Lexikon der Mathematik: Integrationstheorie
Die folgenden Ausführungen skizzieren – als Alternative zu den sonst oft dargestellten Möglichkeiten – einen modernen und leistungsfähigen Zugang zu Integralen. Dabei werden zunächst der angestrebte Allgemeinheitsgrad motiviert, dann der vorgestelle Zugang von anderen – mehr klassischen – Überlegungen abgegrenzt und schließlich einige Highlights’ hervorgehoben. Wenn ich dabei vertrete, daß man Integrale so einführen sollte, dann beziehe ich mich auf die Situation, daß frühzeitig – wie etwa beim Mathematik- oder Physikstudium an einer Universität heute in der Regel gegeben – elementare metrisch-topologische Grundbegriffe eingeführt sind und mehr als nur ein Integralbegriff benötigt wird.
Integrationsprobleme treten in vielen Bereichen der Mathematik und ihrer Anwendungen auf, z. B.:
- A, B ∈ \({\mathbb{S}}\) ⇒ A ⋂ B ∈ \({\mathbb{S}}\),
- A, B ∈ \({\mathbb{S}}\) ⇒ ∃n ∈ ℕ ∃ A1, …,An ∈ \({\mathbb{S}}\)A\B = \(\mathop{\mathop{\uplus }\limits_{v=1}\limits^{n}}{A}_{v}\)
- μ : \({\mathbb{S}}\) → [0, ∞) ist „endlich-additiv”, d. h.für beliebiges n ∈ ℕ gilt:
\begin{eqnarray}A,{A}_{1},\ldots, {A}_{n}\in {\mathbb{S}}\wedge A=\mathop{\mathop{\uplus }\limits_{v=1}}\limits^{n}{A}_{v}\Rightarrow \mu (A)=\mathop{\sum ^{n}}\limits_{v=1}\mu ({A}_{v}),\end{eqnarray} - \({\mathfrak{E}}\) ist Unterraum von \({\mathfrak{F}}\)([a, b], ℝ), der Menge aller reellwertigen Funktionen auf [a, b], und i : \({\mathfrak{E}}\) → ℝ ist linear und positiv, damit isoton („elementares Integral”).
Die Forderungen (1) (diese ist nicht wesentlich!) und (2) abstrahieren genau das, was z. B. bei Intervallen, Rechtecken und Quadern gegeben ist (vgl. Abbildung), und was sich zudem bei der Produktbildung überträgt, sie sind, produktiv’.
Solche Systeme heißen „Semi-Ringe” bzw. „PräRinge”, wenn nur (2) verlangt wird. Sie erfassen viele Gegebenheiten, die keine Ringe, Algebren usw. sind; zudem sind Ringe, Algebren usw. eben nicht, produktiv’! Baut man die Integrationstheorie direkt von Prä-Ringen ausgehend auf, so wird, das Leben’ leichter, denn man muß nur sehr wenig nachweisen, und μ ist dort in natürlicher Weise gegeben.
Hier gesucht:
\({\mathbb{S}}\) ⊂ \({\mathbb{M}}\) ⊂ ℙ([a, b]) (meßbare Mengen)
Dabei ist ein einheitliches Prinzip für verschiedene Erweiterungsmöglichkeiten wünschenswert.
Einfache Möglichkeiten
Im ersten Semester etwa:
Riemann-Integral:
Vorteil: anschaulich, Nachteile:Bereich nicht, vollständig’,, keine’, Konvergenz-sätze’, für manche Zwecke zu wenig Funktionen oder
Integral von Regelfunktionen
(gleichmäßige Limi-tes von Treppenfunktionen) Vorteil:, vollständig’,Nachteile: noch weniger Funktionen, wenig, Kon-vergenzsätze’; Übertragung aufs Mehrdimensionalemacht Schwierigkeiten.
Allgemeinere Ausgangssituationen
Einfachste Verallgemeinerung:
(für n ∈ ℕ) [a, b] ⤳ Ø ≠ ℜ ⊂ ℝ
\({\mathbb{S}}\) ⤳ {n-dimensionale Quader}
Weitere Verallgemeinerung:
[a, b] ⤳ beliebige (nicht-leere) Menge (Flächen, Körper, Grundmenge einesWahrscheinlichkeitsraums, …)
\({\mathbb{S}}\) ⤳ Mengensystem (mit einfachen Eigenschaften) (Intervalle, Rechtecke, Quader, Oberflächenstücke, …): ⤳
Welche Werte betrachtet man zweckmäßig für μ?:
μ mit Wertebereich [0, ∞):
Länge, Fläche, Volumen, Anzahl (⤳ Reihenlehre, beliebige Grenzwertbildungen einbeziehbar), Wahrscheinlichkeiten, Massen, Punkt- (oder Dirac-) Maße
μ mit Wertebereich ℝ:
Stieltjes-Integrale:
Allgemeinerer Wertebereich für μ:
Arbeit: (Kraft, Weg) ⤳ \({\mathfrak{L}}\)(ℝ3, ℝ), dann naheliegend \({\mathfrak{L}}\)(ℝ
Wertebereich für Funktionen allgemeiner als ℝ: Vektorwertige Funktionen mit allgemeinem Definitionsbereich. Hier ist der mögliche Allgemeinheitsgrad nicht ausgeschöpft: Topologische Gruppen oder Uniforme Halbgruppen sind ebenfalls möglich.
Verschiedene Zugänge zum klassischen Lebesgue-Integral
- Zunächst (relativ aufwendig!) Erweiterung von (\({\mathbb{S}}\), μ) (Maßerweiterung ), dann damit von \({\mathfrak{E}}\) und schließlich von i (Integralerweiterung ).
- D-Integral (Radonmaße): Grundmenge Topologi- scher Raum, Integral für stetige Funktionen, ele- mentar’.
- Wesentlich vorteilhafter: Sofort Integralerweiterung, Methode: Über Integralnormen. Die Maßerweiterung gibt es dann als Abfallprodukt gratis dazu!
Sonst werden meist erst im nachhinein der Raum der integrierbaren Funktionen als topologischer Abschluß, einfacher’ Funktionen und das Integral als stetige Fortsetzung erkannt; in [1] wird dies gleich zu Beginn als Definition genommen und dann gewinnbringend genutzt. Dort findet man eine umfassende Darstellung, die jedoch – aus didaktischen Gründen – den möglichen Allgemeinheitsgrad nicht ganz ausschöpft.
Allgemeine Einführung eines Integralbegriffs
Bei der Einführung eines Integralbegriffs ist stets die folgende Situation gegeben: Man hat bereits ein „elementares Integral”, d. h. eine meist in natürlicher Weise erklärte lineare Abbildung auf einem Bereich „einfacher Funktionen”; der entscheidende Punkt ist nun, eine, vernünftige’ Fortsetzung dieses elementaren Integrals auf einen möglichst umfassenden Bereich „integrierbarer” Funktionen zu finden. Die o. g. Darstellung macht deutlich, daß es sich – bei den eingangs genannten wichtigsten Integral-Begriffen – stets um einen einfachen Prozess „stetiger Fortsetzung” handelt, wobei sich die Stetigkeit auf eine in bestimmtem Sinne, geeignete’ metrisch-topologische Struktur bezieht, die durch eine leicht zu erklärende „Integralnorm” || || gegeben ist. Es handelt sich hier um eine (vorweg) für alle Funktionen erklärte, messende Größe, die wesentliche Eigenschaften einer Norm hat, etwa die Dreiecksungleichung, andererseits jedoch in bestimmter Weise zu dem gegebenen elementaren Integral und damit meist mit Hilfe dieses Integrals gebildet wird; dies erklärt die gewählte Bezeichnung. Die wichtigsten Integralbegriffe werden so mit einer einheitlichen und zugleich sehr einfachen Methode, dem Fortsetzungsprinzip, gewonnen: Durch
Fortsetzung elementarer Integrale mittels geeigneter Integralnormen.
Dieses einfache Prinzip erweist sich als erstaunlich leistungsfähig und vielfältig einsetzbar. Ein nahezu triviales Vergleichsprinzip ermöglicht dabei den Vergleich verschiedener Fortsetzungen.
Entwicklung und Vorteile dieser Idee
Die Idee, den Erweiterungsprozeß so zu gestalten, findet man in Ansätzen und in Spezialfällen seit etwa 1950 bei verschiedenen Autoren – Stone (1948/49), G. Aumann (1952), Kirsch (1952), McShane (1965), Monna (1970, Analyse non-archimedienne) und Bichteler (1973). In weitestgehender und konsequentester Weise ist dies von F.-W. Schäfke und Schülern (u. a. D. Hoffmann, H. Volkmer und H. Weber) seit etwa 1970 in einem sehr allgemeinen Rahmen untersucht worden. Die geschilderte ‚moderne‘ Auffassung von Integraldefinitionen ist naheliegend, dennoch aber – wohl aus historischen Gründen – kaum verbreitet. Die Darstellung in [1] verwendet sie – im Gegensatz zu Ansätzen an anderen Stellen – konsequent von den Diskussionen der einfachsten Integrale an bis hin zu tieferliegenden Aspekten. Sie macht deutlich, daß diese Methodik auch in elementaren Bereichen und bekannten Gebieten gegenüber manchem Gewohnten wesentliche Vorteile bietet. Das geht so weit, daß gelegentlich an die Stelle seitenlanger Überlegungen im üblichen Rahmen kurze und rasch einsichtige Schlüsse von wenigen Zeilen treten; dies, ohne daß man dafür mit Komplikationen an anderer Stelle bezahlen müßte. Speziell im Bereich der Lebesgueschen Maß- und Integrationstheorie erscheint das Integral als das (Einfache und) Primäre, während die Maßtheorie sekundär, quasi ein Nebenergebnis, wird. Die präsentierte Methode ist zugkräftig und – ohne Abstriche an Einfachheit für den speziellen Fall – weit verallgemeinerungsfähig: Die vektorwertige Situation kann problemlos einbezogen werden.
Diese Überlegungen sind – neben ihrer weittragenden Allgemeinheit – auf Grund ihrer Einfachheit und Durchsichtigkeit auch in besonderem Maße zur Einführung von Integralen in den Grundvorlesungen geeignet. Denn auch in einfachsten Spezialfällen bieten diese Ideen – bei dann gegebenenen Vereinfachungen – noch wesentliche methodische Vorteile.
Vorteile der Methode im einzelnen
- Die Lebesgue-Norm zuμstimmt überein mit der 2-Norm zu ν;
- die bezüglich der Lebesgue-Norm zuμintegrierbaren Funktionen sind genau die Funktionen aus dem Raum \({\mathfrak{L}}\)2zu ν;
- für je zwei derartige Funktionen f, g gilt \(({\bar{i_{\mu }}}(f),{\bar{i_{\mu }}}(g))={\bar{i_{\upsilon }}}(f\cdot\bar{g})\).
Einordnung anderer „bilinearer“ Theorien
Skalare Funktionen und vektorwertige Maße und – getrennt davon – vektorwertige Funktionen und skalarwertige Maße (Inhalte): Dunford/Schwarz, Münster (1974)
Schwache Integrale: (De Wilde (1968), Lewis (1970), Debiève (1973), Edwards,…)
Vektorwertige Funktionen bezüglich vektorwertiger Inhalte:
Günzler (1971), Bichteler (1970; hier wird einschränkend verlangt: sup ||ψn|| = ||sup ψn||), Wie-chert (1969), Bartle (1956)
Speziell: Dinculeanu (1967), Bogdanowicz (1956), Dobrakov (1969), Wilhelm (1974), Brooks/Dinculeanu (1976)
In dieser allgemeinen Situation – Integrale vektorwertiger Funktionen bezüglich vektorwertiger Inhalte – findet man meist, anders als in [1], keine „angepaßte“ Theorie. Die Überlegungen werden stattdessen auf |μ| (Variation, Semi-Variation) bezogen und dann ‚stetig hochgezogen‘. Dies grenzt dann in wichtigen Fällen den Bereich integrierbarer Funktionen unnötig ein. Zudem ist hierzu erst einmal die skalare Theorie vorweg erforderlich!
Literatur
[1] Hoffmann, D./Schäfke, F.-W.: Integrale. B.I.-Wissen- schaftsverlag Mannheim, 1992.
[2] Kaballo, W.: Einführung in die Analysis III. Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, 1999.
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