Der Mathematische Monatskalender: Colin Maclaurin (1698–1746)
Colin Maclaurin wird als jüngster von drei Söhnen eines gelehrten Geistlichen in einer kleinen Gemeinde im Westen Schottlands geboren. Als der Vater sechs Wochen nach Colins Geburt stirbt, zieht die Mutter nach Dumbarton in der Nähe von Glasgow, damit ihre Söhne dort einmal die Möglichkeit erhalten sollen, eine gute Schule besuchen zu können. Die Mutter stirbt, als Colin neun Jahre alt ist, und ein Onkel, der ebenfalls als Pfarrer tätig ist, nimmt sich der beiden verbliebenen Söhne an (der mittlere Sohn ist in der Zwischenzeit verstorben).
Im Alter von 11 Jahren wird Colin als "Student" an der Universität von Glasgow aufgenommen – in jenen Tagen versuchen die angesehenen Schulen und Universitäten des Landes, Kinder und Jugendliche zu einem möglichst frühen Zeitpunkt an sich zu binden, und Colin gehört zu den begabtesten. Als der Junge zufällig auf ein Exemplar der Elemente des Euklid stößt, arbeitet er selbstständig die ersten Kapitel durch. Gefördert von seinem Mathematik-Professor Robert Simson, der sich später als Herausgeber von kommentierten Ausgaben der Werke von Euklid und Apollonius einen Namen macht, legt Colin Maclaurin im Alter von 14 Jahren die Master of Arts Prüfung ab (eher vergleichbar mit dem heutigen Bachelor-Abschluss). Als Thema für das öffentlich durchgeführte Prüfungskolloquium wählt er On the power of gravity, und er hat keine Probleme damit, die von Isaac Newton entwickelten Theorien zur Gravitation vorzutragen.
Maclaurin bleibt weiter an der Universität und nimmt ein Theologie-Studium auf, was er jedoch enttäuscht nach einem Jahr abbricht. Im Pfarrhaus seines Onkels verbringt er die nächsten drei Jahre, begeistert sich an der Schönheit der Natur und der Mathematik. Und als 1717 eine Stelle für eine Mathematik-Professur am Marischal-College der Universität Aberdeen ausgeschrieben wird, setzt er sich gegen andere, ebenfalls sehr begabte Bewerber durch.
In den nächsten Jahren unternimmt der junge Professor der Mathematik zwei Reisen nach London, wo er Isaac Newton persönlich kennenlernt und auf dessen Vorschlag als Mitglied in die Royal Society aufgenommen wird.
1720 veröffentlicht Maclaurin sein erstes umfassendes Werk: Geometrica Organica – über ebene Kurven höheren Grades. Dann folgt 1722 ein denkwürdiger Bruch in Maclaurins Laufbahn: Lord Polwarth, ein hoher Diplomat in Diensten des englischen Königs George II, hat den Wunsch, dass sein Sohn eine Grand Tour durch Europa unternimmt, wie dies für die Söhne des Adels üblich ist, und er bittet Maclaurin darum, seinen Sohn zu begleiten. Maclaurin sieht für sich die einmalige Gelegenheit, mit Mathematikern außerhalb Englands in persönlichen Kontakt treten zu können, und sagt zu, besorgt eine Vertretung für die Vorlesungen, versäumt es aber, an seine Universität einen förmlichen Antrag auf Beurlaubung zu stellen. Maclaurin reagiert nicht auf Schreiben der Universität, wann er zurückzukommen gedenke, und nutzt die Möglichkeit, mit französischen Wissenschaftlern in Kontakt zu treten. Für eine Arbeit Démonstrations des loix du choc des corps (Über Gesetze des physikalischen Stoßes) erhält er 1724 in Paris einen Preis der Académie des Sciences. Die Reise endet abrupt in Montpellier, als der ihm anvertraute Zögling schwer erkrankt und kurze Zeit später stirbt.
Maclaurin darf seine Lehrtätigkeit in Aberdeen wieder aufnehmen, aber bedingt durch seine unentschuldigte zweijährige Abwesenheit ist das Verhältnis zur Leitung der Universität ziemlich angespannt. So möchte er die Gelegenheit zum Wechsel nutzen, als absehbar ist, dass in Edinburgh ein Lehrstuhl frei werden wird. Er bewirbt sich und erhält dabei eine Unterstützung ungewöhnlicher Art durch Newton; dieser erklärt sich nämlich bereit, der Universität in Edinburgh jährlich 20 Pfund für die Bezahlung Maclaurins zur Verfügung zu stellen – so lange, bis ihm die Stelle übertragen wird. Es ist nicht bekannt, ob man das Angebot Newtons in Anspruch genommen hat, aber tatsächlich wechselt Maclaurin 1725 nach Edinburgh.
Dort entwickelt er sich zum angesehensten Lehrer der Universität, begeistert seine Studenten durch seine freundliche Art und die Klarheit seines Vortrags in einem solchen Maße, dass das Studium der Mathematik regelrecht in Mode kommt. Wenn er in einer Prüfung feststellt, dass der Prüfling einen Sachverhalt nicht richtig darstellen kann, sucht er die Schuld nicht bei dem Studenten, sondern nimmt dies zum Anlass darüber nachzudenken, wie er das Thema besser vermitteln könnte. Die Themen seiner Vorlesungen reichen von der klassischen Geometrie über die Inhalte von Newtons Principia bis hin zum Bau von Befestigungsanlagen.
Maclaurin ist auch in anderen Bereichen aktiv, zum Beispiel werden aufgrund seiner Modellrechnungen Sterbekassen zur Versorgung der Witwen und Waisen von Pfarrern und Professoren eingerichtet; auch führt er Vermessungsarbeiten auf den Orkney- und Shetland-Inseln durch, sodass genauere Karten erstellt werden können.
1733 heiratet Maclaurin die Tochter des Kronanwalts für Schottland; fünf der sieben Kinder aus der glücklichen Ehe überleben ihren Vater.
1740 erhält Maclaurin zum zweiten Mal einen Preis der Académie des Sciences – zusammen mit Daniel Bernoulli und Leonhard Euler – und zwar für eine Arbeit über die Entstehung der Gezeiten (De Causa Physica Fluxus et Refluxus Maris).
1742 veröffentlicht Maclaurin sein zweibändiges Hauptwerk Treatise of Fluxions, indem er die theoretischen Grundlagen der Newton'schen Infinitesimalrechnung präzisiert und auf zahlreiche Anwendungen wie beispielsweise Extremwertbestimmungen eingeht. Außerdem untersucht er die Reihenentwicklungen von Funktionen an der Stelle \(x=0:\)
\(f(x)=f(0)+x\cdot f'(0)+ \frac{1}{2!} \cdot x^2\cdot f''(0)+... \)
Diese speziellen Taylor-Reihen werden auch heute noch als Maclaurin-Reihen bezeichnet.
Weiter entwickelt er Formeln zur näherungsweisen Berechnung bestimmter Integrale (Euler-Maclaurin-Formel) und entdeckt eine Kurve zur Winkeldreiteilung (Trisectrix).
Auf den 763 Seiten des Werks tritt er den Kritikern des Fluxionenkalküls entgegen, insbesondere der harschen Kritik des irischen Philosophen und Theologen George Berkeley. Dieser hatte 1734 in seiner Abhandlung The Analyst: or a Discourse addressed to an Infidel Mathematician zwar eingeräumt, dass der Newton'sche Kalkül korrekte Ergebnisse liefert, die Begründungen seien jedoch unlogisch, zumindest aber zweifelhaft, und hatte zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Beweis der Produktregel kritisiert, dass Newton zunächst das Inkrement "o" als kleine positive Größe einführt, am Ende der Rechnung dieses aber gleich null setzt und weglässt: And what are these Fluxions? The Velocities of evanescent Increments? And what are these same evanescent Increments? They are neither finite Quantities nor Quantities infinitely small, nor yet nothing. May we not call them the Ghosts of departed Quantities? – Bis heute werden die "Geister verstorbener Größen" als geflügeltes Wort benutzt, um gegen die Vorstellung von "unendlich kleinen Größen" zu polemisieren. – Maclaurin kann durch seine Abhandlung einige Unschärfen der Newton'schen Infinitesimalrechnung beseitigen; aber erst durch die Arbeiten von Cauchy und Weierstraß werden exakte theoretische Grundlagen der Analysis geschaffen. – Der Titel des Berkeley'schen Buches enthält auch einen Angriff auf die Newton'sche Mechanik, die von ungläubigen (infidel) Freigeistern benutzt wird, das Wirken Gottes in Frage stellen.
Im Rahmen der Glorious Revolution 1688/89 war Jakob II aus dem Hause Stuart vom englischen Thron vertrieben worden. Seine Nachkommen hatten bereits mehrfach Versuche unternommen, ihre Thronansprüche mit militärischen Mitteln geltend zu machen. So landet 1745 der junge Charles Edward Stuart aus Frankreich kommend im Norden Schottlands, sammelt kampfbereite Truppen aus schottischen Clans um sich und marschiert auf Edinburgh zu. Colin Maclaurin organisiert das Ausheben von Gräben und den Bau von Barrikaden, um "Bonnie Prince Charlie" aufzuhalten – vergeblich; die Stadt wird eingenommen, nur die Burg bleibt in den Händen der Anhänger der englischen Krone. Maclaurin, der sich bei den Arbeiten völlig verausgabt hat, kann fliehen. Auf dem Wege nach York erleidet er bei einem Sturz vom Pferd schwere Verletzungen. Nach der Niederlage der Aufständischen kann er zwar wieder zu seiner Familie zurückkehren, aber von den erlittenen Strapazen erholt er sich nicht mehr und stirbt wenige Monate danach.
Nach seinem Tod erscheinen noch zwei Werke: Treatise on Algebra, in denen unter anderem Lösungsverfahren für lineare Gleichungssysteme mit bis zu drei Variablen allgemein entwickelt werden, sowie An Account of Sir Isaac Newton's Philosphical Discoveries.
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