Lexikon der Biologie: Primaten
Primaten [von Primates], Primates, von Carolus Linnaeus (C. von Linné) in der 10. Auflage seines Werkes „Systema Naturae“ (1758) eingeführte Ordnung der Säugetiere, in der er die Gattung Homo (Menschen) aufgrund morphologischer Übereinstimmungen (4 obere, parallel stehende Schneidezähne und 2 brustständige Milchdrüsen) mit den Gattungen Lemur (Halbaffen, zu denen er auch die Riesengleiter zählte), Simias (Affen) und Vespertilio (Fledermäuse) vereinte; Riesengleiter (Dermoptera) und Fledertiere (Chiroptera) werden in der heutigen zoologischen Systematik ebenso wie die lange zu den Primaten gerechneten Spitzhörnchen oder Tupaias (Scandentia) und die gegen Ende des Paleozäns ausgestorbenen Plesiadapiden (Plesiadapiformes) als eigenständige Ordnungen geführt, sind nach neueren Befunden mit den Primaten allerdings nahe verwandt (die 5 Ordnungen werden in der Überordnung Archonta vereinigt; die phylogenetischen Beziehungen zwischen diesen Gruppen sind noch unklar). Die nach E. Haeckel auch Herrentiere genannten Primaten gehören zur Unterklasse placentale Säugetiere (Eutheria). Sie gelten als vergleichsweise unspezialisiert; typischerweise handelt es sich um baumlebende (arboricole) Bewohner tropischer und subtropischer Waldregionen, die sich durch 5strahlige Extremitäten mit Greifhänden und Greiffüßen (opponierbare Daumen und Großzehen, Plattnägel anstatt Krallen), einen gut entwickelten Gesichtssinn mit nach vorne gerichteten, von einem geschlossenen Knochenring umgebenen Augen (dreidimensionales Sehen; binokulares Sehen), ein relativ großes Gehirn und komplexe Sozialstrukturen auszeichnen. Von der Mehrzahl der übrigen Säuger unterscheiden sie sich zudem durch lange Schwangerschaften, geringe Wurfgrößen (Wurf; meist Einzelkinder; Ausnahmen: Krallenaffen, viele Halbaffen), langsame Wachstumsraten, späte Geschlechtsreife und eine lange Lebensspanne; die Jungen kommen als Nestflüchter zur Welt (behaart, Augen und Ohren geöffnet) und werden lange gesäugt (Lactation). Alle Primaten besitzen 2 Schlüsselbeine (Clavicula) und einen Blinddarm (Caecum). Ihr Geruchssinn gilt als relativ schlecht entwickelt (Mikrosmaten; Makrosmaten), spielt bei vielen Halbaffen und Neuweltaffen (Breitnasen) allerdings noch eine erhebliche Rolle bei der Nahrungssuche und/oder der Kommunikation. Auch die Linnéschen Ordnungskriterien (2 brustständige Zitzen, 4 parallel stehende obere Schneidezähne) sind nicht universell (Ausnahmen: viele Halbaffen, z. B. Fingertiere). – Die moderne Systematik unterscheidet 2 Unterordnungen: Halbaffen (Prosimiae bzw. Prosimii) und „echte“ Affen (Simiae bzw. Simii oder Anthropoidea) bzw. Strepsirhini (Primaten mit feuchtem Nasenspiegel) und Haplorhini (Primaten ohne feuchten Nasenspiegel). Es gibt 6 natürliche rezente Verwandtschaftsgruppen mit insgesamt mehr als 250 Arten: die madagassischen Lemuren (Überfamilie Lemuroidea), die kontinentalafrikanischen und süd- bis südostasiatischen Galagos und Loris (Überfamilie Lorisoidea), die südostasiatischen Koboldmakis (Überfamilie Tarsioidea), die Breitnasen oder Neuweltaffen (Überfamilie Ceboidea), die afrikanischen und asiatischen Hundsaffen oder geschwänzten Altweltaffen (Überfamilie Cercopithecoidea) und die ebenfalls afrikanischen und asiatischen Menschenaffen und Menschen (Überfamilie Hominoidea). – Die bis Mitte des 19. Jahrhunderts heftig angefeindete Zugehörigkeit des Menschen zur Ordnung Primaten und seine enge Verwandtschaft mit den afrikanischen Menschenaffen ist heute wissenschaftlich unstrittig (Paläanthropologie; Menschenrassen II ). Nach wie vor kontrovers diskutiert wird dagegen die Frage, ob dem Menschen innerhalb dieser Ordnung (und des gesamten Tierreichs) eine biologisch-ökologische und/oder geistig-kulturelle „Sonderstellung“ zukommt. – Die Fossilgeschichte der Primaten läßt sich bis ins frühe Tertiär (Paleozän; 65–53 Millionen Jahre vor heute) zurückverfolgen, reicht aber vermutlich bis in die Ober-Kreide. Als ältester sicherer Primat gilt derzeit ein Halbaffe namens Altiatlasius koulchii aus dem Paleozän Marokkos. Aus dem Eozän (53–34 Millionen Jahre vor heute) Europas, Asiens, Nordamerikas und Afrikas sind etwa 200 fossile Primatenarten bekannt, die den Überfamilien Adapoidea und Omomyoidea zugeordnet werden und Ähnlichkeiten mit den rezenten Lemuren bzw. Koboldmakis aufweisen; die rezente Gattung Tarsius (Koboldmakis) existiert seit dem Eozän und gilt als „lebendes Fossil“ (lebende Fossilien). Erste Vertreter der simischen Primaten wurden in China entdeckt (Gattung Eosimias) und stammen ebenfalls aus dem Eozän. Primatologie, Unguiculata.
A.P.
Lit.:Fleagle, J.G.: Primate Adaptation and Evolution. San Diego 21999. Grzimek, B. (Hrsg.): Grzimeks Enzyklopädie Säugetiere, Bd. 2. München 1988. Martin, R.D.: Primate Origins and Evolution. A Phylogenetic Reconstruction. London 1990. Rowe, N.: The Pictorial Guide to the Living Primates. East Hampton 1996. Sommer, V.: Die Affen. Unsere wilde Verwandtschaft. Hamburg 1989.
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