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Natürliche Selektion: Keine Sieger ohne Verlierer

Nummer eins kann nur einer werden, und sei es auch noch so knapp. Warum aber drängeln sich nicht alle im Spitzenbereich? Warum erlaubt die als so streng geltende natürliche Selektion auch deutliche Verlierer? Und kann das einzelne Individuum seinem Darwin'schen Schicksal vielleicht sogar durch Verhaltensänderung entgehen? Echsen geben ein paar Antworten.
Junge Bergeidechse
Welcher der drei französischen Wissenschaftler einen Hang zum Marathon oder sonstigen Ausdauersportarten hat, verraten Jean-François Le Galliard, Jean Clobert und Régis Ferrière leider nicht. Aber vielleicht war es die Spannung des Zieleinlaufs, die sie zu ihrem Forschungsgebiet brachte. Genauer gesagt, die Beobachtung der hinteren Plätze. Denn trotz der ach so strengen Selektion, nach der nur die am besten Angepassten überleben und sich fortpflanzen dürften – und dazu gehören beim Mensch und anderen Arten wohl durchaus die Schnellsten auf der Jagd oder der Flucht –, gibt es immer einen langen Schwanz von deutlich hinterher zuckelnden Mitläufern.

Ist das Darwin'sche Auswahlsieb also grober gelocht als gedacht? Eine Frage, die sich für kleinere und schneller Nachwuchs erzeugende Vierbeiner wie Bergeidechsen (Lacerta vivipara) vielleicht leichter beantworten lässt. Auch hier ist nicht jede Jungechse ein Siegertyp, sondern von Geburt an gibt es alle Variationen: Als Le Galliard und seine Kollegen frisch geborene Jungtiere bis zur Erschöpfung durch die Gegend scheuchten, um die grundlegende Kondition zu ermitteln, reichte die Durchhaltespanne von 1,7 bis 36 Sekunden. Mit der von Marathons bekannten Verteilung: Nach ein paar Siegertypen folgte eine lange, lange Reihe von durchschnittlichen bis mäßigen Kandidaten. Die Leistungsfähigkeit der kleinen Reptilien war dabei zu einem hohen Maße erblich [1].

Bergeidechsen-Gelege | Schon bei der Geburt zeigen junge Bergeidechsen eine breite Spanne körperlicher Leistungsfähigkeit: Während die einen schon nach kaum zwei Sekunden erschöpft sind, halten andere über dreißig Sekunden durch.
Im folgenden Jahr verfolgten die Wissenschaftler das Schicksal der Tiere im Freilandgehege. Sollte die natürliche Selektion straff durchgreifen, müssten die Konditionsschwachen eher das Zeitliche segnen als die Starken. Das allerdings war nur für die wirklich Schwächsten und Kleinsten der Fall – die durchschnittlich fitten Artgenossen hielten sich in gleichem Maße wie die Spitzengruppe. Ein typisches Artefakt des laborbedingten Schlaraffenlandlebens?

Das lässt sich testen. In der nächsten Versuchsreihe teilten Le Galliard und seine Mitarbeiter ihre Jungtiere in zwei Gruppen: Die eine bekam diesen ersten Lebensmonat reichlichst zu fressen, die andere musste etwas darben. In diesen vier Wochen schickten die Wissenschaftler die Tiere nun häufiger in den Ausdauerparcours, um deren Konditionsentwicklung zu verfolgen, bevor sie die Eidechsen wieder in die eingezäunte Freiheit mit Futter-Chancengleichheit entließen und die weitere Lebensgeschichte beobachteten.

Bei den Reptilien mit Magerkost hatte die Ausgangskondition keinen Einfluss auf die nachfolgende Leistungssteigerung. Bei gutem Futter allerdings holten die zunächst Schwächeren schnell auf, während die Leistungsfähigkeit der Konditionsstärksten sogar nachließ – man rutschte auf der Skala zusammen. Und: Die angeborene Kondition spielte bei dieser Gruppe für die Sterblichkeit – Zeichen der natürlichen Selektion – in den anschließenden Gehegezeiten eine deutlich geringere Rolle als bei den Diätkandidaten. Wer hier durchs Sieb fiel, bestimmte also nicht der ureigene Anpassungsgrad an den Lebensraum in Form der körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern ein äußerer Faktor: das Nahrungsangebot.

Anolis | Innerhalb kurzer Zeit passen sich Braune Anolis (Anolis sagrei) an einen Räuber an: Sie verbringen mehr Zeit in Bäumen als zuvor.
Dass unser Bild von der strikt wirkenden natürlichen Selektion häufig zu einfach gestrickt ist, zeigen auch Jonathan Losos von der Washington-Universität und seine Kollegen – ebenfalls an Echsen. Die Wissenschaftler beschäftigen sich schon seit Jahren mit diesem Einfluss auf die Anolis-Populationen winziger karibischer Inseln. Im neuesten Fall konfrontierten sie Braune Anolis (Anolis sagrei) auf zwölf gartengroßen Eilanden mit einem neu eingeführten Räuber: Rollschwanzleguanen (Leiocephalus carinatus) [2]. Was würde passieren?

Zweierlei geschah: Zum einen zählten die Wissenschaftler schon innerhalb eines Jahres auf den Inseln bereits deutlich mehr Anolis mit längeren Beinen – eine wichtige Voraussetzung zwar nicht für einen Marathon, aber den lebensrettenden Sprint und ein klares Anzeichen natürlicher Auslese. Hier schlägt Mittelmäßigkeit dann eben doch schlecht zu Buche. Zum anderen aber verlagerten auch einige der potenziellen Opfer ihr Dasein nun signifikant häufiger vom Boden weg in die Bäume und entgingen so den hungrigen Neusiedlern. Da die Forscher einzelne Individuen beobachteten, konnten sie nachweisen, dass es sich dabei nicht etwa um ein Selektionsergebnis handelte und schlicht die vorher schon obere Etagen vorziehenden Anolis übrig geblieben waren. Mit Hilfe der Verhaltensänderung schlüpften hier also manche erfolgreich durchs Darwin'sche Sieb.

Natürliche Selektion ist weit davon entfernt, ein simples Ursache-Wirkung-Modell zu sein: Unzählige Faktoren greifen hier wie winzige Rädchen ineinander und bewegen die gesamte Maschinerie der Evolution. Kein Wunder also, dass die Natur eine riesige Variationsbreite zulässt beziehungsweise sogar braucht. Es wäre ja auch langweilig, wenn nicht mehr einer, sondern alle gleichzeitig im Ziel ankämen, würden wohl nicht nur La Galliard und seine Kollegen sagen.

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