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Paläontologie: Ohne großen Knall

Dem Tod der Dinosaurier - ausgelöscht durch einen Meteoriten - verdanken wir Säugetiere unsere Existenz. So lautete bisher die gängige Lehrmeinung. Doch nach dem bislang umfassendsten Stammbaum aller Säuger verlief die Geschichte ein klein wenig anders.
Säuger-Stammbaum
Es begann mit einem großen Knall: Vor 65 Millionen Jahren raste ein zehn Kilometer großer Meteorit auf die Erde zu und schlug auf der heutigen Halbinsel Yucatan ein. Glühender Schutt wurde Hunderte von Kilometer nach Nordwesten geschleudert und entfachte einen Feuersturm, der binnen Minuten fast alles Leben auf dem nordamerikanischen Kontinent vernichtete. Eine Staubwolke, aus der saurer Niederschlag niederprasselte, umhüllte den Planeten und sorgte für eine mehrere Jahre andauernde weltumspannende Nacht.

Das Ereignis, das mehr als die Hälfte aller Meeresarten sowie zahlreiche Familien landlebender Pflanzen und Tiere vernichtete, beendete die letzte Periode des Erdmittelalters, die Kreidezeit, und läutete mit dem Tertiär die Erdneuzeit ein. Prominentestes Opfer dieses Umbruchs: die Dinosaurier.

Klippschliefer | Der kaninchengroße Klippschliefer (Procavia capensis) gehört zu den nächsten Verwandten der Elefanten. Ihr letzter gemeinsamer Vorfahre lebte vor 83 Millionen Jahren.
Doch des einen Leid stellt mitunter des anderen Freud da: Die Säugetiere, die lange im Schatten der Riesenechsen dahinvegetierten, nutzten ihre große Chance und avancierten zu den Stars der neuen Zeit. Der Untergang der Saurier löste eine explosionsartige Vermehrung der Säugerarten aus – so lautet zumindest das gängige Szenario.

Doch stimmt dieses Szenario? Fossilfunde, die allerdings verhältnismäßig spärlich auftreten, scheinen es zu bestätigen. Tatsächlich konnten Paläontologen einige Säugerknochen aus der Zeit nach dem großen Knall ausgraben; andere Funde sind jedoch deutlich älter und weisen auf eine lange Evolutionsgeschichte dieser Wirbeltierklasse hin.

Säuger-Stammbaum | Der "Superstammbaum" berücksichtigt mit 4510 von 4554 Arten 99 Prozent aller heutigen Säugerspezies. Die meisten von ihnen entstanden vor oder nach der Kreide-Tertiär-Grenze vor 65 Millionen Jahren (gestrichelte Linie) – und damit unabhängig vom Aussterben der Saurier.
Um den evolutionären Spuren der Säugetiere nachzugehen, stellte Olaf Bininda-Emonds von der Universität Jena ein internationales Team aus Zoologen, Paläontologen, Ökologen, Evolutionsbiologen und Bioinformatikern zusammen. In zehnjähriger Fleißarbeit kombinierten die Forscher etwa 2500 bereits bestehende Stammbäume mit paläontologischen und genetischen Daten. Mit 4510 von 4554 Arten umfasst dieser "Superstammbaum" nahezu alle heute lebenden Säugerspezies.

Nach der Analyse verlieren sich die Spuren der ersten Säugetiere vor 166 Millionen Jahren, als die Kloakentiere auftauchten. Vor 148 Millionen Jahren sonderten sich dann die Beuteltiere von den höheren Säugern, den Placentalia, ab. Soweit steht die Geschichte unserer Vorfahren im Einklang mit bisherigen Theorien.

Tatsächlich scheinen sich die Säugerarten dann mehrfach rapide vermehrt zu haben – allerdings nicht zur passenden Zeit. Die erste dieser Radiationen trat vor 100 bis 85 Millionen Jahren auf, also mitten in der Kreidezeit. Damals entstanden alle heute noch existierenden Säugerordnungen, einschließlich der Primaten, zu denen auch der Mensch zählt.

"Die Säuger kamen zur Party nach dem Dinosauriersterben, hingen aber dann erst herum, während ihre Verwandten ihren Spaß hatten"
(Ross MacPhee)
Die zweite große Aufspaltung begann im Eozän vor 55 Millionen Jahren, also 10 Millionen Jahre nach dem Meteoriteneinschlag. In der interessanten Zeitspanne unmittelbar nach der Kreide-Tertiär-Grenze tat sich dagegen – nichts. Oder fast nichts. Zwar etablierten sich hier einige neue Säugerarten – darunter merkwürdige Wesen wie Andrewsarchus, ein räuberisches Urhuftier, das wie eine Mischung aus Kuh und Wolf erscheint –, doch diese Neulinge mussten schnell wieder das Feld räumen oder schrumpften zu kleinen Gruppen wie Faul- und Gürteltieren. Fazit: Die heutigen Säuger erschienen größtenteils schon vor oder erst spät nach dem großen Knall.

"Im Endergebnis sind die Säugetiere, die wir heute kennen, wirklich ziemlich alt und verschwanden viel länger als vermutet vom Radarschirm mit allem, was es damals gab – seien es Dinosaurier oder auch andere archaische Säuger", fasst Bininda-Emonds zusammen. Und sein Kollege Ross MacPhee vom Amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York ergänzt: "Die große Frage lautet jetzt: Warum brauchten die Vorfahren der modernen Säugetiere so lange, um sich zu diversifizieren? Es sieht so aus, als ob sie zur Party nach dem Dinosauriersterben kamen, aber dann erst eine Weile nur so herumhingen, während all ihre entfernten Verwandten ihren Spaß hatten."

Letztlich wissen die Forscher nicht, was die Säuger nach vorn brachte. Zwar korreliert die erste Radiation in der Kreide mit einem weltweiten Temperaturrückgang und dem Aufblühen der bedecktsamigen Pflanzen. Und die zweite Verbreitungswelle im Eozän trat während eines Klimaoptimums auf. Doch ob hier ein ursächlicher oder nur ein zufälliger Zusammenhang besteht, lassen die Wissenschaftler bewusst offen. Nur eines scheint klar: Der Tod der Dinosaurier war es nicht.

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