Lexikon der Kartographie und Geomatik: Graphische Variablen
Graphische Variablen, E graphical variables, nach der graphischen Semiologie von J. Bertin graphische Mittel zur Variation von (karto)graphischen Zeichen auf der Grundlage der Gliederungsstufen bzw. der Skalierungsniveaus der abzubildenden Geodaten. Ziel des Theorie-Ansatzes der graphischen Variablen ist die Herstellung von visuell-gedanklichen Analogien zwischen Objektbeziehungen und Zeichenbeziehungen durch Graphik. Im Rahmen der vielfältigen Weiterentwicklungen des Theorie-Ansatzes bilden diese Analogien u. a. die Grundlage für die Entwicklung formal-logisch nachvollziehbarer Zeichen- und Graphikmodelle in der Kartographie. Unterschieden werden vor allem die sechs graphischen Variablen Form, Richtung (Orientierung), Farbe, Helligkeit, Muster (Korn) und Größe, die entsprechende Gliederungsstufen im Sinne von wahrnehmungsbezogenen Merkmalen und Eigenschaften aufweisen (Abb.). So haben Variablen "assoziative" Eigenschaften (A), wenn die durch sie variierten Zeichen trotz ihrer optischen Unterschiede als homogen wahrgenommen werden. "Selektive" Eigenschaften (S) von Variablen liegen vor, wenn Zeichen einer Kategorie von Zeichen anderer Kategorien isoliert werden können. Variablen mit "ordnenden" Eigenschaften (O) erlauben dagegen die Wahrnehmung eindeutiger Reihenfolgen von Zeichenkategorien sowie deren Vergleich unabhängig von einer Zeichenerklärung. Bei "quantitativen" Eigenschaften (Q) einer Variablen lassen sich Relationen zwischen Zeichen durch numerische Verhältnisse bestimmen (Proportionen) und Zeichen mit vergleichbaren quantitativen Abständen untereinander zu Gruppen zusammenfassen.
Diesem Theorieansatz folgend dienen die Variablen Form, Richtung und Farbe im kartographischen Zeichenmodell der Zeichenvariation auf der Grundlage von nominalskalierten Objektbeziehungen, wie qualitativen Unterschieden zwischen der Produktionsausrichtung von Industriestandorten. Durch die Variablen Muster und Helligkeit werden Zeichen auf der Grundlage von ordinalskalierten Objektbeziehungen, wie geordneten Unterschieden zwischen Waldschadensklassen, variiert. Mithilfe der graphische Variablen Größe können intervall- und ratioskalierte Objektbeziehungen, wie quantitative Unterschiede zwischen verschiedenen Messwerten im Emissionsschutz, in Zeichen abgebildet werden.
Abhängig von der "Implantation", der Einfügung in eine graphische Struktur bzw. dem geometrischen Datenbezug lassen sich durch die graphischen Variablen grundsätzlich Zeichen sämtlicher Zeichendimensionen variieren. Der Theorieansatz der graphischen Semiologie geht dabei insgesamt von der reinen Variation der Kartenzeichen durch jeweils eine graphische Variable aus. So impliziert die graphische Variable Farbe – beispielsweise bei der Abbildung der nominalskalierten Objektbeziehungen zwischen Flächennutzungskategorien – eine per definitionem konstante Helligkeit der Farben. Kombinationen von mehreren graphischen Variablen bei der Zeichenvariation setzen das Vorhandensein einer entsprechenden Anzahl von Objektmerkmalen voraus.
Mit dem Ziel der "Kombination graphischer Variablen", der "Datenbindung" des Kartenentwurfs sowie mit dem Ziel der eindeutigen "formal-logischen Zuordnung" von Zeichen und ihren Beziehungen zu Daten und Datenbeziehungen im Rahmen der Entwicklung kartographischer Systeme wurde der Theorieansatz in den 1970er Jahren von E. Spiess und in den 1980er Jahren vor allem von F. Kelnhofer und J. Bollmann weiterentwickelt. Dabei werden die graphischen Variablen als bedeutungstragende graphische Substanz für die Bildung von Zeichenreihen bei der Konstruktion thematischer Karten (Objekt-Zeichen-Referenzierung) beschrieben und hinsichtlich ihrer einzelnen Elemente, ihrer unterschiedlichen Eignung für die Zeichenreihenbildung und ihrer visuellen Beziehungen zueinander differenziert. Neben der Unterscheidung graphischer Variablen nach ihrem Einfluss auf die innere und äußere Konstruktionsgeometrie von Zeichen, der die Lage und die Ausdehnung von Zeichen in der Karte betrifft, werden a) der Variabilitätstyp, b) der Variabilitätsbereich, c) die Variablendifferenzierung und d) der Variablenbezug festgelegt (Abb. 2).
Der Variabilitätstyp unterscheidet zwischen a) konvergierenden und b) divergierenden Variablen. Bei konvergierenden Variablen, wie Farbe und Richtung, sind die Variablenelemente, also definierbare Farben und Richtungen von Zeichen, auf einen gemeinsamen Grenzpunkt (Variationsgrenze) bzw. auf sich selbst ausgerichtet. Bei divergierenden Variablen, wie Korn, Helligkeit und Größe, sind die Variablenelemente dagegen auf einen jeweils eigenen Grenzpunkt des gesamten Variationsbereichs ausgerichtet.
Als Variabilitätsbereiche werden unterschieden: a) Variablen, bei denen beide Grenzpunkte physikalisch vorgegeben bzw. absolut sind, wie Helligkeit mit den Grenzpunkten "Weiß" und "Schwarz"; b) Variablen, bei denen der erste Grenzpunkt physikalisch vorgegeben ist und der zweite Grenzpunkt (logisch) offen ist, wie Größe mit dem ersten Grenzpunkt "kleinster sichtbarer Punkt" und dem zweiten Grenzpunkt, der durch die Struktur der Kartenfläche bestimmt wird; c) Variablen, bei denen beide Grenzpunkte definiert werden müssen, wie Farbe und Richtung mit zu definierenden Farb- und Winkelbereichen; d) Variablen, bei denen beide Grenzpunkte (logisch) offen sind, wie Form ohne logische Grenzpunkte.
Mit der Variablendifferenzierung werden Variablen hinsichtlich der wahrnehmungsbezogenen Definierbarkeit von Variablenelementen im Variationsbereich unterschieden: a) stetig wachsende oder fallende Variablen, bei denen Variablenelemente in ihrer Beziehung zueinander eindeutig als "stetig zunehmend" oder "stetig abnehmend" festgelegt werden können, wie bei Korn, Helligkeit und Größe ; b) stetig variierende Variablen, bei denen Variablenelemente eindeutig als "stetig verändernd" festgelegt werden können, wie Farbe und Richtung ; c) beliebig variierende Variablen, bei denen Variablenelemente "nicht" eindeutig festgelegt werden können, wie Form.
Der Variablenbezug unterscheidet die indirekte oder direkte Referenz zu Variablengrenzpunkten: a) Bei indirektem Bezug nehmen Variablenelemente einen beliebigen physikalischen Zustand im gesamten Variationsbereich an, wie einen prozentual definierter Tonwert bei Helligkeit. b) Bei direktem Bezug nehmen Variablenelemente einen Zustand als Wert oder Wertspanne zwischen dem physikalischen Nullpunkt der Variablen und einem beliebigen Zustand größer als Null an, wie die konkrete Größe eines Diagramms.
Mit Hilfe dieser Definitionen lassen sich Variablenausschnitte festlegen, die mit dem Ziel der Bildung von konkreten Zeichenreihen für thematische Kartentypen bei der Kartenkonstruktion. 1. Durch den Kontrast zwischen Elementen einer graphischen Variablen oder zwischen Elementen mehrerer graphischer Variablen. 2. Durch die Redundanz im Sinne eines Unterscheidungsüberschusses zwischen Variablenelementen oder im Sinne einer Kombination von mehreren graphischen Variablen. 3. Durch die Ikonizität zwischen Zeichen und den optischen Merkmalen von zu repräsentierenden Objekten verändert und an bestimmte Bedingungen der Kartennutzung angepasst (kartographisches Zeichenmodell).
Auf der Grundlage dieser formalen Differenzierung entwickelte A.-D. Uthe in den 1990er Jahren einen Ansatz zur mathematischen Definition der graphischen Variablen (Abb. 3 ). Damit wurde es erstmals möglich, den logischen Zusammenhang zwischen Daten- und Zeichenbeziehungen aufgrund der Beziehungen zwischen Eigenschaften von Attributwerten und den Eigenschaften graphischer Variablenelemente in Modelle zur automatischen Kartenkonstruktion einzubinden. Daneben wurden in den 1990er Jahren in Zusammenhang mit den neuen Medien und neuen Technologien eine Reihe weiterer Ansätze zur Differenzierung und Erweiterung der graphischen Variablen entwickelt. Sie betreffen vor allem die Variationsmöglichkeiten statischer, dynamischer und interaktiver Darstellungsformen in den Bereichen der dreidimensionalen kartographischen Darstellung, der kartographischen Animation und der " Multimedia-Kartographie", aber auch die (nicht graphische) Variation haptischer und akustischer Darstellungsformen. So ordnen J.M. Kraak und G. Buziek den graphischen Variablen spezifische Funktionen zur dreidimensionalen Abbildung zu, ergänzt D. Dransch dynamische Variablen für temporale und non-temporale Computer-Animationen und unterscheidet A. MacEachren (nicht graphische) syntaktisch-dynamische Variablen der multimedialen Präsentation von Karten. Trotz des hohen Stellenwerts des Systems der graphischen Variablen und seiner Weiterentwicklungen für die Kartographie steht eine empirische Überprüfung der Wirkung der bei J. Bertin vorausgesetzten visuell-perzeptiven und visuell-kognitiven Eigenschaften der graphischen Variablen noch aus.
PTZ
Literatur: [1] BERTIN, I. (1974): Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten. Berlin New York. [2] BOLLMANN, J. (1987): Computer-based modelling of thematic mapping. – In: Nachrichten aus dem Karten- und Vermessungswesen, Reihe II, Nr. 46, Frankfurt, 71-81. [3] KOCH, W.G. (2000): Kartengestaltende Variablen – Entwicklungslinien und ihre Ergänzung im multimedialen Umfeld. In: Lechthaler, M. & Gartner, G. (Hrsg.): Per aspera ad astra. Festschrift für Fritz Kelnhofer. (Geowissenschaftliche Mitteilungen, Nr. 52) Wien, S. 72-82. [4] SPIESS, E. (1970): Eigenschaften von Kombinationen graphischer Variablen. In: Grundsatzfragen der Kartographie, Wien, 280-293. [5] UTHE, A.-D. (1991): Kartographische Kommunikationsschnittstelle zur Verarbeitung geowissenschaftlicher Daten. (Beiträge zur kartographischen Informationsverarbeitung, Bd. 3) Trier.
Graphische Variablen 1Graphische Variablen (nach J. Bertin).
Graphische Variablen 2:Graphische Variablen 2: Variabilitätstypen, Variabilitätsbereiche, Variablendifferenzierung und Variablenbezug (nach J. Bollmann).
Graphische Variablen 3:Graphische Variablen 3: Mathematische Definition (nach A.-D. Uthe).
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