Nutzen statt abregeln: Wohin mit dem überschüssigen Strom?
Es ist eine Zahl, die aufhorchen lässt: Fast 10 500 Gigawattstunden Grünstrom wurden im Jahr 2023 nach Angaben der Bundesnetzagentur »abgeregelt«. So viel CO2-freier Strom konnte also mangels Netzkapazitäten nicht erzeugt werden, obwohl die Windräder und Fotovoltaikpaneele dazu in der Lage gewesen wären. Die Menge entspricht rund vier Prozent des 2023 in Deutschland erzeugten Ökostroms. Wenn die Stromerzeugung vom Wetter abhängt, treten eben nicht nur Dunkelflauten auf – also Phasen, in denen weder Sonnen- noch Windenergie erzeugt werden –, sondern auch Tage, an denen Sonne und Wind weit mehr Strom produzieren, als die Netze aufnehmen können. An den Strombörsen fallen die Preise dann gegen null oder sogar ins Minus, und Anlagen werden ausgeschaltet, damit das Netz stabil bleibt.
Themenwoche: Stromnetze der Zukunft
Unsere Stromversorgung ändert sich – und mit ihr die Anforderungen an das Netz. Wir beleuchten in dieser Themenwoche die spannendsten Aspekte zur Zukunft unserer Stromversorgung.
Energiewende: Damit das Netz nicht reißt
Netzausbau: Darf der Netzbetreiber meine Wärmepumpe abschalten?
Grafik: Das größte Stromnetz der Welt
Nutzen statt abregeln: Wohin mit dem überschüssigen Strom?
Hohe Strompreise: Günstig erzeugt, teuer verkauft
Fotovoltaik: Solarzellen werden effizienter, flexibler, ästhetisch
Energiewende: Zögert an einem anderen Tag!
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Das ist nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes bedauerlich, sondern obendrein teuer, weil Betreiber von erneuerbaren Energieanlagen in solchen Fällen einen gesetzlichen Anspruch auf Entschädigung haben. Zusätzlich muss an anderer Stelle oft noch ein fossiles Kraftwerk zugeschaltet werden, um den lokalen Strombedarf zu decken, was wiederum Kosten und Treibhausgase verursacht. Schätzungsweise mehr als drei Milliarden Euro kosteten 2023 die Maßnahmen zum so genannten Netzengpassmanagement, zu denen unter anderem gehört, Ersatzkraftwerke bereitzuhalten und im Ernstfall hochzufahren. Da Sonnen- und Windkraft in den kommenden Jahren massiv ausgebaut werden sollen, werden sich solche Situationen künftig noch verschärfen, solange der Netzausbau nicht hinterherkommt.
Doch es geht auch anders. Die gute Nachricht: Technisch gibt es eine Reihe ausgereifter Lösungen, die verhindern, dass Wind- oder Sonnenstrom abgeregelt werden müssen. Viele davon haben mit »Flexibilität« zu tun – sie verschieben den Stromverbrauch in Zeiträume, in denen viel erzeugt wird. Das gelingt mit Batteriespeichern, durch die Umwandlung von Strom in Wärme oder Gas oder indem die Industrie den Strom flexibel nutzt. Aber noch sind nicht alle diese technischen Möglichkeiten wirtschaftlich umsetzbar, manchen stehen gar Regulatorien im Weg.
In Deutschland boomt derzeit die naheliegende Lösung: überschüssigen Strom zumindest kurzfristig in Akkus zu speichern. Ganz ohne staatliche Förderung hat der Bau großer Batteriespeicher seit 2024 stark zugenommen. Und bis 2026 könnte sich die Kapazität sogar verfünffachen, prognostiziert der Bundesverband Solarwirtschaft. Denn zum einen sind die Komponenten billiger geworden, zum anderen bringen Großbatteriespeicher mittlerweile so viel ein, dass sich ihr Bau und Betrieb finanziell lohnen.
Im Frühjahr 2024 begann im schleswig-holsteinischen Bollingstedt der Bau eines der größten Batteriespeicher Europas. Mit einer Leistung von 103,5 Megawatt und einer Kapazität von 238 Megawattstunden (MWh) soll er im zweiten Quartal 2025 in Betrieb gehen und dann bis zu zweimal täglich überschüssigen Wind- und PV-Strom über das Hochspannungsnetz der Schleswig-Holstein Netz AG aufnehmen. Zum Vergleich: Heimspeicher für PV-Anlagen haben meist eine Kapazität zwischen 5 und 20 Kilowattstunden (kWh). Der gespeicherte Strom werde »idealerweise morgens und abends ins öffentliche Netz zurückgespeist«, erklärt Tobias Badelt, Vertriebsleiter des deutsch-norwegischen Speicherbetreibers Eco Stor. Zu welchen Zeiten der Strom ans Netz abgegeben werde, hänge aber auch von den Börsenstrompreisen ab.
Ohne Großspeicher geht es nicht
Großbatteriespeicher sind künftig unverzichtbar, davon ist Badelt überzeugt. Sie erhöhen den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung, weshalb weniger fossile Kraftwerke eingesetzt werden müssen. Zudem können Batteriespeicher sekundenschnell auf eine Anforderung des Netzbetreibers reagieren und das Netz auf diese Weise stabilisieren. Außerdem lässt sich solch eine Anlage in relativ kurzer Zeit errichten: Etwa zwei Jahre dauert es von der Planung bis zur Inbetriebnahme, wenn alles gut läuft. In Bollingstedt wird Eco Stor auf 1,2 Hektar Fläche 32 Containerstationen mit 213 000 Lithium-Ionen-Akkus aufstellen, dazu kommen 16 Container mit Wechselrichtern und Transformatoren sowie ein eigenes Umspannwerk.
Das Unternehmen hat sich auf die Entwicklung und Errichtung »netzdienlicher« Stromspeicher spezialisiert – das heißt solcher, die das Netz entlasten. Seit November 2024 baut es an einer weiteren 238-MWh-Anlage im Kreis Schleswig-Flensburg. Der Standort liegt in der Nähe des Umspannwerks Schuby West, und der Speicher soll wie derjenige in Bollingstedt überschüssigen Wind- und PV-Strom aufnehmen und bei Bedarf ins öffentliche Netz zurückspeisen. Laut Badelt könnte man damit rund eine halbe Million Mehrpersonenhaushalte morgens und abends für jeweils zwei Stunden mit Strom versorgen. Im selben Landkreis ging schon 2018 der Batteriespeicher Jardelund (48 MW Spitzenleistung, 50 MWh Kapazität) in Betrieb, damals der größte seiner Art in Europa.
Dass die Speicher vor allem in Norddeutschland aus dem Boden sprießen, liegt auch am zunehmenden Ausbau der Offshore-Windenergie in Nord- und Ostsee. Doch die Energiepuffer werden andernorts ebenfalls gebraucht: Zwischen 300 und 800 Gigawattstunden an stationären Batteriespeichern werden überall in Deutschland bis 2045 für die Energiewende installiert werden, je nach Szenario. Konzerne wie RWE, Vattenfall, EWE und Total Energies sind in das Geschäft eingestiegen. In Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt plant zum Beispiel die Firma Kyon Energy, die im Februar 2024 von Total Energies übernommen wurde, mehrere Projekte mit Speicherkapazitäten zwischen 116 und 275 MWh. Zwei noch größere Batteriespeicherwerke mit einer Kapazität von je 600 MWh will Eco Stor in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt errichten, ab Mitte 2027 soll sogar ein Speicher mit 716 MWh in Baden-Württemberg entstehen. Insgesamt beabsichtigt das Unternehmen, in den kommenden Jahren Großakkus mit mehr als zwei Gigawattstunden (GWh) Kapazität in Deutschland aufzubauen.
»Um den Speicherausbau zu beschleunigen, müssen Antragsverfahren schneller werden«Adrian Röhrig, Bundesverband erneuerbarer Energien
Der Bundesverband erneuerbarer Energien (BEE) sieht den Ausbau von Speichern grundsätzlich positiv und plädiert für schnelle regulatorische Erleichterungen: »Um den Speicherausbau zu beschleunigen, müssen Antragsverfahren schneller werden«, erläutert Verbandssprecher Adrian Röhrig. Der BEE hat in verschiedenen Veröffentlichungen beschrieben, wie ein auf 100 Prozent erneuerbaren Energien basierendes Stromsystem aussehen kann. Seine Mitglieder sind davon überzeugt, dass sich ungenutzter Strom in Zukunft vermeiden lässt, »da jede produzierte Kilowattstunde transportiert oder genutzt werden kann«. Einer der Schüssel dafür sei die Flexibilisierung.
Wie viel mehr Flexibilität das gesamte deutsche Elektrizitätssystem braucht, zeigt eine Analyse des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE): Demnach sind im Jahr 2030 dazu Speicher beziehungsweise flexible Leistung von schätzungsweise 104 GWh nötig; bis 2045 werden je nach Szenario 300 bis 800 GWh gebraucht. Nur ein kleiner Teil davon wird durch die – ebenfalls boomenden – Heimspeicher abgedeckt werden können, die bislang immerhin zirka 11,6 GWh zusammenbringen. Allerdings gewinnt man Flexibilität als Lösung für überschüssigen Strom nicht nur durch Batteriespeicher.
Intelligentes Lastmanagement
Ein Überangebot an Strom lässt sich ebenfalls vermeiden, indem man die Elektrizität dann abruft, wenn am meisten erzeugt wird; man spricht dann von Lastverschiebung. Das kann geschehen, indem Firmen industrielle Prozesse umplanen – sofern möglich – oder etwa ihre E-Auto-Flotte dann laden, wenn gerade viel Strom im Netz ist. Das Gleiche gilt für Haushaltskunden mit intelligenten Messsystemen und dynamischen Stromtarifen, die somit ebenfalls die Option haben, Elektrogeräte wie Waschmaschinen, Geschirrspüler oder Backofen dann einzuschalten, wenn viel Ökostrom erzeugt wird und die Strompreise niedrig sind. Neben dem Laden von E-Autos werden Wärmepumpen zunehmend wichtig für die Lastverschiebung. Weil es bei diesen Aspekten jedoch noch einiges zu untersuchen gibt, hat das Fraunhofer ISE Ende Oktober 2024 in Freiburg ein neues Batterieforschungszentrum eingeweiht. Das Gebäude besitzt eine 850-Kilowatt-PV-Anlage und einen Speicher mit unterschiedlichen Batterietypen und 836 kWh Kapazität. Es dient selbst als »Living-Lab«. Die Fachleute erproben dort unter realen Bedingungen, wie die einzelnen Komponenten zusammenspielen und wie sich die Stromnutzung durch intelligentes Lastmanagement optimieren lässt.
Statt grünen Strom in Akkus zwischenzuspeichern oder zur richtigen Zeit zu nutzen, lässt sich damit auch Wärme erzeugen. Das spart ebenfalls fossile Brennstoffe ein und senkt so CO2-Emissionen. Herzstück dieser Power-to-Heat (PtH) genannten Technologie ist ein Elektrodenheizkessel, der im Prinzip ähnlich wie ein Durchlauferhitzer oder Wasserkocher funktioniert: Elektroden erhitzen Wasser in einem Heizkessel, überschüssiger Strom wird so mit hohem Wirkungsgrad in Wärme umgewandelt.
Solche Anlagen sind schon Jahrzehnte in Dänemark im Einsatz, seit einigen Jahren auch in Deutschland. Auf die Technik setzen etwa kommunale Energieversorger wie die Stadtwerke Flensburg, die seit Juni 2024 auf Grund der guten Erfahrungen bereits einen zweiten Kessel dieser Art nutzen. Auch die Hamburger Energiewerke betreiben mehrere solche Anlagen. »Power-to-Heat eignet sich besonders gut, um erneuerbare Energie in das Wärmenetz zu integrieren«, bekräftigt Friederike Grönemeyer, Sprecherin des Hamburger Energieversorgers. In Wedel steht zum Beispiel eine Wind-zu-Wärme-Anlage mit einer Leistung von 80 Megawatt. Der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz hat sie finanziert, beide Unternehmen setzen sie je nach Bedarf ein. Die Anlage erwärmt Wasser in elektrisch beheizten Kesseln mit Windstrom, der andernfalls abgeregelt werden müsste. »Über Wärmetauscher gelangt die Wärme in das Heizwasser und wird als grüne Fernwärme in das Hamburger Stadtnetz eingespeist. Rechnerisch lassen sich damit rund 27 000 Haushalte versorgen, wenn die Anlage auf Volllast läuft«, erklärt Grönemeyer. »Das reduziert den Einsatz von Kohle und senkt die CO2-Emissionen.« Eine noch größere PtH-Anlage mit 120 Megawatt betreibt Vattenfall in Berlin-Spandau, nach eigenen Angaben ist sie eine der größten Europas. Sie könne »selbst an sehr kalten Wintertagen mehr als 36 000 Haushalte beheizen«, teilt das Unternehmen mit. Und im Sommer reiche die Wärmeleistung sogar, um zehnmal so viele Haushalte mit Warmwasser zu versorgen.
»Power-to-Heat eignet sich besonders gut, um erneuerbare Energie in das Wärmenetz zu integrieren«Friederike Grönemeyer, Hamburger Energiewerke
Überschüssiger Ökostrom kann aber auch dazu dienen, so genannten grünen Wasserstoff herzustellen. Eine Elektrolyseanlage zerlegt dabei Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O2). Der CO2-frei erzeugte Wasserstoff lässt sich vielfältig nutzen: Als Treibstoff kann er Lkw, Busse oder Schiffe bewegen. Die chemische Industrie braucht ihn als Grundstoff, um Dünger und andere Substanzen herzustellen. Bei der Stahlproduktion wiederum ermöglicht das Gas, Eisenerz direkt zu Eisen zu reduzieren, was die klimaschädliche Verbrennung von Kokskohle im Hochofen ersetzt. Außerdem kann Wasserstoff ins Gasnetz eingespeist oder unterirdisch in Salzkavernen gelagert werden. Bei Bedarf wird er dann genutzt, etwa in Reservekraftwerken wieder in Strom umgewandelt.
Power-to-Gas: Grüner Wasserstoff per Elektrolyse
Wie lokal erzeugter grüner Wasserstoff dazu beiträgt, die Emissionen im Verkehr zu senken, zeigt das Projekt HY.City.Bremerhaven. Der mit Überschussstrom hergestellte Wasserstoff beliefert eine öffentliche H2-Tankstelle, an der sowohl Pkw als auch Lkw und Busse tanken können. »In unseren Projekten nutzen wir ausschließlich Strom mit Herkunftsnachweisen für erneuerbare Energieerzeugung und wählen dabei bevorzugt die Stunden des Tages, bei denen ein Überschuss im Stromnetz vorhanden ist«, erklärt Marian Hieke, Abteilungsleiter Technik bei GP Joule, einem Versorger im Bereich der erneuerbaren Energien, der schon ab 2012 auch auf grünen Wasserstoff setzte. »Dies spiegelt sich verlässlich in den niedrigen Preisen pro MWh wider, so dass wir in den Stunden mit dem meisten Überschuss die günstigsten Preise zur H2-Erzeugung nutzen.«
Die Technologien lassen sich gut miteinander kombinieren. Das geschieht zum Beispiel in der Uckermark. Das Brandenburger Unternehmen Enertrag betreibt dort und andernorts Verbundkraftwerke, in denen Wind- und Solarstromanlagen in einem eigenen, hunderte Kilometer langen Netz und eigenen Umspannwerken miteinander verknüpft sind, mit direktem Anschluss an das europäische Verbundnetz. An das eigene Kraftwerknetz sind wiederum Großverbraucher wie Wärmespeicher und Wasserstofferzeuger angeschlossen, welche die natürlichen Schwankungen von Sonne und Wind ausgleichen. Auch Akkuspeicher, die das Netz stabilisieren, gehören dazu. Ihre Verbundkraftwerke haben laut Enertrag eine Leistung im Gigawattbereich. »Anstatt wertvolle Energie abzuregeln, müssen wir in Verbundkraftwerken neben Strom auch Wasserstoff und Wärme erzeugen«, schildert Jörg Müller, Gründer und Vorsitzender des Aufsichtsrats von Enertrag. Denn der größte Teil des Energieverbrauchs finde außerhalb des klassischen Stromsektors statt. »Nur so kommt erneuerbare Energie in die Industrie, den Verkehr und die Heizungen – und nur so bleibt das Energiesystem mit Hilfe der dazu erforderlichen Speicher stabil.«
All die genannten Techniken helfen also, das Abregeln von Stromüberschüssen zu verringern. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das bestehende Stromnetz für den künftigen Bedarf ausgebaut werden muss – oder zumindest dort ertüchtigt wird, wo es möglich ist.
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