Lexikon der Chemie: Nucleophilie
Nucleophilie, kernsuchende oder elektronenlückesuchende Eigenschaft eines nucleophilen Reagens, die Fähigkeit, ein Elektronenpaar für eine Bindung zu einem elektrophilen Partner bereitzustellen. Die N. wird von elektronischen und sterischen Faktoren bestimmt. Sie hängt von der Polarisierbarkeit und der Basizität der Schlüsselatome des nucleophilen Reagens ab. In welchem Ausmaß Polarisierbarkeit und Basizität die N. bestimmen, wird wesentlich durch das Lösungsmittel festgelegt: in dipolaren aprotischen Lösungsmitteln ist die Basizität für die N. maßgebend, in protischen Lösungsmitteln wird die N. von der Polarisierbarkeit bestimmt. Dementsprechend unterscheiden sich die Abstufungen der N. in Lösungsmitteln unterschiedlichen Charakters beträchtlich, z. B. CN- > CH3COO- > F- > N3- > Cl- > Br- > I- > SCN- in Dimethylformamid (dipolar-aprotisch), SCN- > CN- ≈ I- > Br- ≈ HO- > Cl- > F- ≈ CH3COO- in protischen Lösungsmitteln. Wegen dieses Verhaltens ist es unmöglich, eine für alle Substrate und Lösungsmittel einheitliche Abstufung der N. aufzustellen. Für bestimmte Anwendungsgebiete wurden mit Hilfe von LFE-Gleichungen quantitative Beziehungen für die N. aufgestellt. Ein Maß für die relative (auf Wasser bezogene) kinetische N. n wurde aus dem Verhältnis der Logarithmen der Geschwindigkeitskonstanten von SN2-Reaktionen mit einem nucleophilen Reagens X und Wasser und Methylbromid bei 25 °C in Wasser/Aceton-Mischungen erhalten (Swain-Scott-Beziehung): lg(kx/kH2O) = n·S, wobei S der Suszeptibilitätsfaktor ist. Für typische, nach einem SN2-Mechanismus reagierende Substrate ist S etwa 1. Diese Beziehung gilt nur für SN2-Reaktionen am gesättigten C-Atom. Mit Hilfe einer Vierparametergleichung (Edwards-Gleichung) kann der Einfluß der Struktur sowohl des nucleophilen Reagens als auch des elektrophilen Substrates auf die Geschwindigkeit von SN2-Reaktionen beschrieben werden: lg(kx/kH2O) =αP1 + βH1, wobei P1 die relative Polarisierbarkeit des nucleophilen Reagens und H1 die relative thermodynamische Basizität (Protonenbasizität) des nucleophilen Reagens ist. α und β dienen zur Charakterisierung des elektrophilen Substrates, sie werden statistisch ermittelt.
Die Aussage der Edwards-Gleichung, daß die kinetische Lewis-Basizität eines Reagens durch die Polarisierbarkeit und die Protonenbasizität bestimmt wird, wurde von Pearson als HSAB-Konzept (Säure-Base-Konzepte) formuliert. Mitunter wird die Leichtigkeit, mit der eine Verbindung oxidiert wird, mit ihrer N. in Verbindung gebracht.
Nucleophile Reagenzien mit Werten von nCH3I > 10, z. B. Vitamin B12, Cobaloxime(I) und andere Cobalt(I)-chelate weisen Supernucleophilie auf. In neuerer Zeit wird allen nucleophilen Reagenzien, die in α-Stellung zum nucleophilen Zentrum ein Atom mit einem freien Elektronenpaar haben, z. B. Hydrazin, das Peroxyanion, Phenylhydroxylamin, Supernucleophilie zugeschrieben. Derartige Spezies reagieren gewöhnlich schneller als die normalen nucleophilen Reagenzien (α-Effekt).
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