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Lexikon der Chemie: kinetische Gastheorie

kinetische Gastheorie, Theorie, die Aussagen über die makroskopischen Eigenschaften von Gasen, z. B. Gasdruck, Temperatur oder Transportkoeffizienten, aus den Eigenschaften der Moleküle und ihren Wechselwirkungskräften ableitet.

Ausgangspunkt der k. G. ist das Modell des idealen Gases. Im idealen Gas bewegen sich die Moleküle völlig regellos und unabhängig voneinander im Raum. Zwischenmolekulare Kräfte werden vernachlässigt. Die Wechselwirkungen der Moleküle sind auf elastische Stöße beschränkt, die zu Änderungen der Geschwindigkeiten und kinetischen Energien der stoßenden Teilchen führen, so daß sich eine Geschwindigkeits- und Energieverteilung der Moleküle ausbildet. In der einfachen k. G. ist das eine Gleichgewichtsverteilung, die Maxwell-Boltzmann-Verteilung. Der Gasdruck ist das Ergebnis der Stöße der Gasteilchen auf die Gefäßwand. Er ergibt sich aus der Summe der Impulse, die je Zeit- und Flächeneinheit auf die Wand übertragen werden, zu p = 1Nmν-2-/3, wobei 1N die Teilchendichte, d. h. die Teilchenzahl je Volumeneinheit, m die Teilchenmasse und ν-2- das mittlere Geschwindigkeitsquadrat (Maxwell-Boltzmann-Verteilung) bedeuten. Daraus folgt mit NA = 1NV (NA Avogadro-Konstante, V Molvolumen) und M = mNA (M Molmasse): pV = M ν-2-/3 (M ist die Molmasse).

Verknüpft man dieses Ergebnis der k. G. mit der makroskopischen Zustandsgleichung idealer Gase für ein Mol pV = RT (wobei R Gaskonstante, T absolute Temperatur), so ergibt sich M ν-2-/3 = RT ⇒ (3/2) · RTM ν-2-/2 = Ekin, wobei Ekin = M ν-2-/2 = NAMν2/2 die mittlere kinetische Energie von 1 mol Teilchen darstellt. Sie ist direkt proportional der Temperatur des Gases. Die Moleküle werden in der einfachen k. G. als starre Kugeln aufgefaßt, verfügen also nur über drei Freiheitsgrade der Translation. Nach dem Prinzip der Gleichverteilung der Energie entfällt auf jeden Freiheitsgrad die gleiche Energie, d. h. der Anteil 1/2 RT je Freiheitsgrad und Mol. Hiervon wird bei der theoretischen Interpretation der Molwärmen von Gasen Gebrauch gemacht.

Die gemittelte Entfernung, die ein Molekül zwischen zwei Zusammenstößen zurücklegt, ist die mittlere freie Weglänge l-. Die gemittelte Zahl der Zusammenstöße je Zeiteinheit ist die mittlere Stoßfrequenz (Stoßzahl) Z-. Das Produkt aus mittlerer freier Weglänge und Stoßfrequenz ergibt die mittlere Geschwindigkeit ν- = l- Z-.

Aus der Maxwell-Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung erhält man ν- = (8 kTm)1/2, wobei k = R/NA = Boltzmann-Konstante. Für die mittlere Stoßfrequenz läßt sich Z- =

1Nπd2 ν- und für die mittlere freie Weglänge l- = 1/(

1Nπd2) ableiten, wobei d den Moleküldurchmesser bezeichnet. Aus den obigen Beziehungen erhält man z. B. bei 273 K für die mittlere Geschwindigkeit der Sauerstoffmoleküle 425 m s-1 und für Wasserstoffmoleküle 1700 m s-1. Die mittlere freie Weglänge beträgt 6,5·10-8 m für O2 und 11·10-8 m für H2 bei Normaldruck, dagegen bereits 11·10-2 m für H2 bei einem Druck von 0,1 Pa. Die mittlere freie Weglänge ist eng verknüpft mit den Transportkoeffizienten idealer Gase: Die k. G. liefert für den Viskositätskoeffizienten η den Ausdruck η = m1N ν- l-/3, für den Selbstdiffusionskoeffizienten D den Wert D = ν- l-/3 und für den Wärmeleitfähigkeitskoeffizienten λ die Beziehung λ = m2 1Ncv ν- l-/3, wobei cv die spezifische Wärme bei konstantem Volumen (molare Wärmekapazität).

Reale Gase zeigen mehr oder weniger starke Abweichungen von diesem Verhalten. Diese können durch die Einführung von anziehenden und abstoßenden Wechselwirkungspotentialen Φ(r) berücksichtigt werden. Im Chapman-Enskog-Modell wird ein abstoßendes Potential Φ(r) = konst./rn (wobei r Teilchenabstand, n empirischer Parameter, der stets > 2 ist), im Sutherland-Modell ein abstoßendes Potential Φ(r) = ∞ für r< d und Φ(r) = konst./rn für r >d zugrunde gelegt. Mit dem Lennard-Jones-Potential Φ(r) = konst.·[(d/r)n1 – (d/r)n2] (wobei n1 und n2 empirische ganzzahlige Exponenten sind) werden sowohl Anziehungs- als auch Abstoßungskräfte berücksichtigt.

  • Die Autoren
Dr. Andrea Acker, Leipzig
Prof. Dr. Heinrich Bremer, Berlin
Prof. Dr. Walter Dannecker, Hamburg
Prof. Dr. Hans-Günther Däßler, Freital
Dr. Claus-Stefan Dreier, Hamburg
Dr. Ulrich H. Engelhardt, Braunschweig
Dr. Andreas Fath, Heidelberg
Dr. Lutz-Karsten Finze, Großenhain-Weßnitz
Dr. Rudolf Friedemann, Halle
Dr. Sandra Grande, Heidelberg
Prof. Dr. Carola Griehl, Halle
Prof. Dr. Gerhard Gritzner, Linz
Prof. Dr. Helmut Hartung, Halle
Prof. Dr. Peter Hellmold, Halle
Prof. Dr. Günter Hoffmann, Eberswalde
Prof. Dr. Hans-Dieter Jakubke, Leipzig
Prof. Dr. Thomas M. Klapötke, München
Prof. Dr. Hans-Peter Kleber, Leipzig
Prof. Dr. Reinhard Kramolowsky, Hamburg
Dr. Wolf Eberhard Kraus, Dresden
Dr. Günter Kraus, Halle
Prof. Dr. Ulrich Liebscher, Dresden
Dr. Wolfgang Liebscher, Berlin
Dr. Frank Meyberg, Hamburg
Prof. Dr. Peter Nuhn, Halle
Dr. Hartmut Ploss, Hamburg
Dr. Dr. Manfred Pulst, Leipzig
Dr. Anna Schleitzer, Marktschwaben
Prof. Dr. Harald Schmidt, Linz
Dr. Helmut Schmiers, Freiberg
Prof. Dr. Klaus Schulze, Leipzig
Prof. Dr. Rüdiger Stolz, Jena
Prof. Dr. Rudolf Taube, Merseburg
Dr. Ralf Trapp, Wassenaar, NL
Dr. Martina Venschott, Hannover
Prof. Dr. Rainer Vulpius, Freiberg
Prof. Dr. Günther Wagner, Leipzig
Prof. Dr. Manfred Weißenfels, Dresden
Dr. Klaus-Peter Wendlandt, Merseburg
Prof. Dr. Otto Wienhaus, Tharandt

Fachkoordination:
Hans-Dieter Jakubke, Ruth Karcher

Redaktion:
Sabine Bartels, Ruth Karcher, Sonja Nagel


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