Lexikon der Geowissenschaften: Gletscher
Gletscher
Holger Riedel, Wetter
Wenn die Summe der winterlichen, festen Niederschläge das sommerliche Abtauen über mehrere Jahre bzw. bei sehr niedrigen Temperaturen über mehrere Jahrzehnte überwiegt, entsteht durch die kontinuierliche Anhäufung von Schnee im Zuge der Schneemetamorphose Eis. Dies beginnt ab einer Mächtigkeit von mehreren Zehner Metern, sich unter seinem Eigengewicht gravitativ zu bewegen. Bezeichnet man das sich bewegende Eis, wird von Gletschereis gesprochen, der gesamte zusammenhängenden Eiskörper wird Gletscher genannt und ist ein Forschungsgegenstand der Glaziologie.
Die gesamte, von Gletschern eingenommene Fläche auf der Erde beträgt derzeit etwa 14,9 Mio. km2, entsprechend rund 10% der Land- und 3% der Erdoberfläche. Davon entfallen allein ca. 12,5 Mio. km2 auf die Antarktis, 1,7 Mio. km2 auf Grönland und lediglich knapp 4% der gesamten vergletscherten Fläche verteilen sich auf die übrigen Polargebiete und die Gebirge der Erde. Die Ozeane der Erde werden zusätzlich zu über 7% ihrer Fläche von Meereis bedeckt. Die Eismächtigkeiten der Gletscher liegen bei den Gebirgsgletschern zwischen mehreren Zehnern bis Hundertern Meter und bei den zentralen Teilen der kontinentalen Eisschilde bei über 3000-4000 m. In den Gletschern sind 1,2% des irdischen Oberflächenwassers und über 98% der gesamten Süßwassermenge der Erde gebunden. Ihre Bildung ist zum einen an niedrige Temperaturen gebunden, v.a. während der sommerlichen Ablationsperiode, und zum anderen an ausreichende Niederschlagsmengen. Insbesondere Firnfelder oder andere geschützte Lagen in Gebirgen oberhalb der orographischen Schneegrenze begünstigen die initiale Gletschereisentstehung. In den polaren Regionen ist die klimatische Schneegrenze bis zum Meeresspiegel abgesenkt, so daß hier Gletscher als Eisschelfe meerwärts über die Küstenlinie hinausreichen. Für die Konservierung einmal gebildeter Eismassen sind bei ausreichend niedrigen Temperaturen nur noch geringste Niederschläge erforderlich, woraus sich die rezente Erhaltung der großen antarktischen Inlandeismassen in einem der aridesten Gebiete der Erde erklärt.
Die in mannigfachen Formen auftretenden Gletscher der Erde werden im Rahmen von Gletscherklassifikationen nach unterschiedlichen Kriterien zu übergeordneten Gletschertypen zusammengefaßt, wobei allerdings zahlreiche Übergangsformen zwischen den einzelnen Typen bestehen. Die wichtigste Gletscherklassifikation erfolgt nach den geomorphologischen Gegebenheiten: a) dem Relief übergeordnete flächenhafte Vereisungen, auch Deckgletscher genannt, (z.B. Eisschilde, Eiskappen, Plateaugletscher), b) die dem Relief untergeordneten Talgletscher (auch Gebirgsgletscher) mit deutlich umgrenztem Einzugsgebiet bzw. c) Eisstromnetze, die gewissermaßen als Zwischenstufe durch eine über die Wasserscheiden hinweg erfolgende Vereinigung zahlreicher Talgletscher (Transfluenzpaß) gebildet werden ( Abb. 1 ). Eine weitere Gliederungsmöglichkeit besteht nach thermischen Kriterien in temperierte Gletscher und kalte Gletscher. Idealtypisch gliedern sich temperierte Talgletscher etwa im Größenverhältnis zwei zu eins in ein Nährgebiet, in welchem über ein Massenhaushaltsjahr gesehen Akkumulation überwiegt, und in ein Zehrgebiet mit vorherrschender Ablation. Nähr- und Zehrgebiet werden durch die sog. Gleichgewichtslinie getrennt ( Abb. 2 ). Die kalten Gletscher der schildförmig gewölbten, polaren Inlandeismassen dagegen besitzen erheblich größere Nährgebiete, ihre Ablation erfolgt zu einem wesentlichen Teil durch Kalbung ihrer zahlreichen Auslaßgletscher in das Meer.
Zu den Mechanismen der Gletscherbewegung wurden in den vergangenen zwei Jh. eine ganze Reihe von Gletschertheorien entwickelt. Heute gelten als wesentliche Bewegungsmechanismen sowohl das basale Gleiten des Gletschers über seine Felsbasis, welches durch einen als Schmierschicht wirkenden Schmelzwasserfilm ermöglicht wird, als auch die gletscherinterne Bewegung durch plastisches Fließen. In jüngerer Zeit wird als Erklärung für besonders hohe Gletschergeschwindigkeiten auch der sog. verformbare Untergrund, eisfreies Moränenmaterial zwischen Gletscher und Felsuntergrund mit hohem Wasserdruck an der Gletscherbasis, herangezogen. Bezüglich der Art der Bewegung wird zwischen der bei kalten Gletschern wesentlichen Blockschollenbewegung von Gletschern und der bei temperierten Gletschern dominierenden, langsameren strömenden Bewegung unterschieden. Die Blockschollenbewegung ist charakterisiert durch in Gletscherrandnähe abrupt zunehmende Geschwindigkeiten und relativ rascher, blockartiger Bewegung des gesamten Gletscherzentrums, während bei der strömenden Bewegung im Idealfall eine kontinuierliche Geschwindigkeitszunahme zur Gletschermitte und -oberfläche hin vorliegt. Die von den Gletschern im Normalfall erreichten Geschwindigkeiten liegen je nach Eismächtigkeit, Gletschergröße, Massenbilanz, Gefälle, Temperaturen etc. in einer Spanne von 30-200 m/Jahr bei den Alpengletschern und erreichen bis zu 800 m/Jahr bei den asiatischen Hochgebirgsgletschern. Im Innern von Eisschilden beträgt die Fließgeschwindigkeit lediglich wenige m/Jahr, wohingegen bei ihren Auslaßgletschern die höchsten bekannten Gletschergeschwindigkeiten auftreten, z.B. am Jacobshavn-Gletscher in Westgrönland mit einem Mittelwert von ca. 20 m/Tag im Bereich der Gletscherfront. Im Zuge der Gletscherbewegung kommt es im oberen, starren Bereich des Gletschereises und in den Gletscherrandbereichen zu Scherspannungen, wodurch Risse und die für die Gletscheroberfläche typischen Gletscherspalten entstehen. Weitere, das Fließverhalten der Gletscher widerspiegelnde Oberflächencharakteristika stellen die häufig im Bereich der Gletscherzunge zu beobachtenden Ogiven dar. Eine Sonderform der Gletscherbewegung sind die bei manchen Gletschern auftretenden sog. Gletscherwogen (glacier surges), in deren bis zu mehrjährigem Verlauf Teilbereiche von Gletschern episodisch (etwa alle 10-100 Jahre) um das zehn- bis über hundertfache ihrer normalen Geschwindigkeit annehmen. Gletscherkatastrophen drohen in diesem Zusammenhang, wenn die Surge-Welle die Gletscherfront erreicht und diese sich dann beispielsweise rasch auf Siedlungen zubewegt. Infolge ihrer großen Erosionskraft besitzen Gletscher bedeutende geomorphologische Wirkung, die durch mannigfache Formen der glazialen Erosion und Akkumulation dokumentiert wird. Eindrucksvolle Beispiele hierfür sind u.a. die durch glaziale Übertiefung entstandenen Trogtäler als Erosionsformen und die verschiedenen Ausbildungen von Moränen als Akkumulationsformen.
Während der Hochstände der pleistozänen Kaltzeiten besaßen die Gletscher weltweit eine deutlich größere Ausdehnung, insgesamt waren in diesen Phasen über 30% der Festlandfläche der Erde vergletschert. Noch vor ca. 20.000-18.000 Jahren v.h., zum Hochstand (LGM) der Weichsel-Kaltzeit, dehnten sich große Inlandeismassen über weite Teile Nordamerikas aus. In Nordeurasien reichten sie bis ins heutige Norddeutschland, Sibirien und Zentralasien und auch in der Antarktis und in deutlich geringerem Maße in Bereichen Südamerikas und Südafrikas bedeckten Eismassen das Festland. Die zahlreichen kleineren Gebirgsgletscher vereinigten sich zu großen Eisstromnetzen, die aus den Gebirgen ausströmten und schließlich auch zur Gebirgsvorlandvereisung (Vorlandgletscher) führten. Aus diesen Gründen sind deutliche Vereisungsspuren heute weit über die rezenten Glazialräume hinaus verbreitet. Gletscher waren weder in der geologischen Vergangenheit (historische Paläoklimatologie) noch heute stabile Gebilde. Sie reagieren, wenn auch zeitlich verzögert, auf Änderungen ihrer Massenbilanz durch Gletschervorstöße und -rückgänge. Diese Gletscherschwankungen, welche in ihrer Gesamtheit die Gletschergeschichte ausmachen, können überregional gleichgerichtet oder aber auch regional bzw. sogar zwischen benachbarten Gletschern verschieden sein. Auf die Gletscherschwankungen nehmen neben den klimatischen Faktoren auch eine ganze Reihe lokaler Gegebenheiten Einfluß, z.B. sind Gletscherfläche und -volumen entscheidend hinsichtich der Reaktionsgeschwindigkeit des Gletschers auf veränderte Massenbilanzen. Die Geschichte der Alpengletscher ist z.B. in den vergangenen Jahrhunderten durch überregional zu verzeichnende, klimatisch bedingte Vorstoßphasen gekennzeichnet, v.a. zwischen 1570-1650 und 1770-1860 n.Chr. (Kleine Eiszeit). Seit der Mitte des 19. Jh. ist die vergletscherte Fläche in den Alpen bis heute allerdings um rund 40% zurückgegangen, wobei um 1890, 1920 und zwischen 1960-1980 n.Chr. wiederum überregionale, kleinere Vorstöße eingeschaltet waren. Derzeit befinden sich viele Alpengletscher in einer Rückzugsphase.
Der aktuellen Klima- und Umweltforschung dienen Gletscher als wichtige Archive, die mittels der Analyse von Eisbohrkernen (Eiskernbohrung) vielfältige Aussagen zu Klima- und Temperaturschwankungen im Jungquartär erlauben. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Sauerstoffisotopenmethode und der Analyse von in den Luftblasen des Gletschereises gespeicherten atmosphärischen Gasen zu, insbesondere der sog. Treibhausgase CO2 und Methan. Sie ermöglichen Vergleiche mit der heutigen Atmosphärenzusammensetzung und evtl. in der Zukunft wissenschaftlich abgesicherte Aussagen über den menschlichen Einfluß auf das Klima und die zukünftige Klimaentwicklung.
Literatur:
[1] EHLERS, J. (1994): Allgemeine und historische Quartärgeologie. – Stuttgart.
[2] KLOSTERMANN, J. (1999): Das Klima im Eiszeitalter. – Stuttgart.
[3] KUHLE, M. (1991): Glazialgeomorphologie. – Darmstadt.
[4] LIEDTKE, H. (Hrsg.) (1990): Eiszeitforschung. – Darmstadt.
[5] PATERSON, W.S.B. (1994): The physics of glaciers. – Oxford.
[6] PRESS, F., SIEVER, R. (1995): Allgemeine Geologie. – Heidelberg, Berlin, Oxford.
[7] RÖTHLISBERGER, F. (1986): 10.000 Jahre Gletschergeschichte der Erde. – Aarau, Frankfurt am Main, Salzburg.
[8] STRASSER, S., WÜRKER, W. (1998): Schnee und Eis. – München.
[9] WILHELM, F. (1975): Schnee- und Gletscherkunde. – Berlin, New York.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.