Lexikon der Neurowissenschaft: Bewegungswahrnehmung
Bewegungswahrnehmungw, E movement perception, die Analyse eines Bewegungsreizes unter Berücksichtigung von körpereigener Bewegung und des umgebenden Hintergrunds. Sowohl ein Bewegungsreiz als auch eine Augenbewegung verursachen eine Bildverschiebung auf der Netzhaut (Retina). Da der Mensch trotzdem in einem Fall eine Bewegung, im anderen keine wahrnimmt, muß das Sehsystem diese beiden Ursachen unterscheiden können. Man vermutet, daß eine Kopie der Erregungssignale (Efferenzkopie) für die äußeren Augenmuskeln an eine Verrechnungsstelle im Sehhirn geschickt wird, die mit dem Bewegungszentrum verbunden ist. Dort werden die Efferenzkopie und die Signale der retinalen Bildverschiebung (Reafferenz) verrechnet. Liegt eine Augenbewegung vor, heben sich beide Signale auf, wenn nicht, liegt ein tatsächlicher Bewegungsreiz vor (Reafferenzprinzip). Eine körpereigene Bewegung erzeugt in der Wahrnehmung ein optisches Flußfeld; so fließen z.B. bei einer Vorwärtsbewegung Objekte seitlich vorbei, frontal voraus befindliche Objekte vergrößern sich, und weiter entfernt gelegene Strukturen bewegen sich nur wenig oder überhaupt nicht. Diese komplexen Informationen des optischen Flußfeldes werden in höheren visuellen Arealen (z.B. MST = medial superior temporal area) gleichsam für die Wahrnehmung von Bewegungsreizen genutzt. Neben der tatsächlichen Bewegung gibt es andere Ursachen für Bewegungswahrnehmung. Bei einer Scheinbewegung leuchten z.B. eng nebeneinanderliegende Lichtquellen abwechselnd auf (z.B. Leuchtreklame, Bildschirm). Um eine Scheinbewegung als Bewegung wahrzunehmen, muß das zeitliche Intervall der Lichtblitze, je nach Abstand, bei höchstens 60 ms bis 300 ms liegen. Eine induzierte Bewegung eines gleichsam stationären Objekts kann man bei homogener Bewegung der unmittelbaren Umgebung des Objekts wahrnehmen (z.B. scheint der Mond hinter vorbeiziehenden Wolken in Gegenrichtung zu wandern). Bewegungsnachbilder entstehen nach längerer Betrachtung einer gleichförmigen Bewegung in eine Richtung (z.B. ein Wasserfall). Betrachtet man anschließend eine ruhende Oberfläche, so bewegt diese sich scheinbar in die entgegengesetzte Richtung (Wasserfalltäuschung). Diese Bewegungsnacheffekte entstehen aufgrund von Adaptation der gereizten Bewegungsdetektoren. In Ruhe heben sich die Signale der spontan feuernden Bewegungsneurone auf, während nach Adaptation die Ruheaktivität kurzzeitig sinkt und daher die entgegengesetzt empfindlichen Bewegungsneurone im Vergleich aktiver sind. Dies löst eine scheinbare Bewegung von ruhenden Objekten in die entgegengesetzte Richtung aus. Im visuellen Cortex finden sich schon in frühen Verarbeitungszentren (z.B. V1) richtungsspezifische Bewegungsdetektoren – allerdings mit nur kleinen rezeptiven Feldern, die keine eindeutige Analyse der Bewegungsrichtung zulassen. Erst in höheren Zentren des visuellen Cortex, vor allem in Area MT (V5), finden sich Neurone mit großen rezeptiven Feldern, die selektiv auf eine bestimmte Richtung eines Bewegungsreizes reagieren. Bei abweichenden Richtungen erfolgt dagegen keine neuronale Antwort. Bei einigen Insekten (Fliegen, Heuschrecken) hat man in nachgeschalteten Sehzentren ebenfalls räumlich getrennte, richtungsspezifische Bewegungsdetektoren gefunden. Bewegungssehen.
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