bodenlebend, einige hausen unterirdisch, andere klettern auf Bäumen. Es gibt mit einer Flughaut ausgestattete Gleitflieger (z.B. Dornschwanzhörnchen, Gleithörnchen; Flug, Flugmechanik) und semiaquatisch lebende Nagetiere mit Schwimmhäuten (Schwimmhaut) zwischen den Zehen (z.B. Biber, Capybara, Nutria). Nagetiere ernähren sich vielseitig (Ernährung), jedoch vorwiegend von Pflanzen-Samen und anderen, teilweise recht harten pflanzlichen Stoffen. Auf Insektennahrung sind die Grashüpfermäuse (Gattung Onychomys) spezialisiert. Von einigen Nagetieren (z.B. Meerschweinchen) ist die Abgabe und Wiederaufnahme von Blinddarmkot (Coecotrophie) bekannt. – Durch ihre Vielseitigkeit in der Ernährung wird für Nagetiere die Nahrung nur selten zum begrenzenden Faktor. In Verbindung mit hohen Fortpflanzungsraten können deshalb manche Kleinnager bei guter Ernährungslage (zum Teil vorübergehend) zu großen Bestandsdichten gelangen („Mäusejahre“, „Lemmingjahre“) und auch in Nahrungs-Konkurrenz zum Menschen geraten: vor allem Mäuse und Ratten verursachen in vielen Ländern alljährlich wirtschaftlich bedeutsame Verluste an Getreide. Als Krankheitsüberträger (Infektionskrankheiten) treten wiederum vor allem Ratten und Mäuse in Erscheinung. Auf der anderen Seite verdankt die biologisch-medizinische Forschung (Biomedizin) viele ihrer Erkenntnisse dem Einsatz von Nagetieren (z.B. Mäusen [Hausmaus], Ratten [Hausratte], Meerschweinchen und Goldhamstern) als Laboratoriumstieren (Modellorganismen, Versuchstiere). Forstschädlinge, Kontakttier, Makrosmaten, Mosaik-Zyklus-Konzept der Ökosysteme, Rodentizide; Nagetiere .
H.Kör.
Lit.:Niethammer, J., Krapp, F. (Hrsg.): Handbuch der Säugetiere Europas. Band 1: Nagetiere (Sciuridae, Castoridae, Gliridae, Muridae). Wiesbaden 1978. Band 2/I: Nagetiere (Cricetidae, Arvicolidae, Zapodidae, Spalacidae, Hystricidae, Capromyidae). Wiesbaden 1982.
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