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Metzler Lexikon Philosophie: Gerechtigkeit

Grundbegriff der Ethik und der Sozialphilosophie, der als Prinzip zur Beurteilung von Handlungsnormen und als Idee zur vernünftigen Gestaltung des Zusammenlebens dienen soll. In ethischer Hinsicht spielen G.fragen auf drei Ebenen eine Rolle: (a) Wenn zwischen Handlungen oder Ansprüchen Gegensätze auftreten und die Beteiligten nach einer Lösung suchen, die i.S. einer gerechten Regelung allen Betroffenen Rechnung trägt. Ein solches Verhalten beruht auf einer gerechten Einstellung, nach der alle gleichermaßen als achtens- und berücksichtigenswert gelten. (b) Die Suche nach einer gerechten Lösung bedarf im Hinblick auf solche Regelungen oder Normen eines Qualifizierungskriteriums für ›gerecht‹, das in Gestalt des Begründungsprädikats gleichermaßen gut für alle‹ geliefert wird. (c) Angesichts schon bestehender Normen und Regelungen bedeutet gerechtes Handeln, dass jeder sich den Normen entsprechend verhält und keiner für sich eine Ausnahmeregelung schafft, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen. – In den Überlegungen zur G. in der griechischen Antike fungiert G. als ein soziale Tugend. Platon ordnet sie neben den Tugenden der Klugheit, Tapferkeit und Mäßigkeit ein. In der Politeia gilt sie als die richtige Ordnung der drei Seelenvermögen: der Vernunft (logistikon), dem Mut (thymos) und dem Begehren (epithymetikon). Diese Ordnung besteht darin, dass jedes dieser Vermögen das Seine tut, wobei es der Vernunft zukommt, über die anderen zu herrschen. Wenn sie verwirklicht ist, dann kommt ihr als ganzer die Tugend der G. zu. Bei Aristoteles wird diese Auffassung Platons bereits modifiziert. Im 5. Buch der Nikomachischen Ethik werden zwei G.-Begriffe analysiert: Als ungerecht gilt der Gesetzeswidrige, der Unersättliche (pleonektes) und Ungleiche (anisos). Die eine Grundform des gerechten Verhaltens ist das dem Gesetz gemäße Handeln, die andere ist die auf Gleichheit bedachte Haltung, die darauf verzichtet, nur den eigenen Vorteil zu suchen. Mit der ersten Grundform lehnt sich Aristoteles an Platon an, denn sie ist die vollkommene Tugend, die alle besonderen Tugenden und die andere Grundform der G. umfasst. Die auf Gleichheit bedachte Haltung stellt demgegenüber die partikulare G. dar, die sich in zwei Formen äußert: Als verteilende (distributive) G. betrifft sie die Zuteilung von Ehre, Geld und anderen Dingen. Die andere Form nimmt Bezug auf die Verträge: die G. der freiwilligen Verträge (kommutative G.) und die der unfreiwilligen Verträge (korrektive G.). Aristoteles weist darauf hin, dass das Gerechte eine Gleichheit der Verhältnisse (proportionale G.) und eine Gleichheit vor dem Gesetz bedeute. Die aristotelische Unterscheidung zwischen der distributiven oder austeilenden G., bei der es um die Verteilung von Rechten und Pflichten geht, und der kommutativen G., die sowohl den Tausch wie die Wiedergutmachung von Schaden umfasst, haben ihre Gültigkeit bis in die Gegenwart behalten. – Für Hobbes hat der Begriff der G. erst dort seinen Sinn, wo es eine allgemeine Gewalt und ein allgemeines Gesetz gibt. Unter den Bedingungen des Vertragszustandes bedeutet G. das Einhalten von Verträgen und entspricht der Regel der Vernunft. Im Gegensatz zur antiken Bestimmung der Idee der G. stehen die von Hume und Mill vorgetragenen Vorstellungen, die den Wert der G. nach dem Nutzen für die Individuen einer Gesellschaft beurteilen. Humes These ist, dass der einzige Rechtfertigungsgrund der G. in ihrer Nützlichkeit für die menschliche Gesellschaft bestehe, da sie gegen drei Übelstände Abhilfe schaffe: (a) die Schwäche des Einzelnen, sofern er auf eigene Faust überleben will, (b) die Beschaffung der notwendigen Lebensgüter, die für den einzelnen zu viel Aufwand an Energie bedeuten würde, (c) die Bedrohung des Besitzes des Einzelnen, der in einem Naturzustand immer gefährdet wäre. Die G. fällt für ihn zusammen mit einer positiven Rechtsordnung, in der eine Arbeitsteilung möglich und die Rechtssicherheit gewährleistet ist. Mill geht einen Schritt über Hume hinaus, indem er die geltenden Gesetze einer Beurteilung unterzieht. Seine liberale Idee der G. fordert, dass bei der Zuweisung der persönlichen und politischen Rechte alle mündigen Individuen der Gesellschaft als gleichberechtigt betrachtet werden sollen. Der Nutzen der G. bezieht sich auf den Schutz der persönlichen Freiheit. Die Ungerechtigkeit kann nach vier Gesichtspunkten benannt werden: (1) Wenn die verbürgten Rechte einer Person missachtet werden, (2) wenn ein Gesetz die moralischen Rechte einer Person verletzt, (3) wenn eine Person nicht den ihm zustehenden Verdienst (d.i. Lohn oder Strafe) bekommt, (4) wenn einer seine eingegangenen Verpflichtungen nicht einhält (z.B. Wortbruch), (5) wenn einer (z.B. ein Richter) eine Person gegenüber einer anderen begünstigt. – Die leitende Idee der G. besteht in der Überzeugung, dass bei der Zuordnung von Rechten und Pflichten und bei der Verteilung der Erzeugnisse der gesellschaftlichen Zusammenarbeit keine willkürlichen Unterschiede gemacht werden dürfen. – Für einen Begriff der G., der eine Richtschnur dafür abgeben soll, nach welcher die konkurrierenden Ansprüche der Menschen ausgeglichen werden sollen, ergeben sich unterschiedliche Bestimmungen: (1) jedem gemäß dem ihm durch das Gesetz Zugeteilte – diese Position des Rechtspositivismus lässt keine Beurteilung über eine Gesetzesordnung zu, sondern beschränkt sich auf die formale Gleichheit. (2) Jedem das Gleiche – in Bezug auf grundlegende Rechte ist diese Forderung unstrittig, die Differenzen ergeben sich im Hinblick auf die distributive G., ob damit arithmetische oder proportionale G. gemeint ist. Die proportionale Zuteilung bedeutet, dass jeweils nur in Bezug auf eine bestimmte Kategorie von Personen Gleichheit gefordert ist. (3) Jedem gemäß seinen Verdiensten – beinhaltet eine ungleiche Verteilung, lässt aber unbeantwortet, was als Verdienst zu werten ist. (4) Jedem gemäß seinem Bedürfnis – ein solches Prinzip kämpft mit der Schwierigkeit, berechtigte oder wesentliche nicht von unberechtigten oder unwesentlichen Bedürfnissen unterscheiden zu können. In negativer Formulierung bedeutet es, die Leiden der am meisten Benachteiligten zu mindern. – Eine Möglichkeit, diese inhaltlichen Probleme der G. zu umgehen, bieten die formalen G.prinzipien. In der gegenwärtigen Diskussion steht die Verfahrensgerechtigkeit im Vordergrund. Die G.theorie von Rawls demonstriert exemplarisch, wie ein solches Verfahren vorstellbar ist: Die Frage nach den Grundprinzipien einer Gesellschaft ist unter der Bedingung der Unparteilichkeit zu stellen. Jede Person müsste die Frage unter der fiktiven Voraussetzung, nichts über ihre realen sozialen und persönlichen Voraussetzungen zu wissen (»Schleier des Nichtwissens«), beantworten. Diese Bedingungen repräsentieren ein Verfahren, das frei ist von unzulässiger Parteilichkeit. Die Konstruktion der »original position« stellt Rawls Versuch dar, die Forderung allgemeiner Rechtfertigung mit Hilfe vernünftiger Annahmen in eine Form zu bringen, die die Herleitung substantieller G.grundsätze erlaubt. Der »Schleier des Nichtwissens« führt zu einem gemeinsamen Interesse aller, dass (a) jeder Mensch seine Talente und Lebenspläne verwirklichen kann und (b) dies unter Bedingungen sozialer G. geschieht, die verhindern, dass Ungleichheiten im Hinblick auf die Realisierungsmöglichkeiten der persönlichen Fähigkeiten entstehen. Zwei Grundsätze der G. ergeben sich aus der Entscheidung unter den skizzierten Bedingungen: (1) Jedermann hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. (2) Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur unter zwei Bedingungen akzeptabel: Sie müssen unter Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und sie dürfen die Chancengleichheit in Bezug auf Ämter und Positionen nicht beeinträchtigen.

Literatur:

  • B. Brülisauer: Die Idee der Gerechtigkeit. In: Studia Philosophica 38 (1979). S. 207 ff
  • R. Forst: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt 1994
  • N. Fraser: Die halbierte Gerechtigkeit. Frankfurt 2001
  • Dies./A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung. Frankfurt 2003
  • S. Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit. Frankfurt 2004
  • Th. Hobbes: Leviathan
  • D. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Hamburg 1978. 3. Buch. Teil 2
  • Ders.: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Hamburg 1972. III. Abschnitt
  • L. Kern/H.-P. Müller: Gerechtigkeit, Diskurs oder Markt? Opladen 1986
  • W. Kersting: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Frankfurt 1997
  • Ders.: Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Stuttgart/Weimar 2000
  • A. Krebs (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Frankfurt 2000
  • J. St. Mill: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976. 5. Kap
  • O. O’Neill: Tugend und Gerechtigkeit. Eine rekonstruktive Darstellung des praktischen Denkens. Berlin 1996
  • J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975
  • U. Steinvorth: Gerechtigkeit. In: E. Martens/H. Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Reinbek 1991. S. 306 ff
  • Ders.: Gleiche Freiheit. Berlin 1999.

PP

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
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HS Herbert Schnädelbach, Berlin
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JA Johann S. Ach, Münster
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JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
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PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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