Lexikon der Neurowissenschaft: Gedächtnis
Essay
Rüdiger Vaas
Gedächtnis
"Das Gedächtnis ist der Schatzmeister und Hüter aller Dinge", schrieb Cicero. Und Luis Buñuel sagte: "Man muß beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, wenn auch nur in Teilen, um zu erkennen, daß das Gedächtnis alles ist, was unser Leben ausmacht. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Verstand, unser Gefühl, sogar unsere Handlung. Ohne es sind wir nichts.". Augustinus hat schon vor 1500 Jahren über die "Paläste der Erinnerung" spekuliert. Doch Emanuel von Bodmanns Frage "Was ist Erinnerung? Wissen wir's? Lebt das, was in uns lebt, von unserem Vergangenem, nur in uns, oder hat es noch eine andere Wirklichkeit?" wird erst allmählich von der modernen Neurowissenschaft beantwortet.
Definition und Charakterisierung
Lernen zeigt sich in verändertem Verhalten, abhängig von Erfahrungen; und Gedächtnis(Ememory) ist das Behalten solcher Änderungen, d.h. die Fähigkeit, individuell erworbene Informationen abrufbar zu speichern. Dies geschieht zum Teil nur kurzfristig oder, darauf aufbauend, auch über längere Zeiträume hinweg, zum Teil sogar für das ganze weitere Leben. Es werden folgende Teilabläufe unterschieden: 1) Informationsaufnahme aus der Umwelt mittels Sinnesorganen, 2) Auswahl (Filterung) von Informationen, 3) Informationsspeicherung (Engramm), entweder vorübergehend oder dauerhaft, 4) zugleich Verknüpfung der Informationen mit anderen Informationen, 5) Reaktivierung (Ekphorie) der Informationen (Erinnerung). Gedächtnis ist also eine umfassende Bezeichnung für die Leistungen, Bedingungen und Grenzen des Einprägens von Erfahrungen, des Behaltens, Wiedererkennens und Erinnerns. Von den rund 1 bis 100 Milliarden Bit Informationen, die pro Sekunde auf die Sinnesorgane einströmen, gelangen schätzungsweise 10 bis 20 Bit pro Sekunde ins Kurzzeitgedächtnis, das 100 bis 400 Bit zu fassen vermag. Davon kommen noch 0,1 Bit pro Sekunde ins mittelfristige Gedächtnis, das 1000 bis 10000 Bit speichern kann, und von diesen gelangen vielleicht 0,03 bis 0,1 Bit pro Sekunde ins Langzeitgedächtnis, dessen Kapazität auf 10 Milliarden bis 100 Billionen Bit geschätzt wird. – Eine theoretische Möglichkeit, Informationen zu speichern, besteht in der Vermehrung oder im Austausch bestimmter dafür vorgesehener Elemente. Eine andere Möglichkeit ist, die Verbindungen zwischen solchen Elementen zu ändern. Dies erfordert in der Regel weniger Aufwand und ermöglicht die Speicherung weitaus größerer Datenmengen. Tatsächlich ist dieses abstrakt formulierte Prinzip im Gehirn besonders effizient und raffiniert realisiert.
Methoden der Gedächtnisforschung
Mit unterschiedlichen Methoden wird daran gearbeitet, die anatomischen, zellulären und biochemischen Grundlagen des Gedächtnisses zu verstehen. Psychologische Tests und das Studium von Ausfallserscheinungen, zum Beispiel durch einen Tumor oder nach einem Schlaganfall, erhellen separate Gedächtnisleistungen. Bildgebende Verfahren wie die Positronenemissionstomographie (PET) ermöglichen es, die Aktivität des arbeitenden Gehirns räumlich wie zeitlich zu verfolgen. Wichtige Informationen liefern ferner Tierversuche, in denen systematische Experimente gemacht werden, die sich beim Menschen aus ethischen Gründen verbieten (Ethische Probleme in der Neurowissenschaft), z.B. elektrophysiologische Ableitungen und Reizungen, gezielte operative Läsionen, die Transplantation von Nervenzellen, das Ausschalten oder Überexprimieren von Genen (Gedächtnismutanten) oder die Gabe spezifisch wirkender Substanzen (Blocker und Aktivatoren). Schließlich erhielten in jüngster Zeit auch Computersimulationen mit künstlichen neuronalen Netzen einen wichtigen Stellenwert.
Kurz- und Langzeitgedächtnis
Das Gedächtnis ist keine unzertrennliche Einheit, sondern setzt sich aus unterschiedlichen Formen zusammen. Die grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. – Das Kurzzeitgedächtnis währt maximal wenige Minuten. Sein Inhalt wird überwiegend wieder vergessen. Ein geringer Teil wird aber ins Langzeitgedächtnis überführt (Konsolidierung). Psychologen unterscheiden zwei Hauptkomponenten des Kurzzeitgedächtnisses: das unmittelbare oder primäre Gedächtnis und das Arbeitsgedächtnis. Das unmittelbare Gedächtnis enthält die Informationen, die gerade wahrgenommen werden und im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, d.h. bewußt sind. Seine Kapazität ist sehr begrenzt – es können gewöhnlich sieben plus/minus zwei Einheiten (chunks) erinnert werden, z.B. Ziffern, Objekte, Namen usw. Wenn seine Inhalte nicht ständig wiederholt werden, sind sie meist binnen 30 Sekunden vergessen. Die zeitliche Ausdehnung des unmittelbaren Gedächtnisses ist das Arbeitsgedächtnis. In ihm wird die aktuell verfügbare Menge von Informationen und Such-, Entscheidungs- bzw. Lösungsstrategien während der Beschäftigung mit einer Aufgabe bereitgehalten. Mitunter wird auch noch von einem Ultrakurzzeitgedächtnis gesprochen, den stimulusspezifischen sensorischen Speichern, die Wahrnehmungseindrücke ca. eine Sekunde aufbewahren. Der Begriff Kurzzeitgedächtnis wird aber auch für längere Zeiträume gebraucht, in der sich die Erinnerungen bereits konsolidieren, aber noch nicht zu stabilen Inhalten des Langzeitgedächtnisses wurden. In diesem Sinn können Kurzzeiterinnerungen viele Minuten oder sogar über eine Stunde anhalten, ohne ständig im Arbeitsgedächtnis präsent zu sein. Mitunter wird hier auch vom mittelfristigen Gedächtnis gesprochen. Das Kurzzeitgedächtnis basiert auf vorübergehenden Veränderungen der Stärke synaptischer Kontakte – auf elektrochemischen Erregungsmustern in mehr oder weniger großen Gruppen von Nervenzellen und von diesen Aktivitäten ausgelösten biochemischen Stoffwechselkaskaden. Für das Arbeitsgedächtnis sind insbesondere neuronale Aktivitäten im Frontallappen relevant. Er weist reziproke Verbindungen zu vielen sensorischen und motorischen Cortexarealen auf (top-down-Rückkopplungen) und kann Informationen bereit- oder aufrechterhalten, auch wenn die zugehörigen Reize gerade fehlen. Das zeigen Ableitungen mit Elektroden: Wurden z.B. Affen darauf trainiert, sich die Position oder Farbe eines Objekts auf einem Bildschirm zu merken, bleiben bestimmte Neuronen im Frontallappen aktiv, auch wenn das Objekt verschwunden ist oder sogar neue Objekte auftauchen (verzögerte Übereinstimmungsaufgabe). Intakte Strukturen des Schläfenlappens, z.B. der Hippocampus, sind für das Kurzzeitgedächtnis nicht notwendig, es ist bei Patienten mit Amnesie nicht beeinträchtigt. Bei Wahrnehmungsaufgaben schneiden Amnestiker nicht schlechter ab als Gesunde. – Das Langzeitgedächtnis ist die längerfristige Speicherung von Informationen – über Tage, Monate oder ein ganzes Leben. Im Gegensatz zum Kurzzeitgedächtnis ist das Langzeitgedächtnis kein Temporär-, sondern ein Permanentspeicher. Es ist viel weniger störanfällig als das Kurzzeitgedächtnis und wird z.B. durch Elektroschocks, Schädeltraumen usw. nicht beeinträchtigt. Es beruht auf Veränderungen in den Nervennetzen, die Folge von Gen- und Proteinaktivierungen sind. Der Gebrauch (die Aktivität) von bestimmten Nervenbahnen festigen die Kontaktstellen zwischen den einzelnen feuernden Neuronen physiologisch oder morphologisch (Hebb-Synapse). Auf dieser neuronalen Plastizität bzw. synaptischen Bahnung basiert das Langzeitgedächtnis: Erfahrungen verändern das Gehirn. Vermutlich werden die Informationen in exakt denselben, weit über das Gehirn verteilten neuronalen Ensembles gespeichert, die das, was erinnert werden kann, auch perzipiert, verarbeitet und analysiert haben. Beispielsweise sind die Namen von Tieren, berühmten Persönlichkeiten und Werkzeugen in unterschiedlichen Regionen des Schläfenlappens gespeichert und können durch Läsionen dort auch selektiv verlorengehen (kategoriespezifisches Wissen).
Anatomie des expliziten und impliziten Gedächtnisses
Psychologisch wie anatomisch müssen mindestens zwei große Gedächtnissysteme unterschieden werden, die weitgehend unabhängig voneinander sind. 1) Das deklarative, relationale oder explizite Gedächtnis ( siehe Tab. 1 ) speichert einerseits Fakten und Wortbedeutungen (semantisches Gedächtnis), Bilder und Töne. Andererseits bewahrt es die Erinnerungen an Ereignisse (episodisches Gedächtnis), die zur Grundlage der persönlichen, bewußten Autobiographie werden, d.h. der individuellen raumzeitlichen Geschichte. Dazu gehört auch das Quellengedächtnis, das enthält, wann und wo bestimmte Informationen erworben wurden. Das semantische Gedächtnis ist zum Teil unabhängig vom episodischen und vielleicht dessen evolutionäre Voraussetzung, weil Tatsachenwissen auch ohne autobiographisches Wissen erworben werden kann. Bei Amnestikern ist das episodische Gedächtnis schwerer beeinträchtigt als das semantische. Das autobiographische episodische Gedächtnis beruht insbesondere auf Arealen der rechten Gehirnhälfte: des Schläfenlappens (Selbstrepräsentation) sowie der Amygdala, des Hippocampus/Parahippocampus, des posterioren Cingulums, der Insula und des präfrontalen Cortex (Gefühlstönung). Alle Inhalte des expliziten Gedächtnisses sind prinzipiell erklärbar (deklarierbar), unmittelbar bewußt, schnell und flexibel, aber nicht immer verfügbar. Neben dem Neocortex sind hierfür vor allem der mediale Schläfenlappen und das Zwischenhirn (Diencephalon) grundlegend ( siehe Zusatzinfo 1 ). Drei große, anatomisch unterscheidbare Schaltkreis-Systeme konnten bereits identifiziert werden. Einer läuft vom parahippocampalen und perirhinalen Cortex über den Hippocampus und den Fornix direkt und indirekt über die Mamillarkörper zum anterioren Nucleus des Thalamus und dann über verschiedene Wege wieder in den Schläfenlappen zurück. Ein anderer zieht sich vom parahippocampalen und perirhinalen Cortex zum Hippocampus und wieder zurück. Der dritte schließlich entspringt ebenfalls dem parahippocampalen und perirhinalen Cortex und geht über die mittleren Thalamus-Kerne in den frontalen Cortex und wieder zurück in den Schläfenlappen. Diese Schaltkreise werden eventuell von basalen Vorderhirnstrukturen moduliert und können über die Amygdala Gefühlstönungen erhalten (Emotionen). – 2) Das nicht-deklarative, prozedurale oderimplizite Gedächtnis ( siehe Tab. 2 ) vollzieht sich dagegen unbewußt, ist meistens zugänglich, langsam und unflexibel, d.h. nur in den Zusammenhängen einsetzbar, in denen es erworben wurde. Es umfaßt Fertigkeiten, Gewohnheiten (Reaktionstendenzen auf bestimmte Reize), Konditionierungen und Priming. Priming bedeutet, bestimmte Aufgaben schneller zu lösen, wenn ein entsprechender Kontext schon vorbereitet ist; z.B. wird das Wort "Nagel" in einer Wortliste rascher gefunden, wenn zuvor "Hammer" genannt wurde. Fertigkeiten ("wissen wie" im Gegensatz zu "wissen daß") meint motorische, perzeptuelle oder kognitive Prozeduren, etwa die Fähigkeit, Spiegelschrift zu lesen. Das implizite Gedächtnis macht einen wichtigen Teil der Persönlichkeit aus und beeinflußt das Verhalten, ohne daß man sich in der Regel darüber im klaren ist. Es ist an andere anatomische Strukturen gebunden als das deklarative Gedächtnis, beispielsweise an das Corpus striatum, Kleinhirn, Putamen, Caudatum und die Amygdala sowie spezifische sensorische und motorische Systeme, die an reflektorischen Verhaltensweisen beteiligt sind. (Das implizite Gedächtnis ist möglicherweise die einzige Gedächtnisform von Wirbellosen, denn für ein deklaratives Gedächtnis sind ihre Hirnstrukturen und -organisation vermutlich zu einfach; siehe Zusatzinfo 2 .)
Amnesien und die Organisation der Erinnerung
Wenn durch Verletzungen, Krankheiten oder im Tierversuch bestimmte Hirnstrukturen und Verbindungen geschädigt werden, hat dies spezifische Gedächtnisstörungen zur Folge. Grundsätzlich kommen dafür mehrere Ursachen in Frage. Entweder wird das Substrat der Speicherung selbst eliminiert, oder der Zugriff auf den Speicherort (Erinnerungsvorgang) ist unterbrochen, oder das Vermögen zur Speicherung oder zur Festigung (Konsolidierung) der Informationen im Langzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr ( siehe Tab. 3 ). – Die wichtigste Art der Gedächtnisstörungen heißt Amnesie. Betroffen sind hier der mediale Schläfenlappen, das mittlere Zwischenhirn, das basale Vorderhirn (Prosencephalon) oder, zumindest bei Affen, der ventromediale frontale Cortex. Das Kurzzeitgedächtnis ist intakt, was beweist, daß es unabhängig von diesen Strukturen und dem Langzeitgedächtnis besteht. Bei der anterograden Amnesie können Fakten und Ereignisse nach der Störung nicht mehr abgespeichert werden. Dies ist der Fall, wenn die Hippocampusformation ausfällt oder – wie beim Korsakow-Syndrom bei Alkoholikern – die Mamillarkörper und der mediale Thalamus. (Darüber hinaus scheint bei ihnen aber auch der Frontallappen beeinträchtigt zu sein.) Bei der retrograden Amnesie gehen Fakten und Ereignisse vor der Störung verloren (manchmal nur vorübergehend), meist von einem Zeitraum von ein bis zwei Jahren, manchmal aber von Jahrzehnten. Dann hat der Betroffene einen Großteil seiner personalen Identität eingebüßt und muß sein Leben gleichsam neu beginnen. Beide Formen der Amnesie können sowohl getrennt voneinander als auch gemeinsam vorkommen. – Die Ursachen für Amnesien sind nicht befriedigend geklärt. Da die Intelligenz erhalten bleibt und bei der retrograden Amnesie Erinnerungen vor der Störung betroffen sind, ist ein Encodierungsdefizit – außer bei der Quellenamnesie – wohl auszuschließen. Falls es sich um eine Abruf-Störung handelt, könnte der Informationsfluß vom Scheitellappen zum Arbeitsgedächtnis im Frontallappen unterbrochen sein. Dies wird als Ursache der retrograden Amnesie diskutiert. Bei der anterograden Amnesie dürfte es sich aber um eine gestörte Konsolidierung handeln. Sie kann auftreten, wenn der Metabolismus des Neocortex zu stark vermindert ist, was PET-Studien bei Korsakow-Patienten vermuten lassen. Dadurch könnte auch der Abruf von Informationen beeinträchtigt werden. Außerdem scheinen die Strukturen im medialen Temporallappen maßgeblich an der Reorganisation der Informationen im Neocortex beteiligt zu sein und fungieren wohl auch als eine Art "Zwischenspeicher" beim Übergang vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Besonders die Bildung komplexer Assoziationen, wie sie beim Behalten einer Geschichte nötig sind, gelingen ohne den Hippocampus nicht. Einfache Assoziationen, zum Beispiel Wortpaare, können nicht gelernt werden, wenn der parahippocampale und perirhinale Cortex geschädigt sind. Weitere Forschungen sind nötig, um zu klären, ob Amnesien aus verschiedenen funktionellen Defiziten bestehen (und um welche es sich dabei handelt), und wo die Schädigungen jeweils exakt lokalisiert sind. – Trotz des notwendigen Beitrags der Strukturen des Diencephalons und medialen Schläfenlappens für die langfristige Gedächtnisbildung – PET-Studien zeigen, daß der Hippocampus bei Gedächtnistests den größten Stoffwechsel-Umsatz hat – sind diese Hirnbereiche nicht oder nur vorübergehend der Speicherort. Dieser ist im Neocortex selbst zu suchen, und zwar wahrscheinlich dort, wo die Informationen erstmals verarbeitet und fürs Kurzzeitgedächtnis bereitgehalten werden (es gibt also kein eng begrenztes "Gedächtniszentrum"). Zwischenhirn und Hippocampus mit den assoziierten Arealen scheinen dabei modulierende und organisierende Funktionen zu haben, vor allem auch, was die Zusammenführung der Informationen aus verschiedenen Sinnesmodalitäten betrifft. Sie stellen eine Art Tor zum Langzeitgedächtnis dar, indem sie bei der neuronalen Reorganisation im Cortex mitwirken. Dabei werden vermutlich einzelne neuronale Ensembles in verschiedenen Cortex-Arealen durch die Stärkung reziproker Verbindungen enger aufeinander bezogen und mit den Korrelaten damit zusammenhängender Gedächtnisinhalte verknüpft. Möglicherweise speichert der mediale Temporallappen nach einem Ereignis rasch so etwas wie Zeiger oder Bindeglieder, wodurch die verschiedenen Großhirnregionen, die gemeinsam das ganze Ereignis speichern, miteinander verschaltet werden. Sind die Erinnerungen nach einiger Zeit (Wochen oder Monate) tief genug eingraviert, können sie unabhängig von Hippocampus und Zwischenhirn abgerufen werden.
Zwischen Großmutterzelle und Hologramm
Mit Elektroden kann das Verhalten einzelner Neurone registriert werden. Dabei zeigt sich, daß beispielsweise im visuellen System Nervenzellen existieren, die nur auf ganz bestimmte Merkmale ansprechen. Solche Detektoren gibt es nicht nur für Linien und Kanten, sondern auch für so komplexe Wahrnehmungsobjekte wie Gesichter. Im Temporallappen von Affen wird eine Kette nachgeschalteter Verarbeitungszentren studiert, die Neuronengruppen enthalten, welche hauptsächlich dann feuern, wenn dem Versuchstier Gesichter präsentiert werden. Dies erfolgt ziemlich unabhängig von Blickwinkel, Größe, Kontrast, Orientierung und Ausdruck der Gesichter. Diese Invarianz erleichtert maßgeblich die Assoziationsbildung in den nachgeschalteten Gedächtnissystemen. Andernfalls würde jeder Blickwinkel und so weiter einzeln gespeichert werden, und die Wiedererkennung von Gegenständen aus einer neuer Sicht wäre unmöglich. Andere Neurone in denselben Regionen geben aber perspektivenbezogene Antworten. Doch das Verhalten der Nervenzellen hängt nicht bloß davon ab, ob das Tier ein Gesicht sah, sondern auch noch davon, welches es sah. Andere Neurone reagieren dagegen auf bestimmte Gesichtsausdrücke, nicht auf individuelle Gesichter. Dies ist wichtig z.B. für soziale Interaktionen. Schädigungen in diesen Gehirnregionen führen zu Defiziten im sozialen und emotionalen Verhalten. Experimente zeigten, daß neue Repräsentationen innerhalb von weniger als fünf Sekunden gebildet werden können. Sieht das Versuchstier ein unbekanntes Gesicht, reagieren bestimmte Neurone verstärkt. Nach wiederholten Präsentationen aber bleibt ihr Antwortverhalten stabil. Offenbar manifestiert sich das Lernen in einer Veränderung der Eigenschaften bestimmter Neuronengruppen. Doch läßt sich aus solchen Experimenten folgern, daß es diese Neurone sind, oder im Idealfall nur eine einzige Nervenzelle, die ein bestimmtes Merkmal oder eine Merkmalskombination "erkennen" oder sie als Gedächtnisinhalt abspeichern? Diese Position wurde Atomismus genannt und mit dem berühmt gewordenen Konzept der "Großmutterzelle" illustriert. Danach könnte nur ein Neuron dafür verantwortlich sein, daß man seine Großmutter erkennen kann oder sich an sie zu erinnern vermag. Dieser strenge Atomismus ist offensichtlich absurd. Zum einem müßte nicht bloß eine Zelle für die Großmutter existieren, sondern die Großmutter würde je nach Frisur, Kleidung und anderen möglichen Merkmalen schon sehr viele weitere Zellen erfordern. Für die komplexe Erfahrungswelt des Menschen würden dann auch seine geschätzten 100 Milliarden Neurone bei weitem nicht ausreichen. Und da sich Nervenzellen nur in wenigen Ausnahmen noch teilen, aber immer wieder welche absterben, könnte einem durch den Verlust eines oder weniger Neurone ganz plötzlich die Fähigkeit abhanden kommen, die Großmutter zu erkennen oder sich an sie zu erinnern. – Die radikale Gegenposition zum Atomismus ist ein Globalismus, nach dem das ganze Großhirn einem Hologramm ähnelt, in dem an jedem Ort jeder Teil des dargestellten Bildes gespeichert ist. Selbst wenn große Teile des Gehirns ausfallen, wäre der Gedächtnisinhalt nur unwesentlich vermindert – so wie das Bild des Hologramms nicht stückweise verschwindet, sondern als ganzes bloß undeutlicher wird. Tatsächlich haben auch großräumige Hirnschäden mitunter kaum Auswirkungen, was für eine beträchtliche Redundanz im Cortex spricht. Und insbesondere in jungen Jahren ist das Gehirn noch so plastisch, daß es starke Beeinträchtigungen erstaunlich gut kompensieren kann. Beispielsweise führen Störungen beim Abfluß der Cerebrospinalflüssigkeit aus den Hirnventrikeln zur Ausprägung eines Hydrocephalus internus (Wasserkopf), bei dem sich mitunter weite Teile des Großhirns nicht auszubilden vermögen. Doch erscheinen die Betroffenen trotz des Defekts oft völlig normal. Andererseits haben schon kleinste Schäden manchmal sehr selektive Ausfälle zur Folge, etwa den Verlust der Gesichter-Erkennung (Prosopagnosie) oder der Fähigkeit, Farben oder bestimmte Formen sehen und sich vorstellen zu können (Achromatopsie). Das bedeutet, daß viele Hirnfunktionen auf bestimmte Regionen beschränkt sind oder ohne diese nicht zur Wirkung kommen können (Modularität). Bei der Quellenamnesie zum Beispiel sind die Informationen verschwunden, wann und wo die Erinnerung für bestimmte Ereignisse erworben wurde (Quellengedächtnis). Fakten und ihre Kontexte sind folglich nicht vollständig in denselben Hirnregionen abgelegt. Corticale Läsionen haben manchmal auch selektive Verluste kategoriespezifischen Wissens zur Folge. Z.B. können kleine Objekte, die gewöhnlich im Haus sind, betroffen sein, nicht aber große Objekte im Freien. Oder die Begriffe für unbelebte, vom Menschen erzeugte Gegenstände gehen verloren, nicht aber die für Nahrung und Lebewesen. Ein Schlaganfall-Patient war sogar nicht mehr in der Lage, zwischen Gemüse und Früchten zu unterscheiden, zeigte aber sonst keine Störungen. – Atomismus und Globalismus sind als Generalkonzept also gleichermaßen unangemessen. Die Lokalisation undÄquipotentialität bestimmter Hirnfunktionen sind im Hinblick auf jeweils unterschiedliche zentralnervösen Leistungen jeweils mehr oder weniger stark ausgeprägt.
Verteiltes Gedächtnis in neuronalen Ensembles
Die entscheidende Grundlage für die Speicherung und Reaktivierung von Gedächtnisinhalten in Nervenverbänden sind die Synapsen. Jedes Neuron ist mit anderen Neuronen über bis zu 10000 solcher Kontaktstellen verbunden. Diese Verknüpfung ist nicht starr, sondern relativ flexibel. Dadurch können in der Entwicklung Störungen kompensiert werden, aber auch einschneidende Prägungen erfolgen. Bis ins hohe Alter bleiben Stärke und Art der Kontakte veränderbar und sind die entscheidende Voraussetzung für Lernen und Gedächtnis. Mittlerweile sind schon viele Details der biochemischen, cytologischen und morphologischen Veränderungen bekannt, die der Gedächtnisbildung zugrunde liegen. Maßgeblich für das assoziative Gedächtnis scheint insbesondere die Langzeitpotenzierung zu sein, bei der verschiedene Reize durch synaptische Modifikationen miteinander verknüpft werden. Die Erkenntnisse zeigen, daß sich Gedächtnisinhalte in Form mehr oder weniger weiträumiger Änderungen des Nervengewebes einprägen. Werden sie abgerufen, kommt es zur Erregung einer beträchtlichen Anzahl bestimmter Neurone und damit zu spezifischen, wenn auch im Detail praktisch nicht nachvollziehbaren Aktivitätsmustern. Einzelne Neurone sind an vielen Erinnerungsvorgängen beteiligt. Für die Erinnerung an die Großmutter ist daher auch nicht eine einzelne Zelle verantwortlich, sondern ein ganzes Ensemble. Selbst wenn Teile davon ausfallen, muß die Großmutter deshalb nicht verlorengehen. Im Fall der Gesichtsdetektoren bei Affen antwortet eine einzelne Zelle auf etwa 60% erneut gezeigter Gesichter. Bedingt durch den Lernvorgang sind selektive Kontakte mit anderen Zellen "gefestigt" worden. So erstrecken sich die Gedächtnisspuren über eine große Anzahl von Nervenbahnen und -kontakten. Diese Bahnen können unterbrochen, überlagert oder gleichsam neu besetzt werden, so daß zahlreiche Informationen gelöscht werden oder nicht mehr auffindbar sind. Andererseits werden die Gewichtungen des Netzes durch neue Einflüsse ständig moduliert. Die Speicherkapazität solcher verteilter Repräsentationen ist beträchtlich größer als bei strikter Lokalisierung. Komplexe Objekte und größere Einheiten wie Ereignisfolgen scheinen sich aus dem Beitrag vieler solcher Ensembles zusammenzusetzen beziehungsweise basieren auf der Aktivität größerer Zellverbände. Dieses Prinzip dürfte schon bei der Reizverarbeitung eine Rolle spielen. Bestimmte Zellgruppen könnten beispielsweise für bestimmte Anteile wie Haare, Augen, Mund, Farben relevant sein und ihr Aktivitätsmuster dann an die höheren Verrechnungsebenen weiterleiten. Mit elektrophysiologischen Ableitungen im Temporallappen bei Affen läßt sich verfolgen, wie die visuellen Informationen Stufe um Stufe zusammengeführt werden. Beträgt die Größe des rezeptiven Feldes im visuellen Cortex beispielsweise 1 Grad, vergrößert es sich um einen Faktor von 2,5 in jedem nachgeschalteten Verarbeitungszentrum, bis es im inferioren temporalen Cortex 50 Grad erreicht. Folglich kommt es zu großen Überlappungen der einlaufenden Informationen – eine Voraussetzung für die assoziative Zusammenfassung komplexer Eindrücke.
Gedächtnistäuschungen
"Jeder von uns wird sich eines Tages die Biographie erfinden, die er für sein Leben hält", schrieb Max Frisch. Das Gedächtnis ist für die Einheit und Kontinuität des "Ich" grundlegend. Aber es ist kein objektives, unveränderliches und vollständiges Protokoll der Erfahrung, kein unbestechliches Videoband, das alles detailgetreu und unveränderlich wiedergibt, sondern es korrigiert, interpretiert, zensiert und erfindet sich ständig neu. Es ist nicht starr, sondern ändert sich, verfestigt sich, schrumpft, verliert viele Teile, verfärbt andere, und es bleiben Inseln inmitten von Lücken, die wir oftmals kaum mehr ahnen, und für die es keine Karten gibt. "Meine Person von heute ist nur ein aufgelassener Steinbruch, dem selber alles, was er enthält, untereinander gleich und monoton erscheint, während aus ihm jede Erinnerung gleich einem Bildhauer Griechenlands unzählige Statuen zieht", notierte Marcel Proust. Das Gedächtnis ist abhängig von den Umständen des Erlebens und Erinnerns, z.B. dem emotionalen Zustand, der Art des Befragtwerdens usw. In Streßsituationen ( siehe Zusatzinfo 3 ) fällt eine Erinnerung oft schwerer, in trauriger Stimmung kommen negative Erinnerungen leichter ins Bewußtsein, in fröhlicher Stimmung positive. Gedächtnisinhalte, die z.B. mit bestimmten Orten verknüpft sind, werden dort auch eher reaktiviert. Details werden leichter vergessen oder verwechselt als verallgemeinerbare Erfahrungen, und für die Wiedererkennung und Erinnerung bedeutungsvoller optischer Informationen ist das menschliche Gedächtnis besonders geeignet. Es gibt aber auch Erinnerungstäuschungen, z.B. Allomnesie, Déjà-vu-Erlebnis, Jamais-vu-Erlebnis, Pseudomnesie, Paramnesie, evtl. in Zusammenhang mit Konfabulationen, Pseudologia phantastica und beim Korsakow-Syndrom. Besonders frappierend sind falsche Erinnerungen, bei denen man von vergangenen Ereignissen zu wissen glaubt, die entweder gar nicht oder zumindest nicht auf die erinnerte Weise geschehen sind. Sie können durch unterbewußte oder vergessene Interpretations- oder Zensurvorgänge zustandekommen, durch Fehlinformation oder durch Suggestion, z.B. bei Verhören oder sogar psychotherapeutischen Sitzungen. Besonders problematisch ist dies z.B. bei Zeugenaussagen, die von Berichten in den Medien beeinflußt wurden, oder wenn durch Befragungen Vorkommnisse suggeriert werden, die sich gar nicht ereignet haben.
Gedächtnisforschung interdisziplinär und als Kulturaufgabe
Das Verständnis der Grundlagen von Lernen, Gedächtnis und Erinnerung erfordert Forschungsanstrengungen auf unterschiedlichen Ebenen und somit interdisziplinäre Zusammenarbeit. Mit psychologischen und Verhaltens-Tests kann man überhaupt erst feststellen, daß diese komplexen Leistungen vorliegen. Anatomische und funktionsmorphologische Untersuchungen müssen die dafür notwendigen Hirnstrukturen aufspüren und herausfinden, wie genau sich Gedächtnisinhalte lokalisieren lassen. Ohne das Studium der Eigenschaften und Veränderungen von Nervenzellverbänden ist es unmöglich, die materielle Basis für den Erwerb von Informationen und deren Wiederabrufung zu verstehen. Auf dieser Ebene wird auch die Selbstorganisation der Gedächtnisbildung erst deutlich. Zellphysiologische, biochemische und molekulargenetische Untersuchungen schließlich müssen die zugrunde liegenden Bedingungen und Mechanismen charakterisieren. Dies ist auch wesentlich, um durch Verletzungen oder Krankheiten bedingte Gedächtnisstörungen und -verluste lindern und möglicherweise auch einmal heilen bzw. verhindern zu können. Die Gedächtnisforschung ist jedoch auch eine kulturelle Aufgabe (Kultur), die wesentliche Beiträge zum menschlichen Selbstverständnis leisten kann. Denn Erinnerungen sind der Kitt, der unser bewußtes Leben zusammenhält, und das Gerüst, das unsere Biographie trägt und eine Weiterentwicklung ermöglicht. Das Gedächtnis ist eine notwendige Voraussetzung dafür, wer wir sind und was wir können. Es ist die Basis unserer Geschichte und das Tor zur Zukunft. Gedächtniskünstler, Vergessen.
Lit.:Alkon, D.: Memory's Voice. New York 1992. Baddeley, A.: Working Memory. Oxford 1986. de Ribaupierre, A.: The development of working memory. Hove 1994. Draaisma, D.: Die Metaphernmaschine. Darmstadt 1999. Engelkamp, J.: Das menschliche Gedächtnis. Göttingen 1991. Fuster, J.M.: Memory in the Cerebral Cortex. Cambridge, London 1995. Gordon, B.: Memory. New York 1995. Johnson, G.: In den Palästen der Erinnerung. München 1991. Kotre, J.: Der Strom der Erinnerung. München 1998. Markowitsch, H.J.: Neuropsychologie des Gedächtnisses. Göttingen 1992. Markowitsch, H.J.: Neuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses. Spektrum d. Wiss. Nr. 9 (1996), S. 52-61. Mayes, A.R.: Human Organic Memory Disorders. New York 1988. Rahmann, H. u. M.: Das Gedächtnis. München 1988. Schmidt, S.J. (Hrsg.): Gedächtnis. Frankfurt am Main 1991. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Reinbek 1999. Squire, L.R.: Memory and brain. Oxford 1987. Squire, L.R., Kandel, E.R.: Gedächtnis. Heidelberg, Berlin 1999. Vaas, R.: Neurobiologische Grundlagen des Gedächtnisses. Futura 9 (1994), S. 196-209.
Gedächtnis
Tab. 1:explizites (deklaratives, relationales) Gedächtnis
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Encodierung, Konsolidierung | limbisches System dorsolateraler Präfrontalcortex (vorwiegend links), versch. Cortexregionen Cingulum | limbisches System dorsolateraler Präfrontalcortex, versch. Cortexregionen Cingulum | |
langfristige Speicherung | cerebraler Cortex (vor allem Assoziationsgebiete) | cerebraler Cortex (vor allem Assoziationsgebiete) | |
Abruf/ Ekphorierung | vorwiegend rechts: temporo-frontaler Cortex, Parietalcortex, anteriores Cingulum, Kleinhirn aktive Hemmung bestimmter Regionen des temporo-frontalen Cortex und posterioren Cingulums | vorwiegend links: temporo-frontaler Cortex | |
Charakteristikum | oft nicht lokale, sondern verteilte Speicherung, u.a. dort, wo sensorische Verarbeitung erfolgte | oft nicht lokale, sondern verteilte Speicherung, u.a. dort, wo sensorische Verarbeitung erfolgte |
Gedächtnis
1Der Fall H.M.:
In welchem Ausmaß die Identität und Geschichte eines Menschen sowie seine sozialen Beziehungen an dem hängen, was er von sich und der Welt weiß oder zu wissen glaubt, wird (für andere) oft erst deutlich, wenn er sein Gedächtnis zu verlieren beginnt oder schon weitgehend verloren hat. Durch die Alzheimer-Krankheit wird dies besonders tragisch deutlich. Daß das Gedächtnis eine Gehirnfunktion ist, die von anderen perzeptuellen und kognitiven Fähigkeiten abgetrennt werden kann – nicht nur in der Beschreibung, sondern schockierend real – zeigte sich in den Neurowissenschaften spätestens 1953. Damals wurden dem 27-jährigen H.M. die medialen Schläfenlappen einschließlich der Hippocampus-Formation entfernt, um seine schweren epileptischen Anfälle zu lindern. Seither kann sich H.M. nichts Neues mehr merken. Er lebt gewissermaßen eingefroren im Jahr 1953. Seine Intelligenz und sein Kurzzeitgedächtnis hingegen sind nicht eingeschränkt. Man kann sich gut mit ihm unterhalten. Doch hat man den Raum verlassen und kehrt wenige Minuten später wieder, vermag er sich an nichts mehr zu erinnern. Man könnte dasselbe wieder und wieder zu ihm sagen, es wäre für ihn stets neu. Die Tatsachen und Ereignisse aber, die er sich vor seiner Operation einprägte, sind ihm noch weitgehend gegenwärtig. H.M. hat also eine Speicher-, keine Erinnerungsstörung. Auch sein implizites Gedächtnis ist intakt. Beispielsweise lernte H.M. mit normaler Rate, spiegelverkehrt zu schreiben und Linien zwischen vorgegebene Konturen einzuzeichnen, obwohl er sich bei jedem neuen Test nicht erinnern konnte, einen solchen jemals absolviert zu haben.
Gedächtnis
Tab. 2:implizites (prozedurales, nicht-deklaratives) Gedächtnis
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Encodierung, Konsolidierung | Basalganglien Kleinhirn, supplementär-motorisches Areal | cerebraler Cortex | |
langfristige Speicherung | Basalganglien Kleinhirn | cerebraler Cortex (Gebiete um die primären sensorischen Felder) | |
Abruf | sensorische und motorische Cortices Basalganglien Kleinhirn | cerebraler Cortex | |
Charakteristikum | Expansion der aufgabenspezifischen corticalen Repräsentation | Aktivitätsverminderung spezifischer Neuronen |
Gedächtnis
2Das Gedächtnis von Insekten:
Auch bei Insekten werden durch Lernen erworbene Informationen im Nervensystem verteilt repräsentiert. Die paarig angelegten Pilzkörper sind das höchste Integrationszentrum. Bei sozialen Insekten wie Bienen, Termiten und Ameisen und bei Insekten mit einem reichen Repertoire an Verhaltensweisen, z.B. solitären Bienen, sind sie besonders groß. Die Zahl der Nervenzellen (Kenyon-Fasern) und das Volumen ihrer dendritischen Verzweigungen im Eingangsbereich (Calyx) der Pilzkörper hängen von den im frühen Imago-Stadium gemachten Erfahrungen ab. Für das olfaktorische Langzeitgedächtnis sind die Pilzkörper essentiell. Das beweisen Kühlexperimente und Gedächtnismutanten. Es wurde in Bienen sogar eine Nervenzelle entdeckt, das während des Geruchlernens den unkonditionierten Stimulus (US; unbedingter Reiz) verstärkt. Wird es anstelle der im Experiment als US fungierenden Zuckerbelohnung unmittelbar nach der als konditionierter Stimulus (KS; bedingter Reiz) wirkenden Duftstimulation intrazellulär gereizt, verhält sich die Biene so, als ob sie den KS mit der Belohnung assoziiert hätte: Sie reagiert später auf den KS genauso wie nach einer gelernten Assoziation von Duft und Zuckerlösung. Diese ventrale, unpaare mediane Nervenzelle im Unterschlundganglion konvergiert mit den KS-vermittelnden Neuronen an drei Stellen des Insekten-Nervensystems: im Calyx, im Antennenlappen (primäre Projektion der Duftrezeptoren) und im lateralen Protocerebrum (dem Ausgangsbereich des Gehirns). Für die Ausbildung des Langzeitgedächtnisses ist die Verbindung zum Calyx am wichtigsten.
Gedächtnis
Tab. 3:Gedächtnisverlust – Amnesie-Syndrome
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amnestische Episoden | mediobasale Temporallappenregion (?), Thalamus (?) | |
operative Läsion limbischer Strukturen | Hippocampus, Gyrus parahippocampalis, Amygdala, Fornix | |
Herpes-simplex-Encephalitis | Hippocampus, Gyrus parahippocampalis, Amygdala, Septumregion, Gyrus cinguli, Inselrinde, temporaler Neocortex | |
Korsakow-Syndrom | Thalamus, Mamillarkörper | |
Thalamusinfarkte | Kerngebiete des anterioren medialen Thalamus, Tractus mamillothalamicus, ventroamygdalofugale Bahn | |
cerebrale Hypoxie | Hippocampus, Amygdala, anteriorer Thalamus | |
Aneurysmen der Arteria communicans anterior | basales Vorderhirn (Septum, diagonales Band von Broca, Area subcallosa, Substantia innominata, Nucleus accumbens), Cortex orbitofrontalis posterior | |
Alzheimer-Krankheit | Hippocampus, Amygdala, basales Vorderhirn |
Gedächtnis
3Gedächtnis und Streß:
Glucocorticoide können kognitive Leistungen beeinflussen. Beispielsweise hemmen sehr niedrige und hohe Dosen die Gedächtnisbildung. Eine erhöhte Konzentration dieser Streßhormone im Blut erschwert auch den Abruf von Erinnerungen. Dies geschieht möglicherweise über einen Einfluß auf die Freisetzung, Übertragung oder Wirkung von Neurotransmittern an den Synapsen der Nervenzellen. – Im Tierversuch wurden Ratten trainiert, in einem großen Becken auf eine unter trübem Wasser stehende Plattform zu schwimmen, wobei sie sich an Wandmarkierungen orientieren konnten (Morris-Test). Später erhielten die Tiere elektrische Schläge 2, 30 oder 240 Minuten, bevor sie erneut ins Wasserbecken kamen. 30 Minuten nach dem elektrischen Schlag fiel der Test sehr schlecht aus (während die Ratten 2 oder 240 Minuten nach dem Elektroschock die Plattform so rasch wie sonst auch fanden). Dies stimmt mit der Zeit überein, in der die durch die Elektroschocks freigesetzten Streßhormone in besonders hoher Konzentration im Blutstrom zirkulieren. Eine Injektion von Streßhormonen in Ratten, die keine Schocks erhielten, verringert deren Gedächtnisleistung ebenfalls. Wird dagegen Metyrapon injiziert, das die Corticosteron-Synthese hemmt, bleibt die Gedächtnisleistung durch die Elektroschocks unbeeinträchtigt.
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