Metzler Lexikon Philosophie: Erfahrung
Der Begriff der E. stellt in einer doppelten Hinsicht ein Grundphänomen des menschlichen Lebens dar, insofern als E. sowohl die Grundlage für die Erkenntnis abgibt, als auch in gleicher Weise die Grundlage menschlichen Lebens. Die umgangssprachliche Bedeutung von E. umfasst noch den lebenspraktischen Bezug i.S. des Sichauskennens mit etwas oder i.S. der pragmatischen Fähigkeit, mit etwas umgehen zu können, aber auch den sozialen Bezug i.S. des Mitanderen-umgehen-Könnens oder i.S. der Fähigkeit, andere Menschen einschätzen zu können. – Den lebensweltlichen Bezug der wissenschaftlichen Erkenntnis hat Husserl in seiner Krisis-Schrift geltend gemacht, indem er darauf hinwies, dass die Fragen der wissenschaftlichen Forschung in den Sinnfragen des pragmatischen Handelns in der Lebenswelt ihren Ursprung haben und dass die E.en der Lebenswelt den im wissenschaftlichen Prozess vollzogenen Idealisierungen von Erfahrungsgehalten vorausliegen. Husserl zeigt auf, wie in den lebensweltlichen Einstellungen bereits Idealisierungen vorgenommen werden, nämlich die Erwartung (des »und so weiter«), dass die Vorkommnisse in der Wirklichkeit eine gewisse Konstanz aufweisen und so eine weitere Idealität ermöglichen, nämlich die Annahme, bestimmte Handlungen wiederholt ausführen zu können. Die Weltstruktur stellt das Korrelat solcher Sinnstrukturen dar. Gadamer knüpft an Husserl an, um den Begriff der E. um die geschichtliche Dimension zu erweiteren. E. lässt sich nicht auf fertiges Wissen beschränken, vielmehr ist ihr die Offenheit für weitere E.en eigen. Nur über mannigfache Enttäuschungen von Erwartungen erwirbt der Mensch E.
Die Frage, inwiefern die E. die Grundlage der Erkenntnis abgeben könne, wird im Kontext erkenntnistheoretischer Problemstellungen unterschiedlich eingeschätzt. Bereits Aristoteles interpretiert E. als ein Vermögen, die Dinge richtig zu erkennen und zu beurteilen. Dieses Vermögen beruht auf vielen einzelnen Wahrnehmungen, die im Gedächtnis haften bleiben. In der E. vollzieht sich die spezifisch menschliche Leistung, von einzelnen Wahrnehmungen zu ersten allgemeinen Begriffen zu gelangen. Bacon begründet mit seiner Forderung, dass die E. methodisch gelenkt sein müsse, das Verständnis experimentellen Forschens als Basis wissenschaftlicher Erkenntnis. Von Locke wird die erkenntnistheoretische Frage, was die ursprüngliche Quelle unseres Wissens ist, durch die Annahme beantwortet, dass E. mit Wahrnehmung gleichzusetzen sei. Die Wahrnehmung bietet seiner Ansicht nach in dem Sinne einen unmittelbaren Bezug zu Wirklichkeit, als die in der Sinneswahrnehmung und der inneren Wahrnehmung erscheinenden Vorstellungen von der E. passiv aufgenommen werden. Diese These bildet die Ausgangsbasis für den Empirismus. Bei Kant wird E. meist mit empirischer Kenntnis gleichgesetzt (KrV B 147, 218) und nicht mehr auf die Empfindungen in der Sinneswahrnehmung gegründet. Vielmehr weist er darauf hin, dass die Sinnlichkeit zwar das Material, der Verstand aber die für jede gegenständliche Erkenntnis notwendige Begrifflichkeit bietet. Erst der Bezug von Sinnlichkeit und Verstand schafft empirische Erkenntnis. Im wissenschaftstheoretischen Kontext findet diese Annahme Kants ihre Entsprechung in der Auffassung, dass wissenschaftlich empirische E. nicht ohne ein System theoretischer Begriffe gewonnen werden kann.
Literatur:
- Aristoteles: Metaphysik I. 1
- Ders.: Zweite Analytiken II. 19
- F. Bacon: Neues Organon der Wissenschaften. 1830. ND Darmstadt 1971
- H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 41975. S. 329 ff.- E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hua VI
- F. Kambartel: Erfahrung und Struktur. Frankfurt 1968
- J. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg 41981
- L. Schäfer: Erfahrung und Konvention. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974.
PP
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