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Lexikon der Biologie: Neurotoxine

Neurotoxine [von *neuro- , griech. toxikon = Gift], Nervengifte, allgemeine Bezeichnung für Substanzen, die in erster Linie schädigend auf das Nervensystem wirken. Zu den Neurotoxinen gehören z.B. Bakterientoxine, Tiergifte und Pflanzengifte, Schwermetalle und chemische Kampfstoffe. Wegen der strukturellen und chemischen Komplexität und der hohen physiologischen Relevanz des Nervensystems für den Organismus führen Substanzen mit neurotoxischen Eigenschaften häufig zu verschiedensten Erkrankungen und Vergiftungssymptomen (Vergiftung). Ob eine Substanz neurotoxische Effekte im Organismus entfalten kann, hängt zunächst einmal von der Anfälligkeit des Individuums ab. Faktoren für eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Neurotoxinen sind z.B. Alter (Altern), Mangel-Ernährung, Erkrankungen und genetische Defekte, welche die Metabolisierungsrate verschlechtern (z.B. langsame Acetylierer [Acetyliererphänomen] oder Hydroxylierer, Leber- und Nierenfunktionsstörungen), sowie bestehende neurologische Erkrankungen (z.B. Schizophrenie, Epilepsie). Weiterhin ist die Neurotoxizität vor allem von der Konzentration und der Verweildauer (Pharmakodynamik) einer Substanz im entsprechenden Gewebe abhängig. Hierbei spielen kinetische Parameter wie Gewebepenetration, Verteilung, Metabolisierung und Exkretion eine entscheidende Rolle. So können einige Substanzen, wie z.B. Vitamin B6 (Vitamine), die in physiologischen Dosen für die neuronale Funktion essentiell sind, in höheren Konzentrationen und bei entsprechend langer Expositionsdauer neurotoxisch wirken. Der genaue Wirkmechanismus vieler Neurotoxine ist noch unbekannt oder nur teilweise aufgeklärt, dennoch wurden in den letzten Jahren viele Zielstrukturen auf molekularer Ebene identifiziert. Neurotoxine können direkt oder indirekt mit strukturellen oder funktionellen Neuronenkomponenten interagieren. Indirekte neuronale Schäden werden z.B. durch eine induzierte Hypoxie (z.B. durch Kohlenmonoxid), Hypokaliämie (Elektrolythaushalt) oder Hypovitaminose (z.B. durch Ethanol) verursacht. Die meisten bekannten Nervengifte greifen jedoch bestimmte Strukturen der Nervenzelle an und wirken somit direkt neurotoxisch. Ihre Wirkung beruht dabei zumeist auf einer Blockierung oder übermäßigen Stimulierung der Erregungsleitung im Nervensystem ( vgl. Abb. ). – Neurotoxine lassen sich je nach Herkunft in verschiedene Klassen einteilen: 1) Bakterientoxine: Die neurotoxisch wirkenden Bakterientoxine Botulinustoxin (Botulismus, Nahrungsmittelvergiftungen) und Tetanustoxin (Wundstarrkrampf) gehören zu den giftigsten Substanzen überhaupt (Gifte); weitere bekannte Bakterientoxine sind Choleratoxin (Cholera), Clostridienneurotoxine sowie Diphtherietoxin (Diphtherie). Bakterientoxine können auch als sog. bakteriologische Kampfstoffe (biologische Waffen) eingesetzt werden. 2) Tiergifte: Bei den meisten von Tieren (Gifttiere) gebildeten Neurotoxinen handelt es sich um Peptide bzw. Enzyme. Unter den Meerestieren sind vor allem die Conotoxine mariner Kegelschnecken der Gattung Conus, das Saxitoxin von Muscheln (Muschelgifte) und das Tetrodotoxin des Kugelfischs (Fugu-Gift; Fischgifte) erwähnenswert, deren Neurotoxizität auf einer Blockade von Natriumkanälen beruht. Auch terrestrische Tiere wie Spinnen (Latrotoxin der Schwarzen Witwe; Giftspinnen, Spinnengifte), Schlangen (Bungarotoxin, Cobratoxin;Giftschlangen, Schlangengifte), Amphibien (Batrachotoxin der Phyllobates-Arten; Amphibiengifte, Farbfrösche) und Skorpione (Skorpiongifte) sezernieren verschiedene Neurotoxine, die jährlich zu Tausenden von Vergiftungsfällen führen. 3) Pflanzengifte und Pilzgifte: Viele der zahlreich in der Natur vorhandenen Pflanzengifte, Mykotoxine und anderen Pilzgifte (Giftpilze) entfalten im menschlichen Organismus neurotoxische Wirkungen. Es handelt sich bei giftigen Pflanzeninhaltsstoffen (Giftpflanzen, Pflanzenstoffe) im wesentlichen um Alkaloide (z.B. Aconitin [Aconitumalkaloide], Atropin, Coniin, Curare, Morphin, Nicotin, Strychnin usw.) und die herzwirksamen Triterpen-Glykoside sowie cyanogene Glykoside (z.B. Amygdalin). Als Beispiele seien die Alkaloide Atropin und Scopolamin aus den Nachtschattengewächsen (z.B. Tollkirsche, Bilsenkraut) genannt, die als Antagonisten an muscarinischen Acetylcholinrezeptoren über eine Hemmung der neuronalen Übertragung zu Symptomen wie Mundtrockenheit, Blasenlähmung, Erhöhung der Herzfrequenz, zentralen Erregungszuständen mit Halluzinationen bis hin zu Atemlähmung (ca. 100 mg Atropin) führen können. 4) Schwermetalle: Die industriell häufig verwendeten Schwermetalle gelangen oral (oft in Lebensmitteln vorhanden), über die Atemwege oder die Haut in den Organismus. Der menschliche Körper wird permanent mit geringen Mengen an Schwermetallen konfrontiert (z.B. Quecksilber aus Amalgam-Füllungen in Zähnen), die jedoch in der Regel nicht zu Vergiftungen führen. In höheren Konzentrationen können Schwermetalle mit neurotoxischer Potenz, wie z.B. Quecksilber (Quecksilbervergiftung), Blei und Thallium, verschiedene Vergiftungssymptome auslösen (Metallvergiftungen). 5) Chemische Kampfstoffe: Diese auch als C-Waffen bezeichneten Substanzen werden zu kriegerischen Zwecken eingesetzt, um den Feind zu töten oder zu immobilisieren. Sie lassen sich in Abhängigkeit vom Wirkort im Organismus in Psycho-, Nerven-, Haut-, Lungen- und Blutkampfstoffe unterscheiden. Nervenkampfstoffe (meist Nervengase) sind zumeist organische Phosphorverbindungen, wie z.B. Tabun, Sarin, Soman, VX und Diisopropyl-Fluorphosphat, die ihre neurotoxische Wirkung über eine Hemmung der Acetylcholin-Esterase (Anticholin-Esterasen) entfalten. Hierbei kommt es zu einer Anhäufung von Acetylcholin im Bereich cholinerger Synapsen (cholinerge Fasern), was mit einer exzessiven Steigerung der Aktivität innervierter Organe und Gewebe bis hin zum Funktionsverlust verbunden ist. Im Zentralnervensystem beeinflußt die cholinerge Übererregung auch andere neuronale Systeme (z.B. GABA [γ-Aminobuttersäure], Dopamin, Glutaminsäure). Vergiftungssymptome machen sich peripher mit Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Krämpfen, Harndrang, Bronchokonstriktion, Bradykardie und Muskelschwäche bemerkbar. Im Zentralnervensystem kommt es zu nervösen Erregungszuständen wie Unruhe, Schlaflosigkeit, Alpträumen, Bewegungsstörungen und epileptischen Anfällen (Epilepsie). Eine zentrale und periphere Atemlähmung sowie ein Bronchospasmus können zum Tode führen. Als Gegenmittel werden Atropin, Benzodiazepine und Obidoxim (Obidoximchlorid) eingesetzt. – Neurotoxine finden auch Einsatz zur experimentellen Untersuchung physiologischer und pathophysiologischer Prozesse im Nervensystem. So werden z.B. die Natriumkanalblocker Tetrodotoxin und Saxitoxin zur Untersuchung elektrophysiologischer Funktionen von Nervenmembranen verwendet. Neben den genannten Neurotoxinen gibt es noch zahlreiche weitere Substanzen mit neurotoxischer Potenz, wie sie z.B. bei Pharmaka (Arzneimittel), Rausch- (Rauschgifte) und Suchtmitteln (Drogen), Kunststoffen, Lebensmittelzusatzstoffen und Bioziden zu finden sind. Ansonsten gilt für Neurotoxine genau wie für alle anderen Toxine die vielzitierte Aussage von Paracelsus: "Alle Dinge sind Gift und nichts ohne Gift, allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist." biogene Gifte, Brevetoxine, Gifte, Giftpflanzen (Tab.), Gifttiere (Tab.), Neurotoxikose.

A.R./D.F.

Lit.:Moser, A. (Ed.): Pharmacology of Endogenous Neurotoxins. Basel 1998.



Neurotoxine

Motoneuron mit cytologischen Bestandteilen (Beschriftung rechts) und Angriffspunkten verschiedener Neurotoxine (Beschriftung links). Tetanustoxin hemmt die Freisetzung der inhibitorischen Neurotransmitter Glycin und γ-Aminobuttersäure. β-Iminodipropionitril (IDPN) und Iodoacetat unterbrechen den axonalen Transport. Diphtherietoxin bindet an Schwann-Zellen und hemmt dort die Proteinbiosynthese. Tetrodotoxin inhibiert durch Blockade von Natriumkanälen an den Ranvierschen Schnürringen die Reizweiterleitung. Latrotoxin (Gift der Schwarzen Witwe) verursacht eine massive Neurotransmitter-Freisetzung aus der Synapse und bedingt somit Muskelkrämpfe, während Botulinustoxin die exocytotische Freisetzung von Neurotransmittern blockiert, was zu einer Erschlaffung quergestreifter Muskelfasern führt. Bungarotoxin wirkt als Antagonist an postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren, und Sarin hemmt die Acetylcholin-Esterase.

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